Michel E. Domsch, Ariane Ladwig
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Michel E. Domsch, Ariane Ladwig
240 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Michel E. Domsch, Ariane Ladwig* Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl. Eine Bestandsaufnahme** Ist die Graphologie als Auswahlinstrument zu empfehlen? Ist diese Hilfswissenschaft heute überhaupt noch aktuell, wird sie noch nachgefragt? Dies sind zwei zentrale Fragen, mit denen sich dieser Artikel (u.a.) beschäftigt. Dabei werden sowohl die generellen Einsatzbereiche bzw. die Möglichkeiten und Grenzen der Graphologie beschrieben - insbesondere vor dem Hintergrund kontroverser Diskussionen in der Vergangenheit - als auch auf ihre Gütekriterien eingegangen. Anhand einer Literaturrecherche und de Ergebnisse einer empirischen Stellenanzeigenanalyse wird dann abschließend der Versuch unternommen, die aktuelle Nachfrage nach graphologischen Gutachten zu manifestieren. Darüber hinaus bietet der Artikel dem interessierten Leser einen Einblick in die Historie der Graphologie, ihre verschiedenen Schulen, typische Vorgehensweisen bei der Gutachtenerstellung sowie einige Facetten der Deutungspraxis. Can graphology be recommended as a selection instrument? Is it still topical, is it still required? This article deals with this two central questions. Thereby, the general uses of graphology and its potentiality and limits will be described, particularly against the background of controversial discussions in the past, and its quality criteria will be highlighted. Then, a manifestation of current demand for graphological appraisals will be attempted on the basis of literature research and an empirical analysis of employment advertisements. In addition, the article offers an insight into the history of graphology, its different schools, typical procedures in constructing an appraisal as well as some aspects of graphological interpretation. ______________________________________________________________________ * Prof. Dr. Michel E. Domsch, Jg. 1941, o. Professor an der Universität der Bundeswehr, Institut für Personalwesen und Arbeitswissenschaft (I.P.A.), Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg. ** Artikel eingegangen: 20.10.95 / revidierte Fassung eingegangen und akzeptiert: 16.7.96. 1. Die Graphologie als „Außenseiter-Auswahlverfahren“ ? Dipl.-Kffr. Ariane Ladwig, Jg. 1970, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am I.P.A. Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 241 Die Problematik der Personalauswahl ist ein vieldiskutiertes Thema, dem jedoch z.B. im Zuge von TQM-Bemühungen und hieraus resultierenden neuen Anforderungen an die Mitarbeiter1 - wieder verstärkt Interesse beigemessen wird. Die Eignungsdiagnostik stellt hierfür nicht nur ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung, sie versucht auch laufend, ihre Methoden zu evaluieren und vor allem zu validieren. Ein Auswahlverfahren wird dabei als wahrer „Außenseiter“ betrachtet: die Graphologie. Über diese Hilfswissenschaft der psychologischen Diagnostik, dessen Namensgebung auf den französischen Geistlichen Jean-Hippolyte Michon (1806-1881) zurückgeht, wird seit Jahrzehnten viel, heftig und konträr diskutiert. Dabei geht es neben dem Disput über die dieser Disziplin zugundeliegenden Theorieansätzen und Methoden, bei denen vor allem die Vertreter der verschiedenen Schulen der Graphologie2 differieren, insbesondere auch über die Güte bzw. die Gütekriterien. Diese werden sinnvollerweise in Vergleich zu anderen Auswahlmethoden gestellt. Ausgehend von diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Graphologie nach dem heutigen Stand der Entwicklung in dieser Wissenschaft - als Instrument in der Personalauswahl zu empfehlen ist. Interessant in diesem Zusammenhang ist, welchen tatsächlichen Stellenwert die Graphologie in der betrieblichen Personalauswahl hatte und hat bzw. wie groß die Nachfrage hiernach (noch) ist. Ziel dieses Beitrages ist es daher auf der einen Seite, einen ausreichend umfangreichen Überblick über die Vor- und Nachteile bzw. die Möglichkeiten und Grenzen der Graphologie zu geben und auf der anderen Seite Hinweise (nicht Beweise) über den IstZustand der erwähnten Nachfrageseite und die Akzeptanz dieser Methode in der Praxis3 zu geben. 2. Begriffsbestimmung Das Wort „Graphologie“ ist aus den beiden griechischen Wörtern „graphein“ = schreiben und „logos“ = Wort, Lehre zusammengesetzt und bedeutet „Wissenschaft vom Schreiben“ (Pfanne 1961; Pokorny 1968). Gegenstand dieser Wissenschaft ist das Bestreben, aus der Handschrift eines Indiviuums - basierend auf der Grundannahme, daß das Verhalten des Menschen von einem relativ konstanten Faktorensystem bestimmt wird - dessen Fähigkeiten und Eigenschaften zu erfassen. Wurde die Graphologie früher noch unter die Wissenschaft der Physiognomik eingeordnet, entwickelte sie sich insbesondere durch die Arbeit von Ludwig Klages zu einer eigenen Wissenschaft. Aufgrund ihres Einsatzgebietes in der Persönlichkeitsdeu- 1 Auch in der Personalauswahl kann z.B. durchaus das „Null-Fehler-Prinzip“ gefordert werden. 2 Man unterscheidet in die deduktive (bzw. erscheinungswissenschaftliche) Graphologie und die empirische Graphologie, auch als Graphometrie bezeichnet. Vgl. Stein Lewinson 1986; Doubrawa 1978 3 Akzeptanz (Nichtakzeptanz) muß nicht die alleinige Begründung für den Einsatz (Nichteinsatz) der Graphologie sein. 242 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) tung wird sie auch zu den Methoden der psychologischen Diagnostik gezählt (vgl. Nissen 1989). Zu unterscheiden ist die Graphologie von der forensischen Schriftexpertise oder -untersuchung, die die Urheberschaft einer Schrift durch Vergleiche zu bestimmen versucht und deren Einsatzgebiet in der gerichtlichen Beweisfindung liegt (Hopper/ Stanford 1992; Michel 1989). Während man Graphologen auch als Schriftpsychologen bezeichnet, werden die Experten der Schriftuntersuchung Schriftsachverständige genannt. 3. Die Entwicklung der Graphologie 3.1 Historische Entwicklung Bereits in Überlieferungen aus der Antike fand man Aufzeichnungen, die verdeutlichen, daß sich die Menschen mit Ausdruckspsychologie im allgemeinen beschäftigt haben. Es finden sich hier bereits gelegentlich Bemerkungen über die Aussagekraft der Handschrift. Auch die Chinesen befaßten sich schon vor ca. 1000 Jahren mit der Deutung ihrer Schriftzeichen. Mit der Veröffentlichung des Buches „Trattato comme da una lettera missiva si conscano la natura e qualità dello scrittore“ (= Abhandlung über die Art und Weise, wie man aus einem Schriftstück die Natur und den Charakter des Schreibers erkennt) legte 1625 der Medizinprofessor der Universität Bologna, Camillo Baldi, als erster seine Theorie über einen möglichen Zusammenhang zwischen Schrift und Persönlichkeit schriftlich nieder. Weitere Abhandlungen zu dem Thema finden sich in der Veröffentlichung des Schweizer Theologen Johann Caspar Lavater, „Physiognomische Fragmente“ (1775), in dem ein Kapitel der Handschrift gewidmet ist (z.B. Pokorny 1968; Lewinsky 1977). Der französische Geistliche Jean-Hippolyte Michon (1806-1881), ein in vielen Wissenschaften bewanderter Mann (u.a. war er Geologe, Historiker, Botaniker, Architekt und Schriftsteller), befaßte sich in seinen letzten Lebensjahren intensiv mit der Schriftdeutung, wozu er tausende von Schriften sammelte und auswertete. Er schuf den Begriff „Graphologie“ und veröffentlichte seine Forschungsergebnisse in zwei Bänden: „Système de Graphologie“ (1875) und „Méthode Practique de Graphologie“. Seine Gesetze haben - trotz einigen Wandels in diesem Bereich - auch heute noch Gültigkeit in der Graphologie (z.B. Müller/Enskat 1973; Bernard 1990). Ein berühmtes Zitat von ihm ist: „Die Seele selbst ist es, die unmittelbar schreibt und spricht.“ Crépieux-Jamin, ein Schüler von Michon, erweiterte das Werk seines Lehrers von den „festen Zeichen“ - also der alleinigen Betrachtung einzelner Merkmale und Zuweisung zu bestimmten festgelegten Charaktereigenschaften - um einige Erkenntnisse über die Gesamtheit des Schriftbildes. Die folgende Entwicklung der Graphologie ist durch den Versuch der Einbeziehung anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse, vor allem aus der Neurologie und der Psychologie, gekennzeichnet. Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 243 Wilhelm Thierry Preyer (1841-1897), gebürtiger Engländer und Psychologieprofessor in Jena und Berlin, kam durch Forschungen an armamputierten Patienten zu der Erkenntnis, daß die Schrift vom Gehirn und nicht von der Hand gesteuert wird. Nachdem die Patienten gelernt hatten, mit dem Mund oder den Füßen zu schreiben, traten die ursprünglichen Besonderheiten ihrer „Hand“-schrift unverändert auf (vgl. auch Wiesendanger 1987). Mit der Gründung der ersten deutschen graphologischen Gesellschaft 1886 durch Ludwig Klages, dem „Vater der Graphologie“, wurde der Grundstein für intensivere Forschungen gelegt. Er selbst postulierte die Graphologie zu einer selbständigen Wissenschaft. In seinem ersten Buch „Handschrift und Charakter“ (1917) sowie in dem sieben Jahre später erschienenen Leitfaden „Einführung in die Psychologie der Handschrift“ legte Klages Grundlagen und Gesetze der Graphologie fest, die heute noch die Basis der meisten graphologischen Lehrbücher bilden. Weitere, ebenso bedeutende Bücher von ihm sind „Grundlagen der Charakterkunde“ und „Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck“. Klages begründete den in der heutigen Schriftpsychologie weit verbreiteten Ausdruck des „Formniveaus“. Max Pulver (1931), Schriftsteller und Lehrbeauftragter für Graphologie am Züricher Institut für Psychologie, erweiterte die Deutung der Handschrift durch die Einbeziehung tiefenpsychologischer Erkenntnisse, insbesondere von C.G. Jung und S. Freud. Die folgende wissenschaftliche, psychologische und medizinische Durchsetzung der Graphologie wurde u.a. durch Ania Teillard, die weitere psychologische Terminologien und Typologien einführte, sowie 1925 durch Robert Saudek vorangetrieben, der als erster „die Handschrift kinematographisch, d.h. auf die Schreibgeschwindigkeit hin untersuchte“ (Bernard 1990, S. 5.). Von ihm erschienen u.a. 1925 und 1929 die Werke „Wissenschaftliche Graphologie“ und „Experimentelle Graphologie“. Die Wechselwirkung zwischen seelischem Zustand und Handschrift wurde ebenfalls 1925 von Georg Meyer beobachtet. Er formulierte die These, daß die Handschrift von den psychisch-motorischen Energien des Menschen beeinflußt wird. 1938 bekam der vielzitierte Hamburger Graphologe und Neurologieprofessors Rudolf Pophal den ersten graphologischen Lehrauftrag in Deutschland. Zu einer seiner bekannten Veröffentlichungen gehört „Die Handschrift als Gehirnschrift“ (1949), die mit ihren neurologischen Forschungsergebnissen die Graphologie um wichtige Erkenntnisse bereicherte. Während die Graphologie in den 50er und 60er Jahren zum Pflichtprogramm des Psychologiestudiums gehörte, wurde diese Regelung vor allem durch die massiven Proteste in der Zeit der Studentenrevolte 1968 aufgehoben. Wurde die Graphologie danach noch als Wahlfach angeboten - hier ist vor allem die Universität Freiburg i. Brsg. zu erwähnen, wo die umfangreichsten Forschungen betrieben wurden - so kam sie nach einigen Jahren, wie auch andere psychologische Diagnostikmethoden, als „Selektionsinstrumente der 'herrschenden Klasse' in Verruf“ (Halder-Sinn 1989, S. 15). Neben dieser studentischen Kritik verstärkte sich in den 60er und 70er Jahren aber auch die Kritik aus „professionellen“ Kreisen, insbesondere aus der Psychologie. Aber auch in den Reihen der Graphologen begannen heftige Kontroversen, die vor allem die fehlende 244 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) empirische Fundierung und die rein spekulative theoretische Basis zum Inhalt hatten (Nissen 1989). Diese „umfassende“ Opposition führte einerseits zur Aberkennung der Wissenschaftlichkeit bisheriger graphologischer Tätigkeit als auch zu einer Spaltung der Graphologie in zwei gegensätzliche Schulen, die der deduktiven oder erscheinungswissenschaftlichen Graphologie nach Klages und der empirischen Graphologie, deren Vertreter ihre wissenschaftlich-empirischen Bemühungen durch die Änderung des Begriffes Graphologie in Graphometrie (Doubrawa 1978) Ausdruck verliehen. Die Sichtweisen haben sich bis heute kaum gewandelt; obwohl es wieder oder immer noch einige Lehrstühle in der Bundesrepublik gibt, z.B. in Freiburg (Prof. Robert Heiß), Köln (Prof. Udo Undeutsch) oder München (Prof. August Vetter), ist das Lehrangebot an Universitäten insgesamt sehr gering (Halder-Sinn 1989). Aus Stellungnahmen führender Graphologen geht jedoch hervor, daß ein Bedeutungszuwachs, gekoppelt mit der akademischen Wiederanerkennung der Graphologie, aber auch vermehrter Einsatz in der Praxis zu beobachten ist. Die Gründe für den kurzzeitigen Rückgang in den letzten Jahren seien demnach einer damaligen Modeerscheinung zuzusprechen. Halder-Sinn schreibt diesen Bedeutungszuwachs jedoch nicht der bewiesenen wissenschaftlichen Fundierung, Validität und Reliabilität der Graphologie zu, sondern sieht darin eher das Resultat einer von steigender Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Entwicklung in den Reihen der angehenden Psychologen, die in der Graphologie eine Möglichkeit der beruflichen Betätigung sehen. 3.2 Rechtliche Gesichtspunkte und Entwicklungen in anderen Ländern Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil vom 16.02.1982 gefordert, daß es bei der „Einholung eines graphologischen Gutachtens [...] wegen der damit verbundenen Gefährdung der durch Artikel 1 I und Artikel 2 I Grundgesetz geschützten Persönlichkeitsrechte der ausdrücklichen Einwilligung des Betroffenen“ (Curth/Lang 1990, S. 122: 2 AZR 228/80/Frankfurt) bedarf. Die Einholung ohne diese Einwilligung ist unzulässig und kann nach §§ 823, 847 BGB zu Schadensersatzverpflichtungen führen. Galt früher - auch in der juristischen Literatur - noch die Auffassung, daß die Einwilligung aus der Zusendung der geforderten Handschriftenprobe abgeleitet werden kann, so ist eine solche Konklusion nach heute herrschender Meinung nicht mehr statthaft (Michel/Wiese 1988). In Amerika gibt es dagegen keine entsprechende Einschränkung. Die graphologische Untersuchung der Handschrift ohne Wissen des Verfassers verstößt nicht gegen den Schutz der Privatsphäre. Voraussetzung ist jedoch, daß das Schriftstück legal erworben wurde und nicht in unsachgemäßer Weise verwendet wird (Hopper/Stanford 1992). Abgesehen davon war der Einsatz der Graphologie als Auswahlverfahren in den anglo-amerikanischen Ländern jedoch - im Gegensatz zu Deutschland, wo diese Methode bereits in den 60er Jahren von vielen Unternehmen nachgefragt wurde - absolut unüblich. Die Graphologie wurde dort neben der Handlinien- und Sternendeutung an- Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 245 gesiedelt und fand noch bis Anfang der 80er Jahre keine Anerkennung. Grund hierfür sind nach Hopper/Stanford drei Faktoren: Die Unkenntnis amerikanischer Psychologen über das Ausmaß der Forschung auf diesem Gebiet, das fehlende Angebot von Graphologie-Lehrveranstaltungen an Universitäten und die Zunahme der unseriösen bzw. unqualifizierten Graphologen. In jüngster Zeit ist allerdings - durch Berichterstattung der Medien verstärkt - eine Entwicklung hin zur Graphologie zu erkennen. Eine Schätzung besagt, daß ca. 5.000 US-Unternehmen zur Zeit die Dienstleistungen der Graphologen nachfragen, darunter Firmen wie Ford, General Electrics und die CIA (Hopper/Stanford 1992). 1987 wurde die erste wissenschaftliche, graphologische Gesellschaft unter der Leitung von Thea Stein Lewinson gegründet (Halder-Sinn 1989). Die derzeitige Mitgliederzahl graphologischer Institute beläuft sich auf mehr als 200.000 zertifizierte Graphologen. In England ist die Grapholgie sogar noch weniger verbreitet als in Amerika. Zur Zeit Klages machten sich zwar die beiden englischen Wissenschaftler Gordon Allport und Phillip E. Vernoan an der Harvard Psychological Clinic einen Namen, indem sie Klages’ Werk durch spezifische Beweisführungen verbesserten (Hopper/Stanford 1992). Abgesehen davon und von der Tatsache, daß es auch in Großbritannien graphologische Institute gibt (z.B. das BIG British Institute of Graphology) sowie Symposien über graphologische Forschung abgehalten werden, sind die englischen Personalverantwortlichen der Graphologie gegenüber jedoch sehr skeptisch eingestellt. Das spiegelt sich darin wider, daß nur 0,5 - 1% der Unternehmen graphologische Gutachten zur Personalauswahl einsetzen. Diese Zahlen erscheinen aber angesichts einer Zahl von 5000 bis 8000 Gutachten, die allein das BIG jährlich erstellt, zu gering und deuten darauf hin, daß aufgrund der mäßigen öffentlichen Akzeptanz einige Firmen dieses Verfahren offiziell nicht angeben, aber dennoch inoffiziell anwenden (Fowler 1991). Der Konzern Lloyd’s z.B. benutzte lange Zeit Graphologie für Bewerber, die mit großen Geldsummen arbeiten sollten (Levy 1979). Grund der Nichtakzeptanz ist weniger die Kenntnis über wissenschaftliche Untersuchungen, sondern - analog zu den Amerikanern - gerade das fehlende Wissen sowohl bei den Wissenschaftlern als auch bei den Personalverantwortlichen. So gibt es beispielsweise in England keine Universität, die Graphologie im Lehrangebot hat, und die wissenschaftlichen Beiträge in akademischen als auch in nicht-akademischen britischen Management-Zeitschriften sind äußerst selten. In Frankreich verwenden dagegen ca. 70-80% der größten Unternehmen Graphologie zur Personalauswahl. Im Gegensatz zu der Handhabung z.B. in Israel ist die Graphologie hier jedoch nur eines unter vielen Verfahren. Allein wird es so gut wie nie eingesetzt. Israelische Firmen benutzen dieses Verfahren sogar mehr als alle anderen Beurteilungsverfahren, und auch in der Schweiz ist der Prozentsatz der Anwendung mit 80% hoch, vergleichbar mit Frankreich (Hopper/Stanford 1992). 