mediale aufmerksamkeit

Transcription

mediale aufmerksamkeit
Aufmerksamkeitsgewinnung und -bindung
von medialen Erscheinungsbildern
von markus wengerter
»Attention please« –
Aufmerksamkeitsgewinnung und -bindung
von medialen Erscheinungsbildern
Theoretische Abschlussarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades Diplom-Designer
– Fachbereich Visuelle Kommunikation –
an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main
vorgelegt von:
Markus Wengerter
Auraweg 5
63741 Aschaffenburg
Prüfer für den theoretischen Teil:
Prof. Dr. Hans-Peter Niebuhr
Prüfer für den gestalterischen Teil:
Prof. Friedrich Friedl
Offenbach am Main, 29. Oktober 2003
Inhaltsverzeichnis
1. »Attention Please« – Vorwort
2. Definition des Begriffs »Aufmerksamkeit«
7
11
7. Die praktische Arbeit - ein Aufmerksamkeit erzeugendes Erscheinungsbild
79
7.1. Leipzig – eine vielseitige und Aufmerksamkeit würdige Stadt
81
7.2. Ein visuelles Erscheinungsbild für die Olympischen Spiele in Leipzig 2012
86
2.1. Allgemeine Definition
13
7.2.1. Das visuelle Farbklima
86
2.2. Definition nach Hans Morschitzky
17
7.2.2. Die Embleme für Olympia 2012
87
2.3. Definition nach Jens Eder
19
7.2.3. Die Sportpiktogramme
89
2.4. Die Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit
22
7.2.4. Sekundärelemente der »visuellen Klammer«
90
2.5. Gabler Wirtschaftslexikon zum Thema Aufmerksamkeit
25
7.2.5. Weitere Medien zu »Leipzig 2012«
91
3. Messbarkeit, »Gegenstände« und Ursachen von Aufmerksamkeit
27
3.1. Wie kann man Aufmerksamkeit messen?
28
3.2. Welche »Gegenstände« erzeugen Aufmerksamkeit?
30
3.3. Durch welche Ursachen entsteht Aufmerksamkeit?
31
4. Unterschiedliche Aufmerksamkeitsbegriffe und -auffassungen
35
4.2. Florian Rötzer: Aufmerksamkeit als selektive Informationsverarbeitung
40
4.3. Georg Franck: »Ökonomie der Aufmerksamkeit«
44
4.3.1. Der Grundgedanke der Aufmerksamkeitsökonomie
45
4.3.2. Was ist nach Georg Franck »Aufmerksamkeit«?
46
4.3.3. Aufmerksamkeit und Ökonomie
47
4.3.4. Die Aufmerksamkeitsökonomie
50
4.3.5. Schlussbetrachtung zu Georg Franck
53
4 5
9. Literaturverzeichnis
96
9.1. Publikationen
96
9.2. Internet
97
55
5.1. Wie kann man mediale Aufmerksamkeit gewinnen und binden?
57
5.2. Beispiele medialer Aufmerksamkeit
59
6. Aufmerksamkeit und Sport
93
33
4.1. Jonathan Crary: »Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und moderne Kultur«
5. Die Bedeutung von medialer Aufmerksamkeit
8. Schlusswort
69
6.1. »Aktive« Aufmerksamkeit im Sport
69
6.2. »Passive« Aufmerksamkeit im Sport
72
inhaltsverzeichnis
1.
»Attention Please« – Vorwort
»Attenzione!, Attenzione!« Starker Trommelwirbel und gespannte, atemberaubende Stille
begleiten den Ansager auf die Sensationen im Zirkuszelt. Die Aufmerksamkeit erlangt
ihren Höhepunkt und entlädt sich in einem tosenden Applaus. Dies sind Kindheitserinnerungen an Zirkusbesuche, in denen von Attraktionen der Hochseilakrobaten zu Darbietungen der Tiershows um Aufmerksamkeit gebeten und gefordert wurde. Aber nicht nur da,
sondern auch im täglichen Leben begegnen einem Situationen, die ein aufmerksames Verhalten und Handeln voraussetzten. »Attention Please« wurde hierfür zum »neudeutschen«
Schlagwort. Der kulturelle, gesellschaftliche und ökonomische Aspekt der Aufmerksamkeit
begegnet uns alltäglich, seit es öffentliche Kommunikation gibt. Die uns heute allgegenwärtig umgebenden und zunehmend beeinflussenden Medien haben hierzu ebenfalls zahlreiche, neue Techniken und Methoden entwickelt, so wie früher bereits Könige und Kaiser,
Marktschreier und Gaukler um die Gunst des Volkes, der Kunden und des Publikums buhlten.
»Die Verwendungsmöglichkeiten der Aufmerksamkeit wachsen nicht erst seit gestern.
Wir erleben die späten Folgen eines schon lange anhaltenden und sich jüngst nur
rasch beschleunigenden Wachstums. Die Ausbreitung der zur Attraktion hergerichteten
Dinge, die Gelegenheit zu Ablenkung und Unterhaltung, die Aufforderungen zum Unterrichtet- und Eingeweihtsein, die Zumutung des Sich-Auskennens nehmen im Zug
des wirtschaftlichen Wachstums und der kulturellen Entwicklung wie von selbst zu.
Wir erleben sie als die Aufdringlichkeit des Warenangebots, als den Kampf um Aufmerksamkeit in den Medien, als Aufforderung zum modischen Mitmachen, als Wunsch
oder Zumutung, sich laufend fortzubilden, als wachsende Mobilität und Verstädterung,
als Verdichtung der Kommunikationsnetze, als Globalisierung der Echtzeitkommunikation. [...]
So vielfältig die Gründe für dieses Wachstum im einzelnen sind, sie lassen sich auf
zwei Hauptquellen zurückführen. Da ist erstens die Eigenschaft der technischen Hilfsmittel zur Verarbeitung von Information, auch den Wirkungsgrad bei der Erarbeitung
von Information zu steigern. Da ist zweitens der Sachverhalt, dass das Einnehmen
fremder Aufmerksamkeit mit dem Aussenden von Reizen für diese beginnt.« (1)
(1) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 52)
6 7
vorwort
Eine historische Entwicklung der Zunahme an Informationsverarbeitung und somit auch
Zusätzlich beziehe ich mich auf verschiedene aktuelle Publikationen, wie beispielsweise
von Aufmerksamkeit ist selbstverständlich festzustellen. Das menschliche Individuum war
auf Georg Francks »Ökonomie der Aufmerksamkeit«, den »Aufmerksamkeitstheoretiker«
nämlich in seiner Geschichte nicht immer so vielen und neuen Reizen ausgesetzt, wie es
Florian Rötzer sowie Jonathan Crarys »Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und moderne Kul-
heute der Fall ist. Angefangen hat es grundsätzlich mit der Entstehung der Sprache, wel-
tur«, um aus kommunikationssoziologischer, medienpsychologischer und ökonomischer
che die Aufmerksamkeit mit dem Werkzeug für die Erarbeitung, Verarbeitung, Mitteilung
Perspektive folgende Fragen zu klären:
und Überlieferung von Informationen versorgte. Als die Schriftentwicklung hinzukam, war
die räumliche und persönliche Begrenztheit von aufmerksamer Informationsaufnahme ein
Welche Rolle spielt Aufmerksamkeit bei der visuellen und medialen Kommunikation?
Stück weiter aufgehoben, deren Grenzen schließlich mit der Erfindung des Buchdrucks
gänzlich behoben waren. Die Druckerpressen läuteten somit die erste industrielle Phase
Welche Funktionen besitzen Kommunikation und Medien für eine gesellschaftliche
der Informationsproduktion ein und man kann somit von der ersten Quelle einer Informa-
Ökonomie der Aufmerksamkeit?
tionsflut sprechen. Die Gründung von Verlagen sowie technischer Erfindungen, wie des
Telefons, des Films und später des Fernsehens als auch die Verfeinerung und Verbesserung
Mit welchen Methoden und theoretischen Ansätzen lässt sich Aufmerksamkeit in
der Techniken von Speicherung und Reproduktion von Informationen, waren maßgebliche
der Kommunikation erklären und erforschen?
Triebfedern einer mediengeschichtlichen Entwicklung bis heute – einer Gesellschaft geprägt von Massenmedien und Informationsflut.
Wie kann die Aufmerksamkeit des Betrachters beeinflusst werden?
Der damit zunehmend einsetzende Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit hat schließlich
Wie kann Aufmerksamkeit festgestellt und gemessen werden?
zu einer »Krise der Aufmerksamkeit« geführt. Und gerade von diesem Gesichtspunkt betrachtet, hat die Thematik und möglicherweise die Problematik der Aufmerksamkeit erst in
Was führt zu Aufmerksamkeit?
jüngster Zeit wiederum vermehrt Beachtung und Aufmerksamkeit erzielt. Mit dieser Ihnen
nun vorliegenden theoretischen Arbeit zu meinem Diplomhauptfach bitte ich Sie um Ihre
Aufmerksamkeit, um mit Ihnen das Thema der Aufmerksamkeit näher zu beleuchten.
Und schließlich:
Wie kann Aufmerksamkeit überhaupt gewonnen und wenn möglich dauerhaft gebunden werden?
Gleichzeitig setze ich eine gewisse Aufmerksamkeit beim Leser voraus, genau wie die uns
umgebenden Medien oder kommerzielle Erscheinungsbilder, die zum Hauptziel haben, beim
Rezipienten Aufmerksamkeit zu gewinnen und zu binden. Diese recht neue wissenschaftliche Forschung, was Aufmerksamkeit ist und wie sie in den Medien erzeugt wird, möchte
ich im theoretischen Teil meiner Diplomarbeit versuchen zu klären. Ich werde dabei im
folgenden auch auf den im gestalterischen Prüfungsteil selbst entwickelten und eigenständig entworfenen Erscheinungsbild für die XXX. Olympischen Sommerspiele in Leipzig
2012 und dessen Wirkung auf die Aufmerksamkeit näher eingehen.
8 9
vorwort
»Von all unseren internen Funktionen, die die Bedeutung der uns umgebenden Welt
schaffen, ist die Aufmerksamkeit die zentralste.«
Hugo Münsterberg
2.
Definition des Begriffs »Aufmerksamkeit«
Das menschliche Verhalten und auch dessen Bewusstsein ist schwer vorstellbar ohne das
Phänomen der Aufmerksamkeit. Für unsere Gesellschaft, die uns allumgebenden Medien,
die globalen Wirtschaftsverhältnisse aber auch für die Kunst ist die Aufmerksamkeit eine
der wichtigsten Voraussetzungen. Daher ist sie auch sehr eng mit dem alltäglichen Leben
des menschlichen Individuums und mit seiner Umwelt verbunden. Gerade unter diesen
Umständen ist es besonders erstaunlich, dass der Begriff und insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt »Aufmerksamkeit« erst in den vergangenen Jahrzehnten
und hierbei vermehrt erst in den letzten Jahren zum zentralen Thema in der medialen
Kommunikationsdiskussion herangezogen wurde.
Im Folgenden werde ich versuchen, den Begriff der Aufmerksamkeit näher zu klären. Da
spezielle Definitionen zur Thematik Aufmerksamkeit doch meist sehr schwierig sind, beabsichtige ich, mich erst einmal dem Begriff mit Hilfe von möglichen Synonymen zu nähern:
Aufmerksamkeit kann sicherlich auch mit »beobachten«, »betrachten«, »achtgeben«, »fokussieren«, »aufpassen« als auch »gebannt auf oder vertieft in etwas sein« umschrieben
werden. »Wachsamkeit« und »Achtsamkeit« sind weitere Ausdrücke, die man in diesem
Zusammenhang nennen kann.
Schließlich werden zur weiteren Beschreibung des Begriffs Aufmerksamkeit sehr häufig
illustrierende Metaphern herangezogen: Man könnte beispielsweise Aufmerksamkeit auch
mit einer Art Scheinwerfer umschreiben, der einen bestimmten Bereich erhellt, während
der umliegende Rest im Dunkeln bleibt. Aufmerksamkeit wäre auch als ein Fokus zu bezeichnen, der einen bestimmten Gegenstand scharf ins Blickfeld rückt, während dessen
Umgebung jedoch undeutlich verschwimmt. Die Redensarten »Ganz Auge und Ohr sein«,
»Sein Auge auf etwas werfen«, »Hellhörig seine Ohren spitzen« als auch im negativen Sinn
»Die Ohren auf Durchzug stellen« umschreiben außerdem sehr bildlich die Bedeutung von
Aufmerksamkeit.
10 11
definition
2.1.
Allgemeine Definition
Vereinzelte, mögliche attributive Termini zum Begriff Aufmerksamkeit helfen das »weite
Grundsätzlich behaupte ich, dass Aufmerksamkeit sowohl aktiv als auch passiv erzeugt
Feld« der Thematik ebenfalls näher zu erklären: Neugier, Spannung, Interesse sowie Faszi-
wird: Die aktive Aufmerksamkeit ist ein Zustand intensiver und konzentrierter Wahrneh-
nation und Langeweile aber auch Sorge und Vorsicht können als einige Formen von Auf-
mung, die sich dabei auf Ausschnitte des Wahrnehmungsraumes, verschiedene Gegenstän-
merksamkeit verstanden werden. Neugierde und Interesse werden bei näherer Betrachtung
de, Personen oder Ereignisse, markante Gegenstandsmerkmale und bestimmte Wahrneh-
oder Entdeckung von Neuem geweckt. Spannung kann man durch aufmerksames Erwarten
mungsorgane richtet. Lenkt man jedoch die Aufmerksamkeit durch das eigene Verhalten,
von künftigen Ereignissen und Begebenheiten erzeugen. Faszination dagegen entsteht,
die Erscheinung oder auch Aussehen sowie durch das selbstständige Handeln und Tun
wenn man von einer Sache, einem Gegenstand oder einem Ereignis so in den Bann der
meist gezielt und beabsichtigt auf sich selbst, kann man diese Art der Aufmerksamkeitser-
Aufmerksamkeit gezogen wird, dass man sich ihr nicht mehr entziehen kann. Dazu steht
zeugung als passiv bezeichnen, da sie nicht von einem selbst ausgeübt, sondern bei ande-
im sehr starkem Widerspruch die Langeweile, bei der man nicht in der Lage ist, aufmerk-
ren erzeugt wird.
sam etwas aufzunehmen und zu verfolgen. Vorsicht und Sorge sind geprägt durch eine
konzentrierte Aufmerksamkeit und Erwartung möglicher Risiken oder Überraschungen.
Die aktive Aufmerksamkeit ist grundsätzlich als eine konzentrierte Wahrnehmungsbereitschaft zu verstehen. Sie ist somit eine allgemeine Bezeichnung für einen Zustand der gesteigerten Wachheit, Anspannung und absichtlichen Konzentration, bei dem die geistige
Aktivität auf einen oder mehrere bestimmte Gegenstände, Vorgänge, Gedanken oder ähnliches gerichtet ist. Gleichzeitig gehört zu der Aufmerksamkeit, dass zwangsläufig andere
Gegenstände des umgebenden Wahrnehmungsfeldes in den Hintergrund treten. Aufmerksamkeit ist also notwendig für die Mechanismen der menschlichen Informationsaufnahme
und -verarbeitung – also der Kognition –, so dass aus einer großen Anzahl an verfügbaren
Signalen und Reizen Teilmengen zur Verarbeitung herausgefiltert werden können. Aufmerksamkeit ist somit das Ergebnis von selektiver Wahrnehmung und muss als notwendige
Bedingung für erfolgreiche Kommunikation vorliegen. Muss man sich aufgrund zu hoher
Aufmerksamkeitsbelastung auf einen einzelnen Reiz konzentrieren und die anderen dafür
ignorieren, so wird dieses Phänomen als selektive Aufmerksamkeit bezeichnet.
Die Aufmerksamkeitsentstehung lässt sich in zwei Grundformen unterteilen: Aus unserer
Alltagserfahrung wissen wir, dass man Aufmerksamkeit bewusst aber auch unbewusst auf
etwas lenken kann. Deshalb unterscheidet man beide Arten der Aufmerksamkeitsentstehung als willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit.
Die willkürliche oder kontrollierte Aufmerksamkeit wird von Interessen, Neigungen, Bedürfnissen, Gedanken gelenkt. Sie ist zielgerichtet und meistens mit »inneren« Handlungen verbunden und entsteht durch die Aufnahme und Verarbeitung bestimmter Reize gemäß einer Zielfunktion des Individuums. Diese Form der Aufmerksamkeit wird auch als
gezielt bezeichnet.
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definition
Im Gegensatz dazu wird die unwillkürliche Aufmerksamkeit durch neuartige, auffällige
Muss man sich jedoch mehreren »unbekannten« Signalen oder Reizen in seiner Umwelt
Umgebungsreize und Signale der Umwelt geweckt, die durch Attribute wie Größe, Farbig-
zuwenden, stellt sich die Frage, wievielen Gegenständen gleichzeitig eine intensive Auf-
keit oder Bewegung bestimmt werden und die einen Gegenstand dadurch für den Betrach-
merksamkeitsbereitschaft zuteil werden kann! Die Aufmerksamkeit kann somit über viel
ter auffällig machen. Die unwillkürliche oder auch unkontrollierte Aufmerksamkeit kann
Unterschiedliches verteilt sein – dann ist sie in der Regel auf einzelne Gegenstände nied-
daher aus der Sicht des Individuums als von »außen« durch exogene Ereignisse gesteuert
rig und man spricht von einer zerstreuten Aufmerksamkeit. Wer zerstreut mal auf dieses
verstanden werden. Es handelt sich also um eine ungezielte Suche und Aufnahme von Um-
oder jenes aufmerksam ist, kann sich eben nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren. Hier-
weltsignalen.
zu ist eine fixierte Aufmerksamkeit von Nöten, die sich einem bestimmten Gegenstand fokussierend widmet. In diesem Fall ist die Aufmerksamkeitsaufwendung dann sehr hoch.
Dabei kann man drei Arten unterscheiden: Erstens wird man aufgrund von Bedürfnissen
Damit wäre gleichzeitig eine weitere grundlegende These im Zusammenhang mit der Auf-
oder angeborenen Reflexen automatisch auf diese aufmerksam, wenn man bestimmte
merksamkeitsdiskussion aufgestellt: Aufmerksamkeit kann nicht in unbegrenzten Maße er-
Merkmale oder Gegenstände wahrnimmt. Im Ergebnis wird die Aufmerksamkeit auf diese
zeugt werden, sie ist also nur begrenzt möglich bzw. einsatzfähig.