3.3 Die Entwicklung der theoretischen Grundlage: Die beiden Schulen der Graphologie 246 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Wie anfangs bereits erwähnt, kam es in den 60er und 70er Jahren zu einer Kontroverse innerhalb der Graphologie. Kritikpunkte der mehr an der modernen Psychologie und ihrer Methodik orientierten Graphologen waren die theoretischen Konzeptionen und methodologischen Eigenarten, die der Graphologie bis dato zugrundelagen und die ihrer Meinung nach dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit nicht gerecht wurden (Doubrawa 1978). Man unterscheidet heute deduktive und empirische Graphologie. Die deduktive oder erscheinungswissenschaftliche Graphologie Klages, der wichtigste Vertreter der deduktiven Graphologie, betrachtet die Handschrift als Analogie zum menschlichen Ausdruck. Dementsprechend ist die Ausdruckskunde argumentative Grundlage seiner graphologischen Gesetze.4 Deduktiv ist diese Methode, da an erster Stelle die Erfassung der graphologischen Elemente in ihrer Gesamtheit und in der richtigen Ordnung steht (Dirks 1974). Vom Gesamteindruck wird auf das Besondere, ein bestimmtes Charakterbild des Schreibers, geschlossen. Es gibt daher „auch nicht feste Deuterelationen, die Merkmale werden vielmehr im einzelnen Falle immer wieder neu zusammengestellt, zusammen’gesehen’“ (Lockowandt 1991, S. 4). Methodisch schließt sich dann erst das analytische Indizienverfahren an, „ ... das die Beweise sammelt und sichtet und eventuell korrigiert oder erweitert usw.“ (Lockowandt 1991, S. 4). Die Graphologie Klages basiert auf den beiden Hypothesen: Willkürbewegungen sind Ausdruck der Persönlichkeit Schreibbewegung ist Willkürbewegung und der Schlußfolgerung hieraus, daß die Handschrift Ausdruck der Persönlichkeit ist. Es ist demnach also möglich, aus der Handschrift auf den Charakter zu schließen. Klages ist der Auffassung, daß die Fähigkeit, den Ausdruck der fremden Seele zu erkennen und zu interpretieren durch die Tatsache begründet ist, daß die menschliche Veranlagung zum Ausdruck mit der Fähigkeit des Eindrucks natürlich koordiniert ist (Stein Lewinson 1986). Auf die Graphologie bezogen betont Klages die Wichtigkeit, die Gesamtheit der Schrift zu erfassen und kritisiert dadurch implizit die frühere Methode der Einzelmerkmalsbetrachtung. Die empirische Graphologie - Graphometrie Während man Klages einen bedeutenden, wenn auch nicht andauernden Einfluß in der frühen Entwicklung der Graphologie in Deutschland zuschreibt, wird dieser in der heutigen Zeit nicht mehr aufrecht erhalten. Klages’ System „was esoteric and subjective, intuitive in the extreme, complex and mixed with an intricate personal philosophy that made it incomprehensibel, and of dubious authenticity to serious scholars.“ (Crumbaugh 1986, S. 50). Doubrawa, ein Vertreter der Graphometrie, erläutert in seinem Buch „Handschrift und Persönlichkeit“ zudem eingehend die Fehlschlüsse, die der Kla4 vgl. Stein Lewinson 1986: Klages Gesamtwerk besteht aus den vier pyramidenähnlich aufeinander aufbauenden Bereichen Philosophie, Charakterologie, Ausdruckskunde und Graphologie. Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 247 ges’schen „Theorie“ zugrundeliegen und schließt, daß Klages’ „Beweise“ „mithin unbegründbar und folglich unwissenschaftliche Behauptungen [sind]“ (Doubrawa, 1978, S. 50). Die Graphometriker haben sich daher zur Aufgabe gemacht, die Graphologie aus dem vorwissenschaftlichen, unkontrolliert Spekulativen in eine Wissenschaft zu transformieren, die allen Anforderungen an den Wissenschaftsbegriff gerecht wird. Doubrawa wie auch andere Graphometriker zählen die Graphologie zu den empirischen Wissenschaften (nicht zu den Idealwissenschaften), da der Gegenstand der Graphologie (Handschrift und auch Charakter) „auf beobachtbarem menschlichen Verhalten [basiert]“ (Doubrawa, 1978, S. 19). 4. Darstellung der wissenschaftlichen Methode Um den Einsatz bzw. die Vorteile oder Kritikpunkte der Graphologie darzulegen und zu kommentieren, ist ein zumindest grundlegendes Verständnis über dieses Forschungsgebiet notwendig. Dieses Kapitel widmet sich daher dem kurzen Überblick über die Graphologie als wissenschaftliche Methode, ihren Ursprüngen, der Vorgehensweise, Methodik sowie den Schulen und deren Vertretern. Aufgrund der Komplexität des Themenbereiches Graphologie werden hier nur einige grundlegende, dem Überblick dienliche Aspekte behandelt. Für einen tieferen Einblick in die Deutungspraxis der Graphologie sei auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen. 4.1 Grundlagen der Graphologie Das Schriftstück Das Resultat des Schreibprozesses ist ein Schriftstück. Ein Schriftstück beinhaltet nun neben dem inhaltlichen Aspekt - was wurde geschrieben - auch einen ausdrucksspezifischen, graphischen Aspekt - wie wurde geschrieben. Dieser zweite Aspekt, die graphische Gestaltung der Schrift, ist Gegenstand der Graphologie, sowohl der deduktiven als auch der empirischen Richtung. Die Schrift ist Resultat des Schreibens - eine ausdrückende Bewegung. Im Vergleich zu anderen Bewegungen stellt das Schreiben eine Besonderheit dar, da es die einzige Bewegung ist, „die sich selbst protokolliert“ (Lockowandt 1991, S. 2). Nach Klages ist die Schrift eine fixierte Bewegungsspur, die sich zeilen- und seitenweise nachvollziehen läßt, die bleibend ist (Klages 1924). Das bedeutet, beim Schreiben wird eine dynamische, vergängliche Form (Bewegung) in eine statische, unvergängliche Form (Schrift) transformiert. Die Schriftelemente Die kleinsten Einheiten, die vom Graphologen untersucht werden, sind die sogenannten konstitutiven Schriftelemente. Dies sind 10 Elemente, die aus den drei Grundelementen Punkt, Gerade und Bogen bestehen und das archaische Zeichensystem bilden, „das in allen grafischen, plastischen und architektonischen Gestaltungen, unabhängig von Ort und Zeit, mit derselben psychologischen Bedeutung zu finden ist“ (Müller 1984, S. 11). Alle anderen Symbolzeichen lassen sich aus diesen Elementen kombinieren. Weiterhin leitet sich aus der Schreibbewegung (Bewegung = Leistung; Leistung ist pysikalisch definiert 248 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) als Kraft mal Weg durch Zeit) der Schreibdruck (Kraft), Schreibraum (Weg) und Schreibtempo (Zeit) ab. Der Schreibraum setzt sich aus der Höhe (auf/ab, oben/unten), also der senkrechten Bewegung, und der Weite (rechts/links), der waagerechten Bewegung, zusammen. Die dritte Dimension der Tiefe (von der Fläche weg/zur Fläche hin) wird auch als Schreibdruck bezeichnet (Müller 1984). Bei der Analyse von Merkmalen und Komplexen haben sich unter den Graphologen im Laufe der Zeit unterschiedliche Systematiken herausgebildet. Eine der am häufigsten verwendeten sog. Deutungsgrundlage ist in Form einer Tabelle abgebildet (vgl. Abb. 1). Sie besteht aus den drei Grundbereichen Bewegungs-, Form- und Raumbild. In der Übersicht sind neben der skizzierten Spezifizierung der Grundbereiche (grauschattiert) auch die entsprechenden psychologischen Hauptaspekte - gefolgt von exemplarischen Einzelmerkmalen - genannt. Abb. 1: Grundkonzept der graphologischen Deutungspraxis (Quelle: In Anlehnung an: Bürgi 1993; Imoberdorf 1986) Bewegungsbild Schreibtempo, Schreibraum, Schreibdruck und Schreibsteuerung Individueller Bewegungsausdruck Vitalität Dynamik Temperament Lebendigkeit Formbild Grad der Eigenart/Schulförmigkeit, Festigkeit der Formen (Versteifungsgrad), Vielfalt/Stereotypie der Formen, Präzision/Verschliffenheit, Offenheit/Geschlossenheit Steuerung und Formgestaltung Wille Intellekt Ästhetik Selbstdisziplin Denkart Raumbild Ordnung, Strukturierung, Distanzierung/Annäherung der Buchstaben und Wortkörper Gliederung, Raumbeanspruchung und Raumdynamik Selbstorganisation geistig-seelische Orientierung Selbstkonzept Einzelmerkmale Unter Einzelmerkmalen werden alle graphischen Buchstaben-, Wort- oder Satzelemente bezeichnet, die metrisch meßbar sind, wie die Größe der Buchstaben oder der Wortabstand (o.V. 1995; Dirks 1974). Die folgende Auflistung der häufigsten Schriftmerkmale (Abb. 2) dient lediglich der beispielhaften Veranschaulichung und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auf die Nennung einzelner konkreter Charakterbeispiele wurde hier bewußt verzichtet, um einerseits die durch Einschränkung bedingten Verzerrungen zu vermeiden und andererseits einen möglichen „Selbstversuch der Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 249 Deutung“ auszuschließen. Die Schriftmerkmale lassen sich dem in der vorigen Übersicht dargestellten Grundschema zuordnen. Dirks (1974) weist jedoch darauf hin, daß eine eindeutige Zuordnung nicht besteht, da, je nach Blickwinkel, eine mehrfache Zuordnung erfolgen kann. Z.B. kann das Merkmal Schriftgröße unter dem räumlichen Aspekt und/oder dem Bewegungsaspekt betrachtet werden. Abb. 2: Einzelmerkmale (Quelle: In Anlehung an: Pokorny 1968; Dirks 1974) Merkmal Erklärung Psychologische Analogie Schriftgröße Gemessen werden die Kurz- und Langbuchstaben Selbstwertgefühl Schriftweite Abstand zwischen den Buchstaben Art der Zuwendung zur Umwelt Längenteilung Verhältnis der Oberlängen zu den Unterlängen Orientierung zwischen den Polen „Geist“ und „Materie“ Längenunterschied Verhältnis der Lang- zu den Mittelund den Kurzbuchstaben Verhältnis vom Ich (Mitte) zu Aufgaben (Längen) Bindungsform Verbindung der Grund- und Abstriche (Bogen, Winkel, Girlanden, Arkaden, Fadenbindung etc.) Art der Zuwendung zur Umwelt Verbundenheitsgrad Ausprägungsgrad der Verbindung der Buchstaben Art des Denkens (logisch, intuitiv) Schriftlage Lage der Schrift im 180°Winkelbereich Art des Umweltkontaktes (Zu- bzw. Abwendung) Wortabstand Raum zwischen zwei Worten Gliederung der geistigen und seelischen Prozesse Zeilenabstand Raum zwischen zwei Zeilen Art des Umweltkontaktes (Zu- bzw. Abwendung) Zeilenführung Richtung und Form des Zeilenbandes Stimmung und Lebensgefühl Schriftränder Links-/Rechtsrand, oberer und unterer Rand Einordnung in eine vorgegebene Lebenssituation (Unbekümmertheit/Vorsicht) Anfangsbetonung Betonung (Vergößerung, Druckstärke, Verzierung etc.) der Anfangsb. Grad der Entfaltung des Selbstgefühls Endbetonung Betonung (Vergößerung, Druckstärke, Verzierung etc.) der Endbuchstaben Art der unmittelbaren Einwirkung auf die Umwelt (Durchsetzungsbemühung/ passive Zurückhaltung) Die auffällige Tatsache, daß die Einträge in der letzten Spalte sehr, beinahe zu global formuliert sind, mag die Schwierigkeit anzeigen, die Vielfältigkeit der Deutungen zu systematisieren bzw. auf einen konzeptionellen Ursprung zu bringen. Dies mag auch mit ein Grund sein, warum in anderen Lehrbüchern eine solche Globalisierung gar nicht erst versucht wird; es werden lediglich die möglichen Deutungen aufgeführt und besprochen. Einzelmerkmale höherer Komplexität 250 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Kennzeichen der Merkmale höherer Komplexität ist es, daß sie aus der synthetischen Betrachtung mehrerer verwandter oder korrelierender Merkmale resultieren (Pfanne 1961). Zu diesen graphischen Komplexen zählen z.B. folgende: Abb. 3: Einzelmerkmale höherer Komplexität (Quelle: In Anlehnung an: Müller/Enskat 1973; Pokorny 1968; Dirks 1974) Merkmal Erklärung Psychologische Analogie Regelmaß Schwankungsbreite aller Merkmale, insbesondere die Größe, der Neigungswinkel, die Weite, unter dem Gesichtspunkt der Regelmäßigkeit Bereitschaft/Fähigkeit, Regeln anzunehmen Formreichtum Grad der Ausprägung und/oder Fülle der Schrift Inhaltliche Eigenart des Erlebens und Denkens (phantasievoll/ nüchtern) Formfestigkeit Stabilität (Gleichmäßigkeit) des Formbestandes Struktur der Persönlichkeit (starr/locker) Strichführung Ausprägung der Bewegung/des Rhythmus’ (gespannt, schwingend, schlaff, starr etc.) Art der seelischen Entfaltung (freies/gehemmtes Ausleben) Strichdruck Kraft, die von der Hand auf das Papier wirkt Intensität der seelischen Entfaltung (Fühlen, Wollen) Schreibgeschwindigkeit Zeit, die für das Schreiben eines Wortes/einer Zeile etc. benötigt wird Ablauftempo seelischen Geschehens (Denken, Fühlen, Wollen) Ganzheitsmerkmale Im Gegensatz zu den Einzelmerkmalen, die mehr oder weniger leicht meßbar sind, bestimmen sich die Ganzheitsmerkmale ausschließlich nach dem subjektiven Eindruck (Müller/Enskat 1973) und sind nach der deduktiven Graphologie auch nur durch Erfahrung hinreichend treffsicher erkennbar. Auch hier gibt eine Übersicht (Abb. 4) Einblick in den Deutungshintergrund der Graphologen. Abb. 4: Ganzheitsmerkmale (Quelle: In Anlehnung an: Müller/Enskat 1973; Pokorny 1968; Dirks 1974) Schriftmerkmal Erklärung Formniveau Originalität der Schrift: ZusammenfasCharakterstärke, Originalität sung von Eigenart, Verteilungsrhythmus (Ebenmaß) und Ablaufrhythmus, fünfstufige Skala Psychologische Analogie Versteifungsgrad Nach Pophal: Spannung der Schreibbewegung, bewegungspysiologisch bedingt; fünfstufige Skala Innere Spannung/Halt/Kraft Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 251 Grundrhythmus oder Einheitlichkeit Durchhaltung der Gestaltung Innerer Gestaltungsantrieb (Antrieb der Sache wegen/aus sich selbst heraus oder wegen des Erfolges) Rhythmus Wiederkehr von Merkmalen bzgl. Form, Bewegung oder Räumlichkeit Stabilität des Charakters 4.2 Das graphologische Gutachten Voraussetzungen für ein graphologisches Gutachten Um die Güte eines Gutachtens zu maximieren, sind von Seiten der Graphologen einige (sich jedoch in ihrem Umfang oft unterscheidende) Mindestanforderungen an das Untersuchungsmaterial formuliert worden (z.B. Pokorny 1968; Lindemann 1984). Diese können wie folgt umrissen werden: Die Anzahl des notwendigen Schriftmaterials reicht von 10 fortlaufenden Zeilen bis hin zu 2-3 Schriftstücken von unterschiedlichen Zeiten. Das Schriftstück sollte unter möglichst natürlichen Gegebenheiten, spontan abgefaßt sein. Eine bewußte Beeinflussung der eigenen Schrift sollte vermieden werden. Die verwendete Schrift müsse möglichst der Mutter- bzw. Erziehungssprache entsprechen, da nur diese zu einem „schreibreifen“, geübten Schriftbild führt. Es sollte auf nicht-liniertem Papier ohne Verwendung eines Linienpapiers, möglichst mit Füller geschrieben werden. Während der Inhalt völlig belanglos ist, wird auf das Vorhandensein einer Unterschrift Wert gelegt. Als Daten sind dem Graphologen noch Beruf, Geschlecht, Alter, Links- oder Rechtshändigkeit und u.U. auch das Land, in dem der Verfasser das Schreiben gelernt hat, mitzuteilen. Die Zweidimensionalität der Vorgehensweise Das Vorgehen der graphologischen Untersuchung der fixierten Bewegungsspur ist durch ein zweidimensionales System mit insgesamt vier Komponenten gekennzeichnet. Man unterscheidet die erste Dimensionierung nach der Ebene der Betrachtung in die graphologische und die psychologische Ebene. Während die graphologische Merkmalsebene der Erfassung der Daten aus dem Schriftmaterial dient, werden in der psychologischen Ebene diese Hinweise interpretiert (Transformation von der graphologischen in die psychologische Ebene). Die erstere bildet die Basis - hier wird die Vorarbeit geleistet - für die zweite Ebene, in der das Endprodukt, das graphologische Gutachten, erstellt wird. Die zweite Dimensionierung unterteilt nach der Art und Weise des Vorgehens innerhalb der eben beschriebenen Ebenen in Analyse und Synthese. 252 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Auf der graphologischen Ebene bedeutet Analyse Betrachtung einzelner Elemente bis hinunter zur kleinsten Bewegungs- bzw. Schrifteinheit, z.B. die Ausgestaltung des tStiches. Die Synthese oder ganzheitliche Betrachtungsweise trägt der Notwendigkeit Rechnung, daß auch Zusammenhänge zwischen Einzelmerkmalen bzw. Eindruckscharakteren erfaßt werden müssen. Zu diesen komplexen Merkmalen gehört z.B. der Raumrhythmus oder der Versteifungsgrad. Analytisches Vorgehen auf der psychologischen Ebene beinhaltet Bedeutungszuweisung für die einzelnen Merkmale. Da für Einzelmerkmale und für Komplexe oft gegensätzliche bzw. negativ oder positiv geprägte Bedeutungsinhalte vorliegen, muß auch hier der Analyse die Synthese folgen. Durch synthetische Interpretation werden Zusammenhänge, Gegensätze und Tendenzen erkannt. Das Resultat ist ein in sich stimmiges Persönlichkeitsbild - das graphologische Gutachten. Formulierung eines Gutachtens Formal kann eine Gutachten mündlich (persönlich oder per Telefon) oder schriftlich übermittelt bzw. niedergelegt werden. Schriftliche Gutachten variieren in ihrer Ausführlichkeit und der Struktur (konzentriert-tabellarisch oder ausformuliert) (Furrer 1991). Jedes Gutachten ist eine Mischung aus Objektivität und Subjektivität. Objektivanalytisch sind die einzelnen Merkmale, subjektiv-synthetisch ist die Kombination dieser Elemente unter Einbeziehung der Erfahrungen, des Wissens und der Einstellung des Graphologen (Rasch 1989). Rasch (1989, S. 47) fordert daher einerseits eine „genügend abgewogene und aspektreiche Darstellung und andererseits eine vollkommene Verständlichkeit für den Leser“. Um Mißverständnissen vorzubeugen, empfiehlt sich eine intensive Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Graphologen. 5. Graphologie als Instrument der Personalauswahl - Pro und Contra Viele Artikel über Graphologie sind bemerkenswerterweise eher durch emotionale Prägnanz denn durch fundierte Argumentation gekennzeichnet. Es bietet sich ein Bild kontroverser „Parteien“: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die Graphologie genauso wie Astrologie, Numerologie usw. entweder vollständig ablehnen und mit Worten wie „Humbug und Scharlatanerie“ kennzeichnen oder - etwas milder formuliert - zumindest deren Wissenschaftlichkeit aberkennen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die die Graphologie mehr oder weniger befürworten. Im folgenden wird versucht - beginnend mit den „Pros“ - diese Bild des „Parteienstreits“ durch eine weniger belastete, „rein“ deskriptive Aufzählung der in der Literatur gefundenen Argumente darzustellen. Intention ist zum einen, die unterschiedlichen Qualitäten der Argumente aufzudecken, und zum anderen, der weitverbreiteten Unkenntnis, sowohl in Forschung als auch in Praxis, erkenntnisbringend zu begegnen. 5.1 Möglichkeiten und Grenzen der Graphologie Vor- und Nachteile eines Verfahrens sind u.a. determiniert von dem vorgegebenen Einsatzbereich, sprich von Möglichkeiten und Grenzen dieses Verfahrens. Vermeidli- Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 253 che Nachteile werden somit oft irrelevant, da sie außerhalb des Zielbereiches liegen. Eine derartige Eingrenzung soll nun für die Graphologie vorgenommen werden. Möglichkeiten der Graphologie Die Graphologie ist (trotz des Status einer Wissenschaft) eine Hilfswissenschaft, die im Dienste der psychologischen Diagnostik arbeitet (Pokorny 1968). Pokorny (aber auch Lücke/Baer 1989) macht die Wichtigkeit der psychologischen Durchdringung der gesamten graphologischen Arbeitsweise in einem Zitat deutlich: „Graphologie ohne Psychologie, ohne gründliche und ausgedehnte psychologische und charakterkundliche Kenntnisse, ist heute eine nicht ernst zu nehmende Liebhaberei“ (Pokorny 1968, S. 11). Der Aussagebereich von graphologischen Gutachten, d.h. über welche Persönlichkeitselemente bzw. -komplexe relativ sichere Aussagen getroffen werden können, kann man nach Ansicht verschiedener Autoren (z.B. Lücke/Baer 1989; Pokorny 1989) folgendermaßen umreißen (Abb. 5). Pokorny (1968) schreibt allgemeiner der Graphologie die Möglichkeit zu, Schwierigkeiten in allen Lebensbereichen sowie deren Ursachen und Ausgestaltungen aufzudecken.