Objekte gelenkt und dafür von anderen abgewendet (der Blick nach einer erotischen Person). Die zweite Art der unwillkürlichen Aufmerksamkeit bezieht sich auf die Reaktion auf
Ist ein Mensch gleichzeitig mehreren verschiedenen Informationsquellen ausgesetzt –
neue, überraschende oder sogar möglicherweise gefährliche oder lebensbedrohliche Reize
beispielsweise einem Stimmengewirr auf einer Cocktailparty – muss er also unfreiwillig
in der Umwelt, die meist als Folge von plötzlichen visuellen oder akustischen Veränderun-
wählen, auf welche er sich vorrangig konzentrieren und welche er dafür eher ignorieren
gen ausgelöst werden (Unfallgeräusche, quietschende, bremsende Autoreifen). Schließlich
sollte. Dieses Phänomen des »Cocktail-Party-Effekts« beschreibt, dass bei einer Mehrzahl
können auch Reize eine unwillkürlich erhöhte Aufmerksamkeit erzeugen, die kurz vorher
real verfügbarer Signale bewusst durch eine selektive Wahrnehmung nur bestimmten Rei-
schon einmal in identischer oder ähnlicher Art zur Verarbeitung dargeboten wurden und
zen Aufmerksamkeit geschenkt werden kann, obwohl eine weitaus größere Anzahl verfüg-
daher noch im Kurzzeitgedächtnis »aktuell« sind. Wer von uns ist nicht schon einmal
bar ist. Wesentlich bei einer solchen Rationalisierung der Aufmerksamkeitslenkung ist
überraschend aufgeschreckt, als man seinen Vornamen in einer unbekannten »Men-
weiterhin, dass sowohl eine Entscheidung getroffen wird, welche Signale wahrgenommen
schenmenge« gehört hat, obwohl man selbst überhaupt nicht angesprochen wurde? Auf
werden, als auch welche explizit nicht. Aufmerksamkeit wird in diesen Fällen dann solchen
diese Art wird beispielsweise voraktivierten Wörtern – in diesem Fall dem eigenen Namen –
Signalen mehr zugewandt, deren Aufnahme einen größeren Nutzen für das jeweilige Indi-
besonders schnell und vorrangig Aufmerksamkeit zugewiesen.
viduum bieten. Daher kann man durchaus davon ausgehen, dass bei rationaler Aufmerksamkeitslenkung eine Beeinflussung der Wahrnehmung durch einen neuen Reiz nur einge-
Die Grenzen zwischen der unwillkürlichen und willkürlichen Aufmerksamkeit sind fließend.
schränkt möglich ist, da der Empfänger seine Aufmerksamkeit vorrangig auf die ihm
Erstere kann in Letztere übergehen und umgekehrt. Je nachdem, ob eher der Handlungs-
speziell ausgesuchten Signale richtet. Ziel der selektiven Aufmerksamkeit ist es also, die
aspekt oder mehr der Wahrnehmungsaspekt im Vordergrund steht, wird die eine oder die
Aufmerksamkeit auf einzelne Reize zu fokussieren, um deren Eigenschaften zu integrieren
andere Form der Aufmerksamkeit mehr betont. Training bzw. auch Erfahrungen können
sowie auf diese Weise deren Bedeutung zu erfassen und sie in Beziehung zum eigenen
schließlich zu Automatisierungshandlungen führen, so dass bestimmte Handlungen wei-
Wissen zu stellen. Selektive Aufmerksamkeit ist schließlich die Voraussetzung für koordi-
testgehend unbewusst ausgeübt werden können und diese daher weniger Aufmerksamkeit
niertes motorisches Handeln, da nur so zusätzliche störende Reize, die die momentane
beanspruchen. Sollte ein Mensch gleichzeitig mehreren verschiedenen Informationsquellen
Handlung beeinflussen könnten, ausgeschaltet werden können.
ausgesetzt sein, kann er sich auf diese Weise leichter auf Mehreres konzentrieren, da einzelne Handlungen nur in geringem Umfang kapazitätsbelastend sind.
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definition
2.2.
Gegenstände bzw. deren Reize nehmen unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Arten in
Definition nach Hans Morschitzky
Nach Hans Morschitzky, klinischer Psychologe und Psychotherapeut aus Linz, ist
Anspruch: Bleibt der Gegenstand der Aufmerksamkeit während eines gewissen Zeitraumes
»Aufmerksamkeit [...] ein Zustand konzentrierter Bewusstheit, begleitet von einer Be-
derselbe, so spricht man von tonischer Aufmerksamkeit, die, je nach andauernder Zeit, in
reitschaft des zentralen Nervensystems, auf Stimulation zu reagieren.« (2)
manchen Fällen auch zu einer extra langen tonischen Aufmerksamkeit werden kann. Im
Gegensatz dazu spricht man von einer phasischen Aufmerksamkeit, wenn sie rasch von
Er unterteilt den Begriff der »Aufmerksamkeit« in vier verschiedene voneinander klar ab-
einer Signalquelle zur anderen hin- und herspringt.
grenzbare Aspekte, die jedoch ebenfalls eng miteinander verbunden sind:
1. ungerichtete Aufmerksamkeit (tonische und phasische Wachheit)
Unter Aufmerksamkeitsschwankungen versteht man Veränderungen der Aufmerksamkeits-
2. gerichtete, fokussierte oder selektive Aufmerksamkeit (Konzentration)
aufnahme. Die Aufnahmefähigkeit kann nicht über längere Zeit in einem gleichbleibenden
3. längerfristige Aufmerksamkeitszuwendung (Vigilanz, Daueraufmerksamkeit)
Ausmaß auf einen Vorgang oder Gegenstand gerichtet werden. Sie ist Schwankungen un-
4. geteilte Aufmerksamkeit (gleichzeitige Konzentration auf mindestens zwei Reize)
terworfen, die sich in Leistungsschwankungen äußern. Intakte Aufmerksamkeitsleistungen
sind eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung alltäglicher Anforderungen. Überall
Die ungerichtete Aufmerksamkeit bezeichnet die allgemeine Reaktionsbereitschaft und
dort, wo wir es nicht mit hoch überlernten Routinehandlungen zu tun haben, ist Konzen-
eine generelle Wachheit, um auf Reize der Umgebung zu reagieren.
tration und zielgerichtete Kontrolle unseres Handelns erforderlich. Aufmerksamkeitsprozesse beziehen sich auf externe Abläufe – zum Beispiel bei der Beobachtung und der Hand-
Die gerichtete Aufmerksamkeit bezeichnet die selektive oder fokussierte Aufmerksamkeit
lungskontrolle, sowie auf interne Abläufe – zum Beispiel bei der Handlungsplanung und
auf relevante Reize bei gleichzeitiger Unterdrückung von Störreizen und entspricht dem
dem Lösen eines Problems.
Begriff der Konzentrationsfähigkeit. Die selektive Aufmerksamkeit umfasst die Fähigkeit,
die Aufmerksamkeit aktiv auf eine Reizquelle zu richten und dabei relevante Aspekte zu
erfassen und irrelevante Aspekte zu unterdrücken. Eine gerichtete Aufmerksamkeit kann
man somit als den wichtigsten Zustand der Konzentration bezeichnen.
Eine längerfristige Aufmerksamkeitszuwendung umfasst nach der Häufigkeit der relevanten Reize zwei Aspekte, nämlich Vigilanz und Daueraufmerksamkeit. Vigilanz ist für Hans
Morschitzky die längerfristige Aufmerksamkeit unter monotonen Reizsituationen. Die relevanten Reize treten über einen längeren Zeitraum selten auf. Vigilanz als anhaltende Wachsamkeit in reizarmen Beobachtungssituationen ist wichtig für zahlreiche Überwachungstätigkeiten, wie beispielsweise bei der Radarschirmüberwachung oder für Berufskraftfahrer
bei deren monotonen Autobahnfahrten. In anderer Formulierung ist Vigilanz ein Zustand
der Funktionsbereitschaft des Organismus, auf zufällige und selten auftretende Ereignisse
zu reagieren.
(2) http://www.panikattacken.at – Dr. Hans Morschitzky: Aufmerksamkeit.
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definition
2.3.
Definition nach Jens Eder
Die Daueraufmerksamkeit ist nach Hans Morschitzky gegenüber der Vigilanz als länger-
Jens Eder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Studiengang Medienkultur der Universität
fristige Aufmerksamkeit bei hoher Reizfrequenz – zum Beispiel Fließbandarbeiten, Straßen-
Hamburg, stellt in seinem Aufsatz »Aufmerksamkeit ist keine Selbstverständlichkeit – Eine
verkehr mit Gegenverkehr oder Intensivstationen – zu verstehen. Die relevanten Reize tre-
Diskurskritik und ein Klärungsvorschlag« folgende Interpretationsversuche von Aufmerk-
ten über einen längeren Zeitraum häufig auf, daher bezeichnet die Daueraufmerksamkeit
samkeit auf und gliedert sie in drei Sparten:
auch die Fähigkeit, relevante Reize über einen längeren Zeitraum zu beachten bzw. auf sie
»Funktionalistische Definitionen finden sich häufig im Bereich der Psychologie. Sie
zu reagieren.
bestimmen Aufmerksamkeit über ihre kognitive Funktion, in der Regel über das Merkmal der Informationsselektion. Auch wenn sie sich über dieses Merkmal einig sind,
Die geteilte oder distributive Aufmerksamkeit umfasst die Möglichkeit, zwei oder mehr
können sie beträchtlich voneinander abweichen: Mal wird Aufmerksamkeit als dasjeni-
Reize gleichzeitig zu verarbeiten bzw. auf sie zu handeln. Werden optische und akustische
ge aufgefasst, was im Hirn Informationen auswählt, mal als Fähigkeit zur selektiven
Aufgaben gleichzeitig aufgenommen, so spricht man von einer simultanen Beachtung, die
Informationsverarbeitung verstanden, mal als Prozess der Informationsselektion oder
sich in unterschiedlichen Reizen von einer bis mehreren Sinnesmodalitäten widerspiegelt.
auch als dessen Ursache.