´Wichtig, gerade im Hinblick auf die spezielle Aufgabe einer Bewerberauswahl, ist die Forderung seriöser Graphologen nach einem vorher definierten Anforderungsprofil. Allgemeine, global gehaltene Persönlichkeitsbewertungen sind in diesem Zusammenhang weniger sinnvoll. Abschließend kann mit Furrer (1991, S.17) gesagt werden, daß „graphologische Aussagen [..] wertvolle Hinweise geben [können] im Bemühen, Bewerber als Persönlichkeiten ganzheitlich zu verstehen.“ Grenzen der Graphologie Eine der wichtigsten Erkenntnis ist, daß mit Hilfe der Graphologie keine berufsspezifischen Einzeleigenschaften diagnostiziert werden können, weil es keine berufstypischen Schriftbilder, z.B. von Architekten oder Automationstechnikern gibt. Es können nur Tendenzen des Charakters, abgeleitet aus dem individuellen Schriftbild, bzw. bestimmte psychologische Komplexe wie Temperament, Umgang mit Mitmenschen, Grad der Selbständigkeit etc. (vgl. Abb. 5) werden (Wiesendanger 1987). Weder können Aussagen über andere spezielle Begabungen oder Fachkenntnisse, das familiäre Niveau und die Lebensbedingungen, Krankheiten, körperliche Behinderungen, Linksoder Rechtshändigkeit, Erlebnisinhalte, Bildungsstand, Motivation und Zielsetzungen des Schreibers (Furrer 1991; Lücke/Baer 1989) noch irgendwie geartete Prognosen über den zukünftigen Lebensweg eines Menschen gemacht werden (Engelke 1987). Engelke (1987) weist zudem noch auf die Schwierigkeit hin, die Handschrift schreibunkundiger oder schreibungeübter Personen treffsicher zu analysieren. Abb. 5: Der Aussagebereich der Graphologie (Quelle: In Anlehnung an: Lücke/Baer 1989; aber auch Pokorny 1968) Bereich Mangel/Vorhandensein folgender Eigenschaften Geistiger Bereich Ungefähre Intelligenzhöhe, Initiative, Kombinationsvermögen, Organisationstalent, Phantasie, rationales Denken, Systematik Willensbereich Durchsetzungsvermögen - Nachgiebigkeit, 254 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Selbstdisziplin - Willensschwäche Fleiß - Lässigkeit Energieeinsatz - Trägheit Ich-Bereich Selbstwertgefühl, Selbstbewußtsein, Entfaltungsdrang - Zurückhaltung, Ich-Anspruch - Bescheidenheit Vitalbereich Antriebsstärke, Reizempfindlichkeit, Genußempfindung oder Erlebnisvermögen, Lebensfülle, Lebenskraft, materielle Einstellung etc. Zwischenmenschlicher Bereich Anpassungsfähigkeit, Empathie, Toleranz, Kompromißbereitschaft, Teamfähigkeit, sprachliche und soziale Gewandtheit, Machteinstellung Leistungsbereich Belastbarkeit, Leistungsvolumen, Einsatzbereitschaft, Wunschdenken, Grad der Stabilität des Charakters, Spontanität, Innovationsfreude, Lern- und Ordnungstyp Unsachgemäße Anwendungen sind nicht an sich Grenzen eines Verfahrens, jedoch erwähnenswert, um sie nicht fälschlicherweise dem Verfahren selbst als Nachteil oder Fehler anzulasten. So bestehen die gleichwohl vermeidbaren Gefahren, daß die Graphologie als einziges Mittel eingesetzt wird, der Vorgesetzte aufgrund der Arbeitserleichterung lediglich das Gutachten liest, ohne die anderen vom Personalleiter vorgelegten Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen, oder daß der Verantwortliche versucht ist, die Entscheidung vollständig dem Urteil des Graphologen zu überlassen. 5.2 Pro: Aspekte für den Einsatz der Graphologie Die Kenntnis der Vorteile der Graphologie als Auswahlverfahren an sich und im Vergleich zu anderen Verfahren ist ein Informationspotential, das für betriebliche Entscheidungssituationen (Welches Verfahren soll weswegen angewendet werden?) in Verbindung mit Wirtschaftlichkeitsrechnungen (Welches Verfahren entspricht der Prämisse des Kosten-Nutzen-Ausgleiches?) von großer Bedeutung ist. Die folgende Auflistung (Hopper/Stanford 1992; Wiesendanger 1987; Pokorny 1968) beinhaltet die wichtigsten und am häufigsten erwähnten Proargumente für den Einsatz von Graphologie als Auswahlinstrument. Ein Schriftstück bzw. die Untersuchung dieses Schriftstückes ist kein Test, den man bestehen kann oder nicht. Hierdurch werden nicht nur Streßsituationen, sondern auch inhärente Nachteile vieler Tests, wie z.B. die Möglichkeit des Erlernens der Tests („Testprofis“) vermieden. Der Bewerber braucht - im Gegensatz zu allen anderen gebräuchlichen Tests nicht anwesend zu sein. Die Handhabung des Verfahrens ist denkbar einfach; es muß lediglich ein handschriftliches Schriftstück vom Bewerber angefordert werden, das dann einem erfahrenen Graphologen zur Begutachtung übergeben wird. Beide Argumente implizieren sowohl Wegfall von zeit- und arbeitsaufwendigen organisatorischen Maßnahmen (Einladung und Versorgung der Bewerber, Bereitbzw. Freistellung von internem und/oder externem Berurteilungspersonal etc.) als auch die Reduktion des direkten Bewerber-Unternehmen-Kontaktes auf ein Mini- Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 255 mum. Dies ist aus Effizienzgründen (Zeit- und Kostenminimierung) ein bedeutender Vorteil. Neben den erwähnten indirekten Kosteneinsparungen ist die absolute Kostengünstigkeit von graphologischen Gutachten im Vergleich zu anderen Diagnoseinstrumenten eines der wichtigsten ökonomischen Vorteile. (Nach Hopper/Stanford (1992) liegen die Preise bei $225 für ein graphologisches Gutachten, bei $1000 für ein Interview mit einem Psychologen). Mit demselben Budget können mehr Bewerber beurteilt werden bzw. die Auswahlkosten pro Bewerber können gesenkt werden. Hilfe bei der Entscheidungsfindung: Egal, in welcher Personalauswahlphase (Voroder Hauptauswahl) graphologische Gutachten eingesetzt werden, dienen sie, wie auch alle anderen Verfahren dazu, die Vergleichbarkeit der Bewerber zu erleichtern und deren Geeignetheit herauszukristallisieren. Vor allem aber in der Anwendung „in letzter Instanz“, also kurz vor der entgültigen Entscheidung, wird das Gutachten als zweite Meinung, als (psychologische, argumentative) Untermauerung der Meinung des Personalbeurteilers als vorteilhaft angesehen. Ein graphologisches Gutachten geht meist auf mehr Kriterien, wie z.B. Leistungsfähigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Kooperationsbereitschaft etc., ein als ein Test. Mit anderen Worten, für die Breite der Aussage eines Gutachtens sind mehrere aufwendige Testverfahren notwendig. Das Gutachten ist meist vorbildlich klar und verständlich formuliert. Die Validität ist nicht niedriger als bei anderen teureren Instrumenten. 5.3 Contra: Aspekte gegen den Einsatz der Graphologie Die Gegenargumente gegen die Graphologie haben unterschiedliche Qualität. So findet man sowohl mehr oder weniger plakative Aussagen, die durch Gegenargumente sofort widerlegbar sind bzw. von Graphologen widerlegt werden (die Gegenargumentation der Graphologen ist teilweise jedoch auch nicht sehr überzeugend) als auch, insbesondere von Graphometrikern aufgestellte, in sich schlüssige Argumentationsketten. Hier werden, um einem Überblick gerecht zu werden, beide Formen dargestellt. Formale Aspekte des Schriftstückes Einflußfaktoren auf die Schrift: Üblicherweise ist die Schrift eines Menschen von einigen Faktoren beeinflußbar, die dazu führen, daß Schriftstücke graphisch nicht vollständig identisch sind. Zu diesen Faktoren gehören z.B. die Zeit (Tageszeit, Jahr), die physische und psychische Verfassung, der/die Adressat/in, der Anlaß, die Schreibunterlage, das Schreibinstrument (Kugelschreiber, Füller) oder die Schreibhaltung (Pokorny 1968). Insbesondere die Faktoren Zeit und Streß (z.B. beim Anlaß der Erstellung einer speziellen Handschriftenprobe für die Bewerbung (Lindemann 1984)) machen die Varianz einer Schrift sehr deutlich. Hieraus leitet sich auch die Kritik ab, daß ein derartig unstetiges Untersuchungskriterium nicht zu adäquaten und konsistenten Lösungen führen kann. 256 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Gegenargument: Das Veränderliche in der Schrift, verursacht durch Tagesform oder Entwicklung der Persönlichkeit, ist auch von der Graphologie erkannt worden. Jedoch ist lt. empirischen Beobachtungen neben dem „Temporären“ oder „Abhängigen“ auch etwas individuell „Konstantes“ in der Schrift enthalten, das unabhängig von Einflußfaktoren ist. Deborah Berk, Präsidentin der Signature Dynamics Inc./Morristown, zieht hier einen anschaulichen Vergleich: „A person’s mood may change over time, even his or her weight, but bone structure or height rarely do“ (Smith 1992, S. 4). Als weiteres Beispiel werden oft die Übereinstimmungen von „Fußschriften“ von Armamputierten mit deren früheren Handschriften angeführt. Unterschiedliche Normen: Grundlage aller Schriften ist die Normgebung in der Schule. Da diese Schriftvorlagen in verschiedenen