Physiologische Definitionen bestimmen Aufmerksamkeit über das Vorhandensein gewisser neuronaler Prozesse. So definiert der Kognitionswissenschafter David LaBerge
Aufmerksamkeit als einen Vorgang im Gehirn, der aus der gleichzeitigen neuronalen
Aktivität in drei Hirnbereichen besteht, die durch eine Art neuronalen Dreiecks-Schaltkreis miteinander verbunden sind.
Phänomenalistische Definitionen bestimmen Aufmerksamkeit als eine Eigenschaft von
Bewusstseinsvorgängen. Ein Beispiel ist William James’ klassische Definition: Aufmerksamkeit sei »das klare und lebendige Besitzergreifen des Geistes von gleichzeitig
möglichen Gegenständen oder Gedankenströmen.« « (3)
»Überdurchschnittlicher Intensitätsgrad intentionaler Erlebnisse – so lautet [Jens
Eders] aus Phänomenologie und Psychologie abgeleiteter Vorschlag zu einer Bestimmung [...] von Aufmerksamkeit. Ein Lebewesen ist genau dann aufmerksam auf einen Gegenstand, wenn es überdurchschnittlich intensive intentionale Erlebnisse hat,
die auf diesen Gegenstand gerichtet sind. [... Dieser Definitionsansatz macht eines
deutlich:] Aufmerksamkeit ist selbst kein eigenständiger Bewusstseinsakt und auch
keine Eigenschaft des Bewusstseins als Ganzem. Sie ist weder eine Fähigkeit noch ein
Prozess, wie in manchen Definitionen angenommen wird. Aufmerksamkeit als Grad ist
in ontologischer Hinsicht vielmehr ein Moment, ein Akzidens von verschiedenartigen
einzelnen Bewusstseinsakten – ein Teil oder Zug von ihnen, der von ihrer Existenz abhängig ist wie die Farbe eines Balles von der Existenz des Balles.« (4)
(3) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 17)
(4) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 29)
18 19
definition
Indem er auf verschiedene Definitions- und Klärungsversuche des Begriffs »Aufmerksam-
»Wenn [man] schlicht sag[t] ,ich bin aufmerksam’, drück[t man] damit in der Regel aus,
keit« zurückgreift, die in der Vergangenheit auf Vorarbeiten aus den unterschiedlichsten
dass [man sich] (innerhalb eines bestimmten Kontextes) in einer bestimmten Disposition
Untersuchungsbereichen zurückgehen, versucht Jens Eder zusätzlich den Ausdruck zusam-
befinde[t], nämlich in derjenigen, mentale Erlebnisse eines hohen Intensitätsgrades zu
menfassend näher zu erklären und zu bestimmen. Ausgangspunkt für seine Untersuchung
haben, die von einer bestimmten kontextuell definierten Qualität sind (etwa der des
ist die Sprache. Dabei hat er festgestellt, dass, wenn man bei der Bedeutungsklärung des
Höhrens) und sich auf einen bestimmten kontextuell definierten Gegenstandsbereich rich-
Substantivs »Aufmerksamkeit« noch das Adjektiv bzw. Adverb »aufmerksam« hinzufügt,
ten (etwa dasjenige, was mein Gesprächspartner sagen wird).« (6)
sich weitere markante Unterschiede ergeben:
Während eines Gespräches, weiß man, dass man von seinem Gegenüber etwas zu hören
Grundsätzlich unterscheidet er zwei Aspekte von Aufmerksamkeit. Zum einen, wenn man
bekommt, niemals aber was, wie und wann er es sagen wird. Auch in sehr vielen Sportar-
»aufmerksam etwas tut«, zum anderen wenn man »aufmerksam (auf etwas) ist«. Den er-
ten muss der Sportler seinen Gegner wachsam beobachten, um auf dessen Vorgaben oder
sten Fall nennt er daher auch »aufmerksames Handeln«. Den zweiten unterscheidet er
Bewegungen entsprechend zu reagieren: egal ob dies den Fechter betrifft, der jederzeit
nochmals in zwei Unterkategorien: in einen transitiven und einen intransitiven Gebrauch
mit einem Stoß seines Kontrahenten rechnen muss, oder einen Tennisspieler, der sich auf
von »aufmerksam sein«. Wie ich in meiner Formulierung schon angedeutet habe, kann
den zurückgespielten Ball seines Gegners voll zu konzentrieren hat.
man sowohl »aufmerksam sein« als auch »aufmerksam auf etwas sein«. Den ersten Unterpunkt benennt er – im Unterschied zu Hans Morschitzky – als »Vigilanz«, den anderen als
»Zusammenfassend lässt sich feststellen: Aufmerksamkeit kann erstens einen Inten-
»aktuelle Aufmerksamkeit«.
sitätsgrad intentionaler Erlebnisse meinen (in emphatischer Verwendung auch einen
besonders hohen Intensitätsgrad), zweitens eine durch Anspannung der Sinne ge-
Ist die Rede von »aufmerksam etwas tun«, drückt Aufmerksamkeit die Eigenschaft von
kennzeichnete Disposition zu bestimmten mentalen Erlebnissen und drittens eine Ei-
Handlungen aus, die andersartige Formen annehmen können. Handlungen oder Tätigkei-
genschaft von Handlung. Der zweite und der dritte Sinn von Aufmerksamkeit setzten
ten können sowohl durch ein Vorhandensein, als auch durch das Fehlen von Aufmerksam-
den ersten jedoch voraus: Handlungen sind nur dann aufmerksam, wenn mentale Epi-
keit gelenkt werden:
soden jenseits der Aufmerksamkeitsgrenze in ihren Vollzug involviert sind. Und Lebe-
»Wer unachtsam etwas tut, ist nicht darauf aufmerksam, wie er etwas tut. Wer nach-
wesen befinden sich nur dann in der Disposition der Aufmerksamkeit, wenn sie bereit
lässig oder gedankenlos handelt, hat den möglichen Folgen seiner Handlung keine
sind, bestimmte intentionale Erlebnisse jenseits der Aufmerksamkeitsgrenze zu ha-
Aufmerksamkeit geschenkt. Dagegen impliziert überlegtes und sorgfältiges Handeln
ben. Damit besteht die Bereitschaft, in den aktuellen Zustand der Aufmerksamkeit im
das Vorhandensein von Aufmerksamkeit.« (5)
ersten Sinn überzugehen: Ich bin aufmerksam – ich werde aufmerksam auf etwas –
ich bin auf diesen bestimmten Gegenstand aufmerksam – und beziehe ihn in auf-
»Ich bin aufmerksam« drückt also den zweiten Punkt, die Vigilanz – oder auch Wachsam-
merksames Handeln ein. Angesichts dieser verschiedenen Bedeutungen von Aufmerk-
keit bzw. Achtsamkeit – eines Individuums aus. In dieser Form der Aufmerksamkeit ist
samkeit sollten die innerhalb des aktuellen Diskurses vertretenen Thesen auf einen
man gespannt auf ein Erlebnis, Ereignis oder Gegenstand, ohne sich genau darüber im
einzigen klaren Sinn bezogen werden können. Dies scheint aber nicht immer der Fall
Klaren zu sein, was einen erwartet, zum Beispiel über dessen Charakter oder über den
zu sein.« (7)
Zeitpunkt und Ort seines Geschehens.
(5) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 32)
(6) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 31)
(7) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 32 f.)
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definition
2.4.
Die Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit
Bei der Bewerkstelligung der alltäglichen Informationsverarbeitung eines Organismus
che im Großhirn erreichen, so dass ein einzelnes Hirnstammneuron ein ganzes Hirnrin-
stellt die Aufmerksamkeit – wie ich bereits angeführt habe – also die wichtigste Instanz
denareal versorgt. Die topologische Spezifizität ist allerdings relativ gering. Eine pro-
dar. Diese hat, in einem Wettstreit mit äußeren als auch inneren Reizen, die Aufgabe zu
minente Rolle spielt dabei das cholinerge System, das den Thalamus direkt ennerviert
selektieren. Nur das, worauf die Aufmerksamkeit fällt, kann auch bewusst rezipiert und
und dort Bedingungen schafft, die für die Übertragung von Sinnesinformation beson-
dann erinnert werden. Aufmerksamkeit ist also ein Auswahlverfahren, das sich aussucht,
ders günstig sind. Die Oszillatoren, die dort mit langsamer Frequenz schwingen und
was wahrgenommen wird, was also ins Bewusstsein kommt, und was nicht. Das mensch-
im Tiefschlaf zum Beispiel verlässlich verhindern, dass sensorische Aktivität übertra-
liche Gehirn muss aus der Flut einströmender Informationen die jeweils wichtigen erken-
gen wird, werden durch dieses System inaktiviert. Dann gibt es noch ein wichtiges Ge-
nen. Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am
biet im basalen Vorderhirn, das auch mit cholinergen Zellen besetzt ist und seiner-
Main, stellte sich während eines Interviews mit Florian Rötzer den interessanten Fragen,
seits zur Großhirnrinde projiziert. Das cholinerge System des Hirnstamms projiziert bei
ob aus Sicht der neuronalen Wissenschaft ein identifizierbares »System Aufmerksamkeit«
höheren Tieren nämlich nur in subkortikale Bereiche, aber es aktiviert auch die Kern-
existiere, was darin vor sich gehe und welchen biologischen Gesetzen dieses System mög-
gebiete im Vorderhirn. Von dort wird die gesamte Großhirnrinde mit Acetylcholin ver-
licherweise unterläge?
sorgt.« (8)
Neuronen der äußeren Gehirnschicht sind dafür da, jene Informationen, die für das Objekt
Es gibt also ein »Managementzentrum für Informationsverarbeitung« im Gehirn, dessen
unserer Aufmerksamkeit wichtig sind, an die zuständigen Nervenzellen synchron weiterzu-
Aufgabe es ist, nicht nur die Reize, die einwirken, sondern auch die Bereiche zu koordi-
leiten. Die Synchrondaten haben eine größere Chance, auch an tiefer im Gehirn liegende
nieren, welche die äußeren Reize intern verarbeiten, weiterleiten, eben managen. Mana-
Neuronen weitergeleitet zu werden. Weniger Wichtiges hingegen geht im asynchronen
gen heißt in diesem Fall nichts anderes als: veranlassen etwas zu tun. Im menschlichen
Durcheinander der anderen Nervenzellen, die sich nicht synchronisieren, unter. Aufmerk-
Mittelhirn befindet sich hierfür die netzartig aufgebaute »Formatio Reticularis«. Es konnte
samkeit mit ihren unterschiedlichen Komponenten ist eine der wichtigsten Basisleistun-
nachgewiesen werden, dass diese Region vorrangig dafür verantwortlich ist, Geschehnisse
gen des Gehirns, das heißt, andere höhere Hirnleistungen sind auf die Verfügbarkeit und
wie Aufmerksamkeit aufzurufen. Die »Formatio Reticularis« erhält dabei sensorische
Intaktheit von Aufmerksamkeitsleistungen angewiesen. Sie sind dadurch allerdings sowohl
Inputs aus allen Bereichen des Gehirns, durch deren Stimulation es zu einem Zustand der
funktionell wie konzeptionell auch nur schwer gegenüber anderen kognitiven Funktionen
Erregung kommt. Daher wird die »Formatio Reticularis« auch als das Substrat des Aktivati-
abgrenzbar.
onssystems bezeichnet.
Die Frage, ob es im Gehirn eines Organismus eigentlich so etwas wie ein »Aufmerksam-
In meiner vorangegangenen Definition von Aufmerksamkeit bin ich darauf eingegangen,
keitssystem« gäbe, beantwortet Wolf Singer folgendermaßen:
dass eine derartige Aktivierung durch besonders auffällige, biologische Reize, wie grelle
»Es gibt ein Zentrum, das aktiviert sein muss, damit das Gehirn in einen Zustand
Farben, plötzliche Bewegungen, angenehme Gerüche, laute Geräusche und ähnliches, po-
kommt, in dem es Phänomene wie Aufmerksamkeit generieren kann. Die entsprechen-
sitiv gefördert wird. Aber kann sich das »Aufmerksamkeitssystem« auch an neue Situatio-
den Areale liegen im Hirnstamm und lassen sich in vier Untersysteme gliedern. Das ist
nen adaptieren und sich durch Lernen weiterentwickeln?
einmal das cholinerge System, das Acetylcholin als Überträger benutzt, dann das no-
»Das ist ein sehr auffälliges Phänomen. Man kann neuronale Korrelate für die Auf-
radrinerge System, das Noradrenalin benutzt, das dopaminerge System, das Dopamin
merksamkeitssteuerung finden. Übertragungsketten, die Information vermitteln, auf
benutzt, und das serotonine System, das Serotonin benutzt. Diese vier Systeme zeich-
die im Augenblick aufgemerkt wird, zeigen eine höhere Aktivität als Übertragungsket-
nen sich dadurch aus, dass sie mit ihren Axonprojektionen relativ diffus riesige Berei-
ten, deren Inhalte zur Zeit nicht beachtet werden. Vorgänge wie Habituation spielen
(8) http://www.heise.de – Zur Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit.
22 23
definition
2.5.
Gabler Wirtschaftslexikon zum Thema Aufmerksamkeit
hier natürlich eine große Rolle. Wenn die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten In-
Das Gabler Wirtschaftslexikon stellt sich der Frage, welche Auswirkung die Aufmerksamkeit
halt gelegt wird, der zwanzig Mal unverändert wiederholt wird, dann adaptieren die
auf das Marketing bzw. die Werbung hat. Aufmerksamkeit ist ein Konstrukt, das die Be-
Neuronen auf diesen Reiz und die ursprüngliche Anhebung der Reaktion auf diesen
reitschaft eines Individuums beschreibt, Reize aus seiner Umwelt wahrzunehmen, die zur
Reiz nimmt wieder ab. Wenn ein neuer Reiz dazwischenkommt, wird das System wie-
Reizauswahl führt, um bei der Reizüberflutung relevante Reize aufzunehmen bzw. heraus-
der reaktiviert, so dass die Antworten wieder stärker werden.« (9)
zufiltern. Dabei werden im allgemeinen die starken Reize bevorzugt. Reize, die eine vorübergehende Aktivierung erzeugen, sind nach Gablers Wirtschaftslexikon:
Wenn man von der Handhabung der selektiven Aufmerksamkeit spricht, dann entsteht das
1. physisch intensive Reize (starke Farben, Gerüche, Töne, Lichteffekte)
Bild, als gäbe es im Gehirn gewissermaßen ein »Entscheidungszentrum«, das Aufmerksam-
2. kognitiv überraschende Reize, die gedankliche Konflikte durch Widersprüche und
keit steuert. Für Wolf Singer ist hierfür keine zentrale Instanz direkt verantwortlich.
Überraschungen ausüben (zum Beispiel lachende Gesichter auf einem Friedhof)
»Was als Steuerung erscheint, ist die Folge des Wettbewerbs einer Vielfalt von Pro-
3. emotionale Reize, sogenannte Schlüsselreize, die biologisch vorprogrammierte
grammen, die alle zum Zuge kommen wollen. Das jeweils Wahrscheinlichste oder der
Reaktionen auslösen und die Empfänger weitgehend automatisch erregen.
jeweils stärkste Reiz gewinnt dann auf Kosten aller anderen. Das erscheint dann so,
Zusätzlich können wiederholende Frequenztechniken Aufmerksamkeit erzeugen, denn je
als lege man die Aufmerksamkeit auf etwas oder entscheide sich für etwas. Es ist
öfter eine Werbung dargeboten wird, desto besser wird sie bemerkt und umgesetzt.
natürlich nicht so, dass es im Gehirn irgendein Zentrum gibt, das die Rollen verteilt.
Das Wechselspiel aller an der jeweiligen Gestaltung des Programms beteiligten Zentren
Aufmerksamkeit gibt es aber auch noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt - näm-
ist kompetitiv organisiert. Es gibt immer einen Gewinner.« (10)
lich in Form der gegenstandsbezogenen höflichen Geste, wenn man eine kleine Aufmerksamkeit - zum Beispiel in Form eines Präsents - jemandem übergibt und dem Gegenüber
Dass das Erzielen von Aufmerksamkeit von sehr starken, lauten und überraschenden Erre-
damit zeigt, »ich habe an dich gedacht« oder »du bist es mir wert, dass ich dir eine ge-
gungen abhängig ist, ist für den Neurowissenschaftler ebenfalls richtig.
wisse Aufmerksamkeit schenke«. Die Art, die diese Aufmerksamkeit umfassen kann, muss
»Das System wendet sich automatisch den Ereignissen zu, die zur höchsten Erregung
nicht nur einen Gegenstand einschließen, sondern kann auch in Form von geschenkter
führen. Das können Ereignisse sein, die den Erwartungswerten besonders gut entspre-
Zeit, Beachtung oder hilfsbereiter Unterstützung erfolgen.
chen oder die physikalisch einfach so stark sind, dass sie sich durch die starke Erregung durchsetzen. Dabei spielt der interne Zustand aber eine große Rolle, weil alle Er-
Interessant finde ich, dass hierzu im deutschen Steuerrecht auch eine Regelung getroffen
eignisse im Hinblick auf Verhaltensrelevanz oder die Bedürfnisse des Systems bewertet
wurde, welchen Wert eine solche Aufmerksamkeit besitzen darf:
werden. Wenn man hungrig ist, werden Duftreize, die ans Essen erinnern, sich sehr
(vgl. Gabler Wirtschaftslexikon)
viel besser durchsetzen als solche, die von neutralen Inhalten ausgehen.« (11)
»Sachzuwendungen von geringem Wert, die als [Aufmerksamkeit] gegeben werden,
z.B. Blumen oder Pralinen, gehören nicht zum steuerpflichtigen Arbeitslohn. Die [sogenannte] Nichtbeanstandungsgrenze für [Aufmerksamkeiten] beträgt 60 DM; bei
höheren Zuwendungen muss geprüft werden, ob es sich um eine bloße [Aufmerksamkeit] oder um ein steuerpflichtiges Geschenk handelt. [...]