Ländern oder zu unterschiedlichen Zeiten (z.B. altdeutsche Schrift) voneinander abweichen bzw. sich verändern, sei eine internationale bzw. intertemporale Vergleichbarkeit nicht gegeben. Gegenargument: Alle Schriftnormen haben trotz ihrer Unterschiede die konstitutiven Schriftelemente als Grundlage. „The graphic elements are visible regardless of the language. Even upside down, you still can see the elements“ (Smith 1992, S. 5). Außerdem wird nicht die Entsprechung der Norm untersucht, sondern die Abweichung der Schrift. Diese Abweichungen seien aber unabhängig von der Art der zugrundegelegten Norm, da sie aus der Persönlichkeit des Schreibers resultieren (Pokorny 1968). Wenn die Nationalität bzw. die Normgrundlage bekannt ist, behaupten Graphologen, bereiten solche Unterschiede keinerlei Probleme. Die Abwesenheit der zu Beurteilenden: Die weiter vorne als Vorteil herausgestellte Abwesenheit des Bewerbers beinhaltet ein durchaus schwerwiegendes Problem: Dem Graphologen und dem Unternehmen kann nicht mit Sicherheit garantiert werden, daß das Schriftstück wirklich vom jeweiligen Bewerber geschrieben wurde (Lücke/Baer 1989). Aspekte der Vorgehensweise Mitberücksichtigung inhaltlicher Anhaltspunkte: Oft wird bezweifelt, daß der Graphologe seine Interpretationen nur aus den graphischen Aspekten der Schrift zieht. Vielmehr wird vermutet, daß dem Gutachter auch oder sogar vor allem der Inhalt des Schriftstückes als Grundlage zur Schlußfolgerung dient, insbesondere wenn es sich bei der Unterlage um einen Lebenslauf handelt, der als biographische Datenbasis bestens hierfür geeignet ist (Gooding 1991; Wiesendanger 1987). Aber auch aus den sprachlichen Fähigkeiten, dem Umgang mit Wörtern leiten die Graphologen Charakterzüge ab. Gegenargumente: Ein handschriftlicher Lebenslauf ist für ein graphologisches Gutachten nicht nötig; als Schriftstück genügt auch z.B. ein aus einem Buch abgeschriebener Text. Nach einer empirischen Studie hat der Inhalt des Schriftstückes wenig Einfluß auf die graphologische Beurteilung (Fowler 1991). Berufsspezifische Interpretation: Weitverbreitet sind die Bedenken, daß ein Außenstehender in der Lage sei, die spezielle betriebsbezogene Berufseigung auf Grund der Schriftanalyse zu beurteilen. Abgesehen davon, daß dieses Argument für jeden ex- Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 257 ternen Berater zutreffen kann, liegt eine betriebsspezielle Beurteilung nur begrenzt oder gar nicht (wenn es sich um berufsspezifische Kenntnisse oder Fertigkeiten handelt) innerhalb der Möglichkeiten der Graphologie. (Ein Intelligenztest testet beispielsweise auch keine Teamfähigkeit.). U.a. hat hier die Qualität des Anforderungsprofils einen großen Einfluß auf die Möglichkeiten des Graphologen. Nichteinhaltung von Mindestanforderungen - Schwarze Schafe: Unabhängig vom „Wahrheitsgehalt“ graphologischer Gutachten ist festzustellen, daß nur wenige Gutachter die in Lehrbüchern geforderten Mindestanforderungen an das Untersuchungsmaterial in ihren Angeboten an Unternehmen erwähnen. Das Vernachlässigen von Forderungen, die die Güte eines Gutachtens betreffen (wie z.B. die Forderung nach mehreren Schriftstücken von unterschiedlichen Zeitpunkten), aber auch die Existenz von relativ vielen „schwarzen Schafen“ (aufgrund einer fehlenden geschützten Berufsbezeichnung) stifteen mehr Schaden als Nutzen (Lücke/Baer 1989) und tragen dazu bei, die kritisierte „Unprofessionalität“ der Graphologie zu untermauern. Schwarze Schafe lassen sich nach Lücke/Baer (1989) zwar nicht vollständig ausrotten; durch schärfere Prüfungen auf höherem (akademischen) Niveau ist deren Anzahl aber zumindest zu reduzieren. Entsprechende Bemühungen wurden und werden in dieser Richtung vom Berufsverband unternommen. Die Mystik der Deutungen bzw. die fehlende theoretische und empirische Fundierung Das Deutungsrepertoire: „Die Deutungsmöglichkeiten [für einzelne Merkmale] haben sich inflationär vervielfältigt. Die Grapho-Logik löst sich dabei auf in die nebulöse Gabe eines ästhetischen Erspürens, Angemutet- und Erleuchtetseins, von Wahrsagekunst nicht mehr weit entfernt.“ Dieses recht kritische Zitat von Wiesendanger (1987, S. 23) greift eines der häufigsten Argumente auf. Er betont weiter, daß zur Persönlichkeitsanalyse im allgemeinen und zur Personalauswahl im speziellen ein praktikables, systematisches, quantifizierbares Verfahren notwendig sei, das frei ist von reiner Intuitionsgabe oder von Zufälligkeiten, die auf dem „siebten Sinn“ fußen (Lindemann 1984). Erschreckende Zeugnisse dieses „nebulösen Gehabes“ und gleichzeitig ein krasses Beispiel für die Möglichkeit der totalen subjektiven Verzerrung oder Beeinflussung auf seiten der Graphologen sind einige, mit antisemitischen Interpretationen durchdrungene graphologische Veröffentlichungen aus der Vergangenheit, darunter auch die von Ludwig Klages, dem „Vater der Graphologie“.5 Die Formulierung der Gutachten Laut Wiesendanger (1987, S. 25) sind die Gutachten von Graphologen nur allzuoft dazu geeignet, die Begutachteten in Verzweiflung zu stürzen oder sogar Laufbahnen zu zerstören; die Gutachten würden „von moralisierenden, geringschätzigen, geradezu ver- 5 z.B. in „Rhythmus und Runen“ von Klages (S. 330) oder „Handschrift und Ehe“ von Bernhard Schultze-Naumburg (Lücke/Baer 1989). 258 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) nichtenden Auslassungen gelegendlich nur so triefen.“ Als Beispiele zitiert Wiesendanger dann einige eindrucksvolle Auszüge aus dem Lehrbuch Klages’. Weitere Aspekte, die die Glaubwürdigkeit eines Gutachtens unterstützen, sind die oft zu beobachtende Stilsicherheit und die mit psychologischem Vokabular angereicherte Ausdruckskraft der Graphologen. Diese stehen jedoch im Gegensatz zu der starken Tendenz zur inhaltsleeren Verallgemeinerung (Fowler 1991).6 Jedoch werden Gegenargumente angeführt, daß seriöse Graphologen durchaus differenzierte und klar abgrenzbare Beurteilungen konzipieren, zum Teil anhand auch in der Psychologie verwendeter Clusterungen (z.B. Belbin’s acht Management-Typen (Fowler 1991)). Kritik aus den eigenen Reihen So umfangreich die Kritiken der Nicht-Graphologen sind - allein schon genug Anlaß für nun schon Jahrzehnte andauernde hitzige Dispute -, die Kontrahenten innerhalb der Graphologie haben nicht weniger machtvolle Argumente. Angriffsziel ist meist die traditionelle, deduktive Graphologie; „Angreifer“ sind dementsprechend oft - aber nicht immer - die Graphometriker. Charakteristisch an diesen Kritiken ist die Konzentration auf graphologische Verfahrens- bzw. Vorgehensweisen. Kritik an der Graphologie als erkenntnisbringende Wissenschaft an sich wird dagegen weit weniger bzw. gar nicht angeführt. Zwei Autoren und ihre Kritikkonzepte seien im folgenden beispielhaft skizziert. K.D. Nissen: Unlogik und geringe interindividuelle Zuverlässigkeit in der graphologischen Bedeutungsherleitung: Die Wortgleichheit von Merkmalsbenennung und psychologischer Diagnose,7 die vor allem durch die Graphologen Müller/Enskat in ihrem Lehrbuch unter „Eindruckscharaktere“ beschrieben wird, wird als sehr problematisch angesehen (Nissen 1989). Ebenso theoretisch unsauber ist die Hochlobung des quasi als methodisches Prinzip betrachteten Begriffs der „Kennerschaft“ (nach Knobloch), der in Gegensatz zur Methodik der Wissenschaft gestellt wird (Nissen 1989). Aufgrund der mit der Interpretation einhergehenden Bedeutungseinschränkung, Schriftmerkmale sind vieldeutig - ergibt sich eine rein individuelle, interpretative Vorgehensweise, die trotz der als Anleitung fungierenden Methoden, wie „Dominantenbildung“ oder „Synthese übergreifender Befunde“, nicht intra- oder interindividuell reproduzierbar ist (Nissen 1989). R. Doubrawa: Fehlende empirische Fundierung: Neben der fehlenden bzw. inkonsistenten theoretischen Basis betont Doubrawa (1978) insbesondere die Vernachlässigung der empirischen Basis durch Klages und viele seiner Nachfolger. Gerade aber die empirische Begründung des Überganges von der graphologischen auf die psycholo6 Versuche, bei denen sich ein Großteil der Testpersonen aufgrund eines Einheitsgutachtens (wortwörtlich gleich formuliert) treffend charakterisiert empfand, sind beeindruckende Zeugnisse für diese Kunst der „konkretisierten Banalität“ (Barnum Effekt) (Wiesendanger 1987). 7 z.B.: Die Schreibbewegung sieht schwach (schwerfällig) aus -> der Mensch ist schwach (schwerfällig). Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 259 gische Ebene bei der Begutachtung der Schrift (Transformation) ist nach Doubrawa eines der Grundmauern der Graphologie. So erstaunt es dann auch wirklich, daß „systematische und methodisch gesicherte Beobachtungen .. von [Klages] selbst nie vorgenommen worden [sind]. Klages glaubt vielmehr ... allein aufgrund gedanklicher Spekulationen zu gesicherten Erkenntnissen gelangen zu können, die zudem empirisch begründeten Erkenntnissen noch erheblich überlegen seien, indem sie ‘axiomatische Gewißheit’ besäßen“ (Doubrawa 1978, S. 26). 5.4 Gütekriterien der Graphologie Die Empfehlung für oder gegen ein Auswahlverfahren ist primär von der Güte dieses Verfahrens abhängig. Demzufolge sind auch der Graphologie die Maßstäbe der Güte - Objektivität, Reliabilität und Validität - angelegt worden. Im Gegensatz zu einigen anderen Verfahren (z.B. die Güte von Referenzen) ist die Graphologie ein seit langem intensiv erforschtes Gebiet, insbesondere eben auch hinsichtlich der Gütekriterien. Besonderes Kennzeichen der im folgenden Erwähnung findenden Untersuchungsergebnisse ist dabei deren kaum zu erklärende Bandbreite. Objektivität: Da der Graphologe auf die Umstände bei der Entstehung der Handschrift bzw. des Schriftstückes meist keinen Einfluß hat, ist die Durchführungsobjektivität nicht gewährleistet. Die Auswertungsobjektivität der metrischen Merkmale ist hingegen - im Gegensatz zu nicht-metrischen qualitativen Merkmalen - äußerst hoch.8 Sie liegt bei einem Korrelationskoeffizienten von 0,97 (Lücke/Baer 1989; Fischer 1964; aber auch Seibt 1994). Reliabilität: Zu unterscheiden ist in die Reliabilität (Genauigkeit der Meßwerte unabhängig von ihrer Interpretation) der Schriftbeschreibung und der Reliabilität der Schriftdeutung. Bezüglich der Reliabilität der Schriftbeschreibung ergeben sich für die rein metrischen Kriterien - insbesondere mit der Hilfe von Computerprogrammen9 - relativ hohe Stabilitätswerte in Höhe von r = 0,8 bis 0,93 bei einem Retest-Intervall von einer Woche (Fischer 1964). Aber auch interpersonelle Korrelationsmessungen ergaben, je nach Komplexität des Merkmals, signifikante Werte zwischen r = 0,72 bis 0,97.10 Im Hinblick auf die Reliabilität der Schriftdeutung hingegen ergaben sich äußerst differenzierte Ergebnisse - zwischen r = 0,18 bis 0,74 -, die dadurch begründet werden, daß sich Gutachter einerseits auf unterschiedliche psychologische Theorien, andererseits auf unterschiedliche graphologische Techniken stützen (Lewinsky 1977). Hofsommer et al. (1965) betonen in diesem Zusammenhang, daß sich, obwohl es sich bei 8 Zwei Graphologen vermaßen fünf metrische Schriftmerkmale bei 50 Schriften; der Koeffizient bezieht sich auf die Korrelation dieser beiden Ergebnisse. 9 z.B. CHAPS = Computerized Handwriting Analysis Profiling Systems (Entwicklungzeit: 15 Jahre) (Hopper/Stanford 1992) 10 Interkorreliert wurde zwischen den Beurteilungen dreier Graphologen. Material waren 150 Handschriften, 19 Merkmale (einfache und komplexe (qualitative) ) wurden untersucht. (Hofsommer/Holdsworth/Seifert 1965) 260 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) ihren Untersuchungen um diagnostische Urteile über sehr komplexe Verhaltensweisen handelte, signifikante Werte ergaben, die die Werte anderer „Globalverfahren“ (welche hierunter fallen, wird in der Quelle nicht genannt) sogar teilweise übertrafen (Hofsommer/Holdsworth/Seifert 1965). Validität: Die äußerst widersprüchlichen oder differenzierten Untersuchungsergebnisse über die Validität der Graphologie kann wohl als ein bedeutender Faktor hinsichtlich der Zerstrittenheit der „Lager“ angesehen werden. Einige Ergebnisse seien im folgenden aufgeführt. Kriteriumsvaliditätsmessungen von Einzelmerkmalen ergaben z.B. keine treffende Gültigkeit (r = 0,15) (Halder-Sinn 1989; Lewinsky 1977) - was aber auch „im Sinne der herkömmlichen Graphologie [ist], die stets betont, daß nur die Gesamtheit aller Merkmale zu einem sinnvollen diagnostischen Ergebnis führen kann“ (Nissen 1989, S. 46f.). Entsprechend ergaben dann auch multiple Regressionsmessungen (zwischen Merkmalskomplexen und Außenkriterium) eine recht gute Konstruktvalidität von 0,65 - 0,85 (Lücke/Baer 1989). Validitätsmessungen (Abbildungsvalidität) unter zur Hilfenahme von bekannten Persönlichkeitstests als Außenkriterium führten zu signifikant validen Ergebnissen: Die Regressionsanalyse von Lemke & Kirchner (1971) zur Erklärung von Korrelationen zwischen Persönlichkeitsfaktoren und graphologischen Faktoren oder Clustern ergaben eine signifikante Korrelation zwischen 6 der 16 Handschriftencluster und 5 der 10 Testcluster. Lomonaco/Harrison/Klein’s (1973) Untersuchung der Validität zwischen Gutachten eines Psychologen (basierend auf dem TAT-Test11) und eines Graphologen, ergaben zwar weniger Aussagen über die Validität der beiden Verfahren, jedoch die Schlußfolgerung, „that under suitable conditions the TAT and graphology can yield consistent personality profiles“ (Lomonaco/Harrison/Klein 1973, S. 703). Auch die Studien der Forschungsgruppe der Niederländischen Gesellschaft für Industriepsychologie12 (Jansen 1973) wiesen einen wenig signifikanten Übereinstimmungskoeffizienten von 0,16 nach. Ebenfalls gering valide Ergebnisse brachten die Untersuchungen von Lester (1977), die die Zusammenhänge zwischen Handschrift und Extraversion (festgestellt mit Hilfe von psychometrischen Tests) aufzudecken suchten, und Cox/Tapsell, deren graphologische Beurteilungen nur extrem gering mit den Ergebnissen mehrerer unterschiedlicher Beurteilungsverfahren korrelierten (Fowler 1991). Andere deskriptive Validitätsuntersuchungen bezüglich der Frage, ob graphologische Gutachten über Versuchspersonen von Personen, die diese Versuchspersonen gut kennen, richtig zugeordnet wurden, ergaben wieder statistisch signifikante Ergebnisse (Fowler 1991). Die Prognosevaliditäten von Drory und Sonneman/Kernan (Fowler 11 TAT = Thematischer Apperzeptionstest (projektiver Test: Kommentieren von Bildern in Form einer Geschichte) 12 Nederlandse Vereniging voor Bedrijfspsychologie Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 261 1991) sind auch Beispiele für die Bandbreite der Ergebnisse: Sie differieren von r = 0,54 bis 0,85 bzw. von r = 0,13 bis 0,55. Die Vorgehensweise von Smith/Robertson (1989), Validitätsergebnisse verschiedener Untersuchungen zusammenzufassen (eine Art Resümée oder Durchschnitt), ergab einen nach Meinung Fowlers einen unrealistischen Koeffizienten von Null. Fowler selbst schlägt - ebenfalls nach Auswertung zahlreicher Untersuchungen - eine Koeffizientenbandbreite von 0,1 bis 0,3 vor. (Zum Vergleich: Validität von AssessmentCentern: 0,41 - 0,43; Interviews: 0,14 - 0,23; Arbeitsprobe: 0,38 - 0,54; Persönlichkeitstests: 0,15). Resümierend meint Fowler (1991, S. 43): „Perhaps the real lesson is not so much that graphology is of doubtful use as a performance predictor, but that personality itself is a poor performance indicator.“ Bezüglich der Gütekriterien im allgemeinen und der Validität im besonderen sind Graphologen ähnlich uneinsichtig wie umgekehrt die Psychologen. Es wird argumentiert, daß die Graphologie keine mathematische oder (nur) quantitative Wissenschaft ist. Daher ließe sie sich auch nicht mit statistischen, mathematischen Methoden messen (Furrer 1991; Gooding 1991). Mit anderen Worten, die Methoden sind dem Gegenstand nicht adäquat, sie sind es, die nicht valide sind. 6. Die Nachfrage nach graphologischen Gutachten 6.1 Angaben in der Literatur Die Quantität der Nachfrage ist zum einen nur schwer bestimmbar, zum anderen hat sie sich im Laufe der Jahre stark gewandelt. Bezüglich der Bestimmbarkeit gibt und gab es verschiedene empirische Untersuchungen. Eine Methode, um einen ungefähren Überblick zu bekommen, ist die Analyse von Stellenanzeigen. Im Vergleich zu der aufwendigeren Methode der Befragung liegen hier die Vorteile in den geringen Kosten. Jedoch kann nicht direkt und unbedingt aus der Anzahl dieser Anzeigen auf den Einsatz graphologischer Gutachten geschlossen werden. Unter Umständen werden solche Klauseln nur hinzugefügt, um Serienanfertigungen von Bewerbern zu vermeiden (o.V. 1995). Im folgenden werden nun die Veränderungen im Aufkommen derartiger Stellenanzeigen dokumentiert, beginnend mit den 60er Jahren mit Hilfe von Literaturangaben, endend mit dem Stand der Situation heute. In den 60er - 70er Jahren: Lückert schreibt 1974: „In den Wochenendausgaben der größeren Tageszeitungen werden etwa bei einem Viertel der Inserate Lebenslauf bzw. Bewerbungsschreiben in Handschrift verlangt. Bei Inseraten von Führungspositionen ist der Prozentsatz höher.“ Schätzungen nach lag die Zahl erstellter graphologischer Gutachten in den 70er Jahren jährlich bei 400.000, „eine Zahl, die die aller sonstigen von Betriebspsychologen oder Betriebsberatern abgegebenen psychologischen Eignungsurteile (schätzungsweise 80.000 -150.000) erreicht bzw. überschreitet“ (Droubawa 1978, S. 2). Auf deutsche Großfirmen bezogen ergibt sich nach Doubrawa sogar ein Prozentsatz von 70. Lindemann (1984) spricht von 60% an Unternehmen, die in den 60er bis 70er Jahren zu den üblichen Unterlagen auch Handschriftenproben forderten. In den 80er - 90er Jahren: Halder-Sinn (1989) fand bei einer Stichprobe von 400 Zeitungsinseraten 20 Anzeigen, in denen handschriftliche Unterlagen erbeten wurden. 262 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) Das enspricht 5%. Lücke/Baer (1989) geben in ihrer Veröffentlichung 15% an. Angaben von 55% (Wiesendanger 1987) erscheinen dagegen unwahrscheinlich und werden eher aus den 60er und 70er Jahren stammen. 