[Aufmerksamkeiten sind:] Lieferungen und sonstige Leistungen eines Unternehmers
im Rahmen seines Unternehmens an seine Arbeitnehmer oder deren Angehörige aufgrund des Dienstverhältnisses, für die der Empfänger (Arbeitnehmer) kein besonders
(9, 10, 11) http://www.heise.de – Zur Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit.
24 25
definition
3.
Messbarkeit, »Gegenstände« und Ursachen von Aufmerksamkeit
berechnetes Entgelt aufwendet, sofern diese Leistung ohne rechtliche Verpflichtung
Nachdem ich vorausgehend sowohl dargelegt habe, dass es mehrere Begriffe und Arten
gewährt wird und nach ihrem Wert im Verhältnis zum Gesamtlohn des Arbeitnehmers
zur Unterscheidung der Aufmerksamkeit gibt, als auch darauf hinwies, dass sich Aufmerk-
nicht ins Gewicht fällt (z.B. Betriebskindergärten, betriebsärztliche Versorgung). Auf-
samkeit im Fall des »Aufmerksam-etwas-Tuns« in verschiedenen Handlungen und im Fall
merksamkeiten sind nicht umsatzsteuerbar. – Nicht der Lohnsteuer unterliegende Lei-
des »Aufmerksam-Seins« in verschiedenen Bewusstseinsvorgängen der Wahrnehmung aus-
stungen, Annehmlichkeiten oder solche innerhalb lohnsteuerlicher Freibeträge oder
drückt, stellen sich nun noch weitere grundlegende Fragen bezüglich des Themas »Auf-
Freigrenzen sind nichtumsatzsteuerbare Aufmerksamkeiten.« (12)
merksamkeit«:
1. Welche Indizien weisen darauf hin, dass eine aufmerksame Informationsverarbeitung abläuft und wie kann man den Grad der Aufmerksamkeit messen?
2. Welche Arten von Gegenständen können überhaupt Aufmerksamkeit erzeugen und
gibt es besondere, relevante Dinge, welche eine bevorzugte Beachtung erhalten?
3. Aufgrund dessen, dass man Aufmerksamkeit sowohl gezielt als auch unbewusst
manchen Gegenständen oder Ereignissen zuwenden kann, stellt sich die Frage, wodurch Aufmerksamkeit hervorgerufen wird und was die Ursache für die Entstehung ist!
(12) http://www.wissen.de Unter dem Suchpunkt »Aufmerksamkeit« aus dem Gabler Wirtschaftslexikon.
26 27
messbarkeit, »gegenstand«, ursache
3.1.
Wie kann man Aufmerksamkeit messen?
Erst wenn ein Mensch kein Bewusstsein mehr besitzt – also zwangsläufig keine Gehirn-
mann zur Zeit geschäftlich in Tokio arbeitet, wird das plötzliche Erdbeben in der japani-
ströme mehr messbar sind und man höchstens im Zustand des sogenannten Hirntodes sei-
schen Hauptstadt aus Sorge mit weitaus größerer Aufmerksamkeit verfolgen, als ein eher
ne organischen Funktionen für kurze Zeit noch aufrecht erhalten kann – liegt der Grad
unbeteiligter Verbraucher der Nachrichteninformation, welcher durch die Sensationslust
seiner Aufmerksamkeitsintensität bei Null. Befindet sich ein Lebewesen jedoch in einem
an den Bildschirm gefesselt ist. Man kann also »nur« von einer gemessenen kollektiven
komatösen Zustand (Koma oder Wachkoma) so ist aus medizinischer wie neurowissen-
Aufmerksamkeit sprechen, da lediglich »quantitative« anstatt »qualitative Quoten« fest-
schaftlicher Erkenntnis noch nicht endgültig geklärt, in welchem Umfang noch die Fähig-
gestellt bzw. gemessen werden können.
keit vorhanden ist, seine Umwelt in sein Bewusstsein aufzunehmen. Liegt aber der Regelfall vor, so heißt es noch lange nicht, dass ein lebendes Individuum, welches mit einem
Eine weitere Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu ermitteln, besteht durch gezielte Laborver-
normalen Bewusstsein lebt und ausgestattet ist, automatisch seine Aufmerksamkeit in
suche, bei denen versucht wird, bestimmte Signalmuster anhand der Fähigkeiten der Test-
gleicher Intensität spürt und einsetzten kann. Sie unterliegt einer großen Anzahl von di-
personen zu entschlüsseln. Mit der Registrierung der visuellen oder akustischen Zuwendung
rekten und indirekten Reizen der Umwelt, der eigenen Verfassung, der Beeinflussung von
bzw. der Blickregistrierung werden vor allem die Gegenstände der Aufmerksamkeitszuwen-
Seiten der Mitmenschen, so dass man im Fazit feststellen kann, das die Aufmerksamkeit
dung und damit selektive Aufmerksamkeit erhoben.
großen Schwankungen unterliegt. So ergibt sich die Frage, wie man effektiv das Vorhandensein und die Stärke der Aufmerksamkeit messen kann.
Im Rahmen neurophysiologischer und biopsychologischer Messmethoden wird versucht,
zentralnervöse und vegetative Funktionen zu erfassen, die als Ausdruck von Erregung gel-
Im alltäglichen Leben und im Umgang mit anderen misst man den Grad der Aufmerksam-
ten können. Beispiele hierfür sind die Messungen der Hirnströme durch Alpha- und Beta-
keit mehr oder weniger unbewusst und automatisch anhand des Verhaltens, der Gestik
wellen beim EEG, die Messung der Herzfrequenz durch das EKG oder die Messung des haut-
oder der Mimik unserer Mitmenschen. Ein achtsames Handeln oder auch Verhalten eines
galvanischen Widerstandes und des Blutdrucks. Der wichtigste Vorteil solcher
Gegenüber signalisiert gleichzeitig dessen aufmerksame Informationsaufnahme. Abschwei-
Messmethoden ist ihre große Genauigkeit, der Nachteil ist jedoch, dass nicht immer deut-
fende Blicke, unkonzentrierte Augen oder sogar unpassende Antworten zeugen bei einem
lich wird, welche psychologischen Konstrukte mit ihnen physiologisch erfasst werden.
Gespräch dahingegen von geringer Achtsamkeit und eher von Abwesenheit. Jedoch ist
diese Messmethode sehr ungenau, da Aufmerksamkeit auch durch absichtliches Vortäu-
Als letzte Methode der Aufmerksamkeitsmessung kann der Selbstreport bzw. Umfragedaten
schen bzw. künstliches Erzeugen relativ leicht beeinflussbar ist.
herangezogen werden. Sie sind relativ einfach zu erheben und sind ein beliebtes Mittel in
der Medienuntersuchung. Es gibt zwei Formen der Umfragemethode. Zum einen kommen
Auflagenhöhen und Einschaltquoten sind ebenfalls ein Maß an »geschenkter Aufmerksam-
sehr häufig generalisierende Einschätzungsfragen zur Anwendung, um nach dem Maß der
keit«. Der Leser, Hörer oder Zuschauer der zahlreichen Medien beweist, indem er sie ge-
Aufmerksamkeitszuwendung zu forschen, bei denen sich die Befragten in einem bestimm-
kauft oder sich angeschaut hat, dass er dem medialen Produkt zumindest sein Interesse
ten Zeitraum für bestimmte Medien oder bestimmte Ereignisse interessiert haben. Zum
zugewandt hat. In welchem Maße jeder einzelne seine Aufmerksamkeit einem neu publi-
anderen ist es auch üblich, Umfragewerte zu Befindlichkeiten zu erheben, die dann einen
zierten Thriller, der aktuellen Nachrichtensendung oder dem Radiointerview letztendlich
aktuellen Aufmerksamkeitsgrad ergeben. Grundsätzlich lässt sich anhand der Vielzahl an
wirklich gewidmet hat, bleibt aufgrund der »nackten« Verkaufsauflage bzw. gemessenen
Messmöglichkeiten jedoch resümieren, dass alle Methoden der Aufmerksamkeitserfassung
Zuschaueranzahl weiterhin im Unklaren. Welcher bzw. wie viele Konsumenten haben schließ-
auch gewisse Schwierigkeiten mit sich führen, da eine direkte oder genaue Messung kaum
lich wirklich mit voller Spannung das neue Horrorbuch gelesen oder haben es aus Lange-
erzielt werden kann. Sie ist entweder manipulierend vortäuschbar, lediglich quantitativ
weile nach ein paar Seiten wieder ins Bücherregal gestellt? Eine Zuschauerin, deren Ehe-
erhebbar oder technisch bedingt ungenau.
28 29
messbarkeit, »gegenstand«, ursache
3.2.
Welche »Gegenstände« erzeugen Aufmerksamkeit?