6.2 Stellenanzeigenanalyse 1995 Die Ergebnisse einer zum gleichen Zweck erstellten eigenen Stellenanzeigenanalyse sind in den Tabellen 1 bis 5 zusammenfassend aufgeführt. Untersucht wurden insgesamt 9677 Anzeigen aus den vier Zeitungen „Hamburger Abendblatt“ (HAB), „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) und „Die Welt“, jeweils von vier aufeinanderfolgenden Wochenenden. Neben der Untersuchung der gesamten Anzeigen nach Handschriftenproben wurde als weitere Differenzierung nach den Positionen Auszubildende (A), Sachbearbeiter (S), Führungsnachwuchskräfte (FN) sowie Führungskräfte (F) selektiert. Die Prozentangaben in den Positionenspalten geben dabei die relative Verteilung der jeweiligen Anzeigen an der Gesamtanzeigenzahl an. (Beispiel: HAB: Von 3125 Anzeigen waren 127 Anzeigen für die Zielgruppe Auszubildende konzipiert. Dies entspricht einem Prozentsatz von 4,05). Hinsichtlich der Handschriften-Zeile beziehen sich die Prozente auf Anzeigen in dieser Position (Beispiel: HAB: Unter den 127 Anzeigen für Auszubildende gab es zwei Handschriftenproben-Anzeigen; das entspricht 1,57%). Der äußerst geringe Gesamtprozentsatz der Handschriftenproben über alle untersuchten Zeitungen von 1,32% läßt erkennen, daß die Bedeutung der Graphologie als Personalauswahlinstrument einen nur noch geringen Verbreitungsgrad hat. Der erstaunliche Prozentsatz von 10,6 in der „Welt“-Tabelle ist ein deutlicher „Ausreißer“. Die Existenz solcher Ausnahmen kann u.a. die mehr oder weniger starken Schwankungen anderer Untersuchungsergebnisse erklären. Interessant ist, daß von 21 Anzeigen 16 Anzeigen von vier Personalberatungsfirmen stammen. Dagegen sind nur zwei von einer Unternehmung und drei vom öffentlichen Dienst ausgeschrieben worden.13 Tab. 1: Stellenanzeigenanalyse 1995 - Gesamt HAB,FAZ,SD, Welt A % S % FN % F % Gesamt % Anzeigen 216 2,23 6078 62,8 69 0,71 3314 34,24 9677 H.probe 4 1,85 47 0,77 2 2,89 75 2,26 128 1,32 % Tab. 2: Stellenanzeigenanalyse 1995 - Hamburger Abendblatt HAB 13 Anzeigen A % S % FN % F % Gesamt 127 4,05 2576 82,16 13 0,41 419 13,36 3135 Die Schlußfolgerung, daß dieser hohe Prozentsatz dem Image der Zeitung entspricht, wäre angesichts der im Vergleich geringen Grundgesamtheit von nur 197 Anzeigen jedoch ohne ausreichend gesicherte Basis. Da die geringe Anzeigendichte für die „Welt“ üblich ist, wäre eine längere Untersuchungsdauer notwendig. Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) H.probe 2 1,57 12 0,46 1 7,69 8 263 1,9 23 0,73 % Tab. 3: Stellenanzeigenanalyse 1995 - Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ A % S % FN % F % Gesamt Anzeigen - - 580 24,07 46 1,9 1783 74,01 2409 H.probe - - 7 1,2 1 2,17 31 1,73 39 1,61 % Tab. 4: Stellenanzeigenanalyse 1995 - Süddeutsche Zeitung SZ A % S % FN % F % Gesamt Anzeigen H.probe 89 2,26 2836 72,05 10 0,25 1001 25,43 3936 2 2,24 25 0,88 - - 18 1,79 45 1,14 FN % F % Gesamt % Tab. 5: Stellenanzeigenanalyse 1995 - Die Welt Die Welt A % S % Anzeigen - - 86 43,65 - - 111 56,35 197 H.probe - - 3 3,48 - - 18 16,21 21 10,6 Bei der Analyse der Anzeigen wurde sehr deutlich, daß die Prozentzahlen bezüglich der Handschriftenproben sowohl von der Grundgesamtheit (einer Zeitung) als auch von der Art der Anzeige beeinflußt werden. Während es im Stellenteil des „Hamburger Abendblattes“ und der „Süddeutschen Zeitung“ sehr viele, zum größten Teil auch nur zweizeilige Stellenangebote (meist Sachbearbeiter) gibt, fehlt diese Art der Kleinanzeigen in der „Frankfurter Allgemeinen“ oder der „Welt“ fast völlig. Der geringe Raum in Kleinanzeigen verringert jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß überhaupt eine Zeile für die Art der Bewerbungsunterlagen verwendet wird. Unseres Erachtens sind daher nur die großformatigen Anzeigen relevant, die regelmäßig mit einer Schlußformulierung enden. Für welche Positionen werden Handschriftenproben gefordert? Grundsätzlich kann gesagt werden, daß handschriftliche Unterlagen in allen untersuchten Positionen gefordert werden. Dies korreliert auch mit den Literaturangaben (Smith 1992; Furrer 1991). Für Führungskräftepositionen liegen die Ergebnisse mit 2,26% sogar über dem Durchschnitt,14 während in Kleinanzeigen für Sachbearbeiter diese Forderung weniger oft zu finden ist. Die überdurchschnittliche Zahl von 2,89% beim Führungsnachwuchs büßt jedoch viel von ihrer Aussagekraft ein durch die geringe Grundgesamtheit von nur 69 Anzeigen, der nur insgesamt zwei Handschriftenproben-Anzeigen entsprechen. Diese relativ breite Streuung über alle Positionen, selbst über unterschiedlichste Berufe (von Hauswirtschaft, Sozialpädagogik, Bau- und Elekt- 14 Aber auch diese Zahl wird durch die 16,21% Prozent in der „ Welt“-Tabelle geschönt. Realistischer ist daher eine Bandbreite von 1,73 - 1,9%. 264 Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) ronikingenieurwesen, über Rechtsanwaltsgehilfen, Außendienstler, Sekretärinnen bis hin zu Verkaufs- oder Filialleiterstellen oder Geschäftsführerposten), weist darauf hin, daß insgesamt die Position bzw. der Beruf relativ unabhängig von der Erstellung eines graphologischen Gutachtens ist. Welche Firmen fragen nach? Es ist zu vermuten, daß sich besonders kleine und mittelständische und eher konservative Unternehmen ohne intern zur Verfügung stehenden Psychologen um die zweite Bestätigung ihrer Beurteilungen durch einen graphologischen Gutachter bemühen. Diese Vermutung findet durch die Erfahrungen des Personalberaters Hans-Christian von Storsch Bestätigung.15 Hier zählen die ökonomischen Vorteile mehr als mögliche Bedenken akademischer Kreise (Halder-Sinn 1989). Auch die Durchsicht der Handschriftenproben-Anzeigen bestätigte diese Vermutung. Es fand sich z.B. keine einzige Anzeige von Werbeagenturen oder Unternehmensberatungen, die als relativ unkonventionell und innovativ, also weniger traditionell gelten. Interessant war aber z.B., daß relativ viele im Auftrag handelnde Personalberatungsgesellschaften eine Handschriftenprobe anforderten. Es bleibt zu fragen, ob diese Unternehmen ihre eigenen Bewerber auch einer graphologischen Beurteilung unterziehen.16 In welchen Bereichen des Personalwesens kann Graphologie eingesetzt werden? Bezüglich der Anwendung in der betrieblichen Personalarbeit hat die Graphologie ihren Hauptschwerpunkt in der Personalauswahl. Hier kann sie sowohl in der Vorauswahl zur Bewältigung hoher Bewerberzahlen als auch in der Hauptauswahl als Ergänzung zu Gesprächseindrücken eingesetzt werden (Bürgi 1993; Gooding 1991; Furrer 1991). Zur internen Beurteilung von Mitarbeitern, vereinzelt auch in (bzw. in Verbindung mit) der Personalentwicklung (Hopper/Stanford 1992) oder sogar für Reorganisationsvorhaben (Smith 1992), kann ein graphologisches Gutachten hilfreich sein. Hilfreich und von ausreichender Güte ist ein Gutachten jedoch nur, wenn es auf der Grundlage eines vorher definierten Anforderungsprofils formuliert wurde. 7. Fazit Die aus der Kontroverse und den unzähligen Untersuchungen resultierende Skepsis in der Forschung spiegelt sich, wie die Stellenanzeigenanalyse gezeigt hat, auch deutlich in der Praxis wider. Hieran wird sich u. E. aufgrund der verhärteten Positionen auch in den nächsten Jahren nicht allzu schnell etwas ändern. Fraglich ist, ob für die Praxisseite die Ursache für die Skepsis nicht größtenteils eher in allgemeinen, festsitzenden Vorurteilen, weniger in der Kenntnis über die konkreten Untersuchungsergeb15 H.-Ch. Stosch ist Partner der Management- und Personalberatung BDU Dr. Heimeier, Dr. Tobien & Partner in Stuttgart (vgl. o.V. 1995). 16 Bei einigen Personalberatungsunternehmen kann davon ausgegangen werden, daß die Zusatzklausel nicht nur auf ausdrücklichen Wunsch des Kunden geführt wird, sondern ein fester Bestandteil jeder Anzeige ist. Domsch, Ladwig: Die Außenseiterrolle der Graphologie in der Personalauswahl (ZfP 3/96) 265 nisse zu suchen ist. In diesem Zusammenhang lohnt der Vergleich mit Referenzen und ihre Einschätzung durch die Praktiker: Referenzen waren bisher noch nicht Ziel vergleichbar hitziger Debatten wie die Graphologie, obwohl jene noch weniger reliabel und valide sind. Hier existiert kein historischer Hintergrund des Zweifels. Ebenso wie die alleinige Anwendung der etwa 10 bis 15 gängigen Auswahltests, die den Gütekriterien entsprechen, vermieden wird (Lindemann 1984), ist auch der alleinige Einsatz der Graphologie nicht sinnvoll. Insbesondere für die Gewinnung von Persönlichkeitsdaten, erscheint die Graphologie jedoch als ein vergleichsweise geeignetes Breitbanddiagnostikum. Auch hier kann immer nur wieder betont werden, wie wichtig es ist, die Grenzen der Graphologie zu beachten. Zu wünschen bleibt, daß sich die Graphologie durch die Bemühungen um Wissenschaftlichkeit und empirischer Absicherung von Seiten der Graphometriker zu einem Auswahlinstrument entwickelt, das ohne verbleibende Skepsis zu empfehlen ist. Literatur Bürgi, A. (1993): Ist Graphologie in der Kaderselektion noch gefragt? In: io Management Zeitschrift, 62. Jg., Nr. 10, S. 49-52. Crumbaugh, J.C. (1986): Graphoanalytic cues. In: Nevo, B. (Hrsg.): Scientific aspects of graphology. Springfield, Illinois, S. 47-58. Doubrawa, R. (1978): Handschrift und Persönlichkeit. Frankfurt am Main. Engelke, H. (1987): Wissenschaftliche Graphologie - Einführung in ihre Grundlagen und Arbeitsweisen. Bonn. Fischer, G. (1964): Zur faktoriellen Struktur der Handschrift. In: Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, Band 11, S. 254-280. Fowler, A. (1991): An even hand approach to graphology. In: Personnel Management, 23. Jg., Nr. 3, S. 40-43. Furrer, M. 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