Wie ich schon festgestellt habe, ist Aufmerksamkeit sowohl selektiv als auch nur begrenzt
miere (im Internet surfe, einen Film anschaue, ein Buch lese) kann ich erstens auf
möglich. Im Alltag erleben wir ständig, dass wir auf diesen und jenen Gegenstand auf-
den Zeichenkomplex selbst aufmerksam sein, etwa indem ich ihn analysiere. [...]
merksam werden, auf ein plötzliches unerwartetes Ereignis reagieren, uns ein unverhofftes
Zweitens kann ich auf bezeichnete Gegenstände aufmerksam sein, die keine Gegen-
Geräusch aufschrecken lässt und sich somit unsere Aufmerksamkeit ständig auf verschie-
stände der Außenwelt sind [...], drittens auf Gegenstände der Außenwelt, die ich
dene Dinge und Erlebnisse verlagert. Dies kann, wie ich schon erörtert habe, sowohl ge-
nicht in direktem Kontakt wahrnehme [...].
zielt, willkürlich als auch unbewusst, unwillkürlich geschehen.
Diese Optionen können sich im Rezeptionsverlauf abwechseln und überlagern. Aufgrund dieser Möglichkeiten ist es zu einfach und ungenau, angesichts der wachsenden
Dabei stellt sich folgende Frage:
Medienrezeption »reale Welt« und »mediale Scheinwelt« als konkurrierende Gegen-
Welche Gegenstände sind überhaupt für jedes Individuum von so großem Interesse, dass
stände der Aufmerksamkeit einander gegenüberzustellen.« (13)
man seine Aufmerksamkeit darauf lenkt?
Eigentlich gibt es auf eine solche Frage nur eine einzige Antwort: ALLES.
3.3.
Durch welche Ursachen entsteht Aufmerksamkeit?
Das soll heißen, da unser ganzes Dasein durch ständiges aufmerksames Verhalten bestimmt wird, dass wir nicht nur konkreten Gegenständen unserer Außenwelt durch direkte
Wie aus meiner Definition im Vorfeld ersichtlich, gibt es zwei mögliche Formen der »Auf-
Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit schenken, sondern auch auf abstrakte Sachverhalte,
merksamkeitsausübung«. Man kann aufmerksam sein, um beispielsweise ein bestimmtes
wie zum Beispiel mathematischen Problemen oder fiktiven Figuren und Gegenständen, als
Ereignis zu verfolgen, zum anderen seine Aufmerksamkeit auf etwas lenken, um dies auf-
auch auf Sinnesvorgänge unserer »Innenwelt«, wie beispielsweise eigene Gedanken, Vor-
merksam zu bemerken oder eine Sache zu erfassen.
stellungen und Bewusstseinsvorgänge, aufmerksam sein können. Für den alltäglichen Umgang mit unseren Mitmenschen ist der Bereich der Aufmerksamkeitslenkung auf Personen
Durch welche Ursachen wird man aber zum zweiten Fall »verleitet«?
nicht nur ein sehr wichtiges Kriterium für die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern generell auch für das reibungslose menschliche Miteinader. Grundsätzlich ist außer-
Grundsätzlich kann man auf zwei Arten auf Gegebenheiten der Umwelt aufmerksam wer-
dem zu beachten, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht nur in der Gegenwart realen oder
den – durch Wahrnehmung und durch Denken. In der Medienkommunikation wird zumeist
abstrakten Dingen, Ereignissen, Bewusstseinsvorgängen sowie auch Personen widmen,
um die Aufmerksamkeit durch Wahrnehmung »gebuhlt« und hierzu immer unterschiedli-
sondern durch Erinnerung auch zurück in die Vergangenheit projezieren oder in die Zu-
chere und ausgefeilterte Strategien verwendet. Damit Gegenstände eine besondere Auf-
kunft blicken können.
merksamkeit erregen, sollen vorrangig deren Eigenschaften unser Interesse wecken. Deshalb werden insbesondere mediale Produkte nach undifferenten, strategischen
»Unter den Gegenständen der Außenwelt kann man unterscheiden zwischen Zeichen
Überlegungen entworfen und gestaltet und uns dann zur Wahrnehmung präsentiert.
(genauer: konkreten Zeichenvorkommnissen in Form von Texten, Fernsehbildern, Computersimulationen, Sprache) und allen Dingen, die nicht für etwas anderes stehen.
Die Eigenschaften, die eine aufmerksame Reaktion erzeugen, sollen vorrangig sehr stark
Die Wahrnehmung von Zeichen hat hinsichtlich der Aufmerksamkeitsgegenstände eine
unsere Sinne ansprechen. Dabei werden physisch intensive Reize – wie intensive Farbig-
Besonderheit: Ich kann auf dem Umweg über Zeichen auf etwas anderes aufmerksam
keit, schrille Geräusche, angenehme oder auch unangenehme Gerüche sowie unterschiedli-
sein, ohne auf die Zeichen selbst aufmerksam zu sein.
che Geschmacksrichtungen und verschiedene Temperaturen – besonders aufmerksam regis-
Folgende Möglichkeiten lassen sich unterscheiden: Wenn ich mediale Produkte konsu-
triert. Eigenschaften, welche die Gefühle und Empfindungen wie Schönheit, Liebe aber
(13) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 37)
30 31
messbarkeit, »gegenstand«, ursache
4.
Unterschiedliche Aufmerksamkeitsbegriffe bzw. -auffassungen
auch Ekel ansprechen, werden genauso wahrgenommen wie überraschende, neuartige, un-
Wie am Anfang meiner Begriffsbestimmung bereits erwähnt, ist das Thema der Aufmerk-
gewohnte oder räumliche Veränderungen von Gegenständen. Wie im Zusammenhang mit
samkeit als ein wichtiger Faktor im wirtschaftlichen und medialen Kommunikationssystem
dem Gabler Wirtschaftslexikon erwähnt, können überraschende Reize, die gedankliche
sehr neu und entsprechend aktuell. Mittlerweile ist das Schlagwort Aufmerksamkeit in die-
Konflikte durch Widersprüche und Überraschungen ausüben, oder emotionale Signale, die
sem Zusammenhang nicht mehr wegzudenken, es wurde zu einem fest etablierten Bestand-
biologisch vorprogrammierte Reaktionen erzeugen und den Wahrnehmenden weitgehend
teil dessen. Die fortschreitende Entwicklung unseres Medienkomplexes, insbesondere durch
von alleine erregen, ebenfalls die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zusätzlich können in-
die ansteigende Informationsflut, beispielsweise durch die bereits erfolgte »Alltagisierung«
tensive Wiederholungen Aufmerksamkeit erzeugen, denn je öfter etwas dargeboten wird,
des Fernsehens und dem nun in großen Schritten folgenden Internets, lassen zunehmend
desto besser bleibt es im Gedächtnis.
eine Ökonomie der Aufmerksamkeit in unser Bewusstsein rücken. Die Diskussion über die
Relevanz von Aufmerksamkeit in den Medien boomt, was unverkennbar an den zahlreichen
Die Auslösung von Aufmerksamkeit hängt aber nicht nur von dem Charakter der Gegenstän-
neuen Publikationen und Diskursbeiträgen zu dieser Thematik abzulesen ist. Denn auf was
de ab, sondern kommt ebenso auf den Wahrnehmenden an, denn die Ursache seiner Auf-
man in unsere heutigen medialen Gesellschaft auch aufmerksam ist, überall hat man den
merksamkeit liegt größtenteils auch in seinen Gedanken und seinem Handeln begründet:
Eindruck, als gehöre Aufmerksamkeit nun zum wichtigsten Faktor einer solchen Gesell-
»Man wendet Gegenständen die Aufmerksamkeit häufig bewusst zu, weil sie in ir-
schaft. Medienangebote, Werbung und Prominenz ziehen ihre wichtige Bedeutung aus der
gendeiner Weise wichtig oder angenehm sind. Die Zuwendung von Aufmerksamkeit
ihnen entgegengebrachten Aufmerksamkeit.
lässt sich planen, z.B. mit Hilfe von Programmzeitschriften, die Aufmerksamkeit auf
einen Fernsehfilm lenken. Neben solcher bewusster und freiwilliger Aufmerksamkeit
Wissenschaftler wie Jonathan Crary, Florian Rötzer und Georg Franck diskutieren heutzuta-
gibt es auch unfreiwillige. Erstens die unwillkürliche Aufmerksamkeit – bei plötzlichen
ge in zahlreichen Zeitschriften, Fachbüchern und vermehrt im neuen Massenmedium Inter-
lauten Geräuschen oder Lichtblitzen kann man nicht anders, als ihrer Quelle die Auf-
net über die Rolle, den Stellenwert und die Bedeutung von Aufmerksamkeit in unserer
merksamkeit zuzuwenden. Und zweitens kann Aufmerksamkeit auch erzwungen wer-
heutigen Gesellschaft. Aktuelle mediale Entwicklungen, vorallem im Fernsehen und Inter-
den: Unter Androhung von Sanktionen müssen Sträflinge auf die Arbeit, Schulkinder
net anhand neuartiger TV-Formate oder neuer Formen der Werbung, werden untersucht
auf den Lehrstoff aufmerksam sein.« (14)
und immer wieder tritt die Aufmerksamkeit als entscheidender roter Faden in den Argumentationen der Autoren auf.
Jonathan Crary, amerikanischer Kunsthistoriker und Professor an der Columbia University
in New York, analysiert unter dem Gesichtspunkt der achtsamen Beobachtung das Phänomen der Aufmerksamkeit und betrachtet dieses Thema hauptsächlich aus kunsthistorischer
Sicht. Beziehen werde ich mich vorrangig auf seine zweite Publikation »Aufmerksamkeit«.
Florian Rötzer, der vorrangig das Thema Aufmerksamkeit in zahlreichen Beiträgen über das
Internet thematisiert und diskutiert, nimmt die Medien als »soziale Aufmerksamkeitssysteme« unter die Lupe und stellt dabei fest, dass Aufmerksamkeit vom menschlichen Individuum auf computergesteuerte Systeme übergehen kann sowie dass Öffentlichkeit auf
Aufmerksamkeit basiert.
(14) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 41)
32 33
»In den gegenwärtigen Debatten der Kultur-, Medien- und Geschichtswissenschaft
spielt die Wahrnehmungstheorie eine entscheidende Rolle: Sie leistet die Verbindung
zwischen einer Theorie der Bildmedien und des Betrachters, zwischen einer UntersuGeorg Franck, seit 1994 Professor für EDV-gestützte Methoden in Architektur und Raum-
chung der physiologischen und psychologischen Voraussetzungen und einer Kulturge-
planung an der Technischen Universität Wien, vertritt die Auffassung, dass Aufmerksam-
schichte der Wahrnehmung. Jonathan Crarys neues Buch gibt den Diskussionen eine
keit wirtschaftlich gesehen als Produktionsfaktor und als »neues Einkommen« wichtiger
überraschende Wendung, indem es den Begriff der Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt
als Geld und materielle Güter werden könnte und beschreibt daher den Umgang mit der
rückt. Die Aufmerksamkeit, das heißt die Art und Weise, in der wir etwas bewusst
Aufmerksamkeit nach dem Modell der Geldökonomie.
wahrnehmen, ist das Ergebnis von radikalen Veränderungen der Wahrnehmung selbst,
deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Hier setzte eine
Im folgenden möchte ich exemplarisch anhand dieser drei genannten Medienwissen-
Modernisierung des Blicks ein, die mit einer Industrialisierung und massenweisen Ver-
schaftler deren unterschiedliche Aufmerksamkeitsbegriffe und -auffassungen näher vor-
breitung der visuellen Medien Hand in Hand geht. [...]« (15)
stellen und erläutern.
Jonathan Crary (Klappentext)
4.1.
Jonathan Crary: »Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und moderne Kultur«
Jonathan Crary ist amerikanischer Kunsthistoriker und Professor an der Columbia University in New York. In seinen beiden Veröffentlichungen »Techniken des Betrachtens« und
»Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und moderne Kultur« beschäftigt er sich ganz knapp
umschrieben mit der Geschichte des Blicks. Zusammenfassend zu seinem ersten Buch kann
man sagen, dass nach ihm das menschliche Sehen geprägt sei durch soziale, technologische und kulturelle Bedingungen. Eine Veränderung dieser Bedingungen führe dadurch
umgehend auch zu einer Veränderung der menschlichen Wahrnehmung.
Ich werde im folgenden auf sein 2. Buch »Aufmerksamkeit - Wahrnehmung und moderne
Kultur«, das 1999 auf Englisch veröffentlich wurde, näher eingehen. Wie der Titel schon
verrät, geht es unter dem Gesichtspunkt der Beobachtung um das spezielle, nicht sichtbare Phänomen der Aufmerksamkeit. Als Kunsthistoriker betrachtet er dieses Thema
hauptsächlich aus kunsthistorischer Sicht, und zwar in dem knappen Zeitraum der letzten
drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Er geht dabei exemplarsich vor, nämlich durch Bildanalysen dreier Kunstwerke der modernen Maler Manet, Seurat und Cézanne. Jonathan Crary beginnt mit seinen Betrachtungen also dort, wo ein modernes Interesse an der Aufmerksamkeit entstand – und zwar vor ca 150 Jahren. Die Kulturgeschichte der
Wahrnehmung, die Jonathan Crary mit diesem Buch versucht aufzuzeigen, soll ergründen,
welche Rolle die Aufmerksamkeit beim Entstehen der modernen Subjektivität gespielt hat.
(15) Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. (Klappentext)
34 35
jonathan crary
Er analysiert daraufhin naturwissenschaftliche Forschungen und Experimente der »Psycho-
»In diesem Buch wird also versucht, einige Umrisse einer Genealogie der Aufmerksam-
physik« sowie eine Menge von Theorien aus Philosophie, Psychologie, Soziologie und
keit seit dem neunzehnten Jahrhundert nachzuzeichnen und ihre Rolle bei der Moder-
Ästhetik, um
nisierung der Subjektivität genauer zu fassen. Ich untersuche, konkreter gesagt, wie
»die Art und Weise, wie wir absichtlich auf etwas hören, auf etwas blicken oder uns
parallel zum Aufkommen neuer technologischer Formen von Spektakel, Schaustellung,
auf etwas konzentrieren« (16)
Bildprojektion, Attraktion und Registrierung auch die Vorstellungen von Wahrneh-
in einem historischen Kontext zu beschreiben und zu zeigen, wie die Moderne von den
mung und Aufmerksamkeit transformiert wurden.« (19)
Menschen verlangt hat, sich
»im Sinne eines Vermögens der Aufmerksamkeit zu definieren und zu formen - wie sie
Crary rückt die Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt seiner Wahrnehmungstheorie. Er hat
verlangt, sich aus einem umfassenderen Feld visueller oder akustischer Attraktionen
dabei immer zum einen die sozialen und ökonomischen Verschiebungen und zum anderen
zurückzuziehen und sich statt dessen auf eine begrenzte Anzahl isolierter Reize zu
sowohl die neue visuelle und akustische Kultur als auch die Modelle der Philosophie und
konzentrieren.« (17)
Kunst im Blickfeld. So sollen die sozialen, philosophischen und ästhetischen Probleme jener Jahre und in ihrer Auswirkung auf die späteren Entwicklungen interpretierbar werden.
Nach Jonathan Crary`s Definition ist
Er stellt fest, dass sich das Bild, das man sich wissenschaftlich von der Wahrnehmung ge-
»Aufmerksamkeit das Vermögen, sich auf bestimmte Gegenstände innerlicher oder
macht hat, grundlegend gewandelt hat: vom Glauben an die Objektivität der Phänomene
äußerlicher Natur unter Ausblendung anderer gleichzeitig vorhandener Dinge auszu-
schwenkte das Interesse um auf das wahrnehmende Subjekt in seiner ganzen physiologi-
richten – Aufmerksamkeit ist ein selektiver Vorgang.«
6
Crary diagnostiziert eine seit etwa 1870 permanente Krise der Aufmerksamkeit und zeigt,
schen Körperhaftigkeit. Zum zentralen Problem wird die Frage nach der Steuerbarkeit von
Aufmerksamkeit.
wie die damaligen Zeitgenossen versuchten, sich den Anforderungen anzupassen oder sich
derer zu entziehen, vor die sie gestellt waren. Ein Kapitalismus, der mit der
Um Jonathan Crarys theoretische Ansichten näher zu erläutern, beziehe ich mich zusätz-
»endlosen Abfolge von neuen Produkten, Reizquellen und Informationsströmen Auf-
lich auf ein Interview mit Jonathan Crary, dass von Tilmann Baumgärtel 1996 mit ihm ge-
merksamkeit und Zerstreuung ständig über neue Grenzen und Schwellen zwingt,
führt wurde, bevor sein zweites Buch »Aufmerksamkeit« veröffentlicht wurde:
bringt eben auch Menschen hervor, die sich dagegen mehr oder weniger kunstvoll
»Der Mensch ist ständig gezwungen, sich permanent an neue technologische und so-
sträuben, dabei auch mehr oder weniger nervös und unglücklich werden.« (18)
ziale Bedingungen der Wahrnehmung und des Sehens anzupassen.« (20)
Er hat einen historischen Abriss einer grundlegenden Wandlung in unserer Wahrnehmung
Dass Moderne und eine gewisse Unaufmerksamkeit zusammengehören, widerspricht Jonat-
vom 19. zum 20. Jahrhundert ge- und beschrieben. Es ist eine Geschichte der modernen
han Crary heftigst. Nach ihm läge eine gewisse Zerstreutheit vielmehr am angehenden Ka-
Zerstreuung. An die Stelle der traditionell breitgefächerten Aufmerksamkeit tritt die iso-
pitalismus, der dafür sorgt, dass die Wahrnehmung durch die Methode des Hin- und Her-
lierte Aufmerksamkeit. Dies hat elementare Folgen für die menschliche Subjektivität und
schaltens bedingt sei. Das Subjekt kann nur noch aufmerksam in seiner Umgebung durch
ihre Desintegration. Sein Anliegen besteht darin zu zeigen, dass die moderne Zerstreuung
eine gewisse Zerstreutheit funktionieren, da es eben einem ständigen »Overkill« an neu-
kein linearer Vorgang ist. Vielmehr stehe sie in engem Zusammenhang mit anderen Normen
en, äußeren Reizen ausgesetzt ist. Man habe am Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt,
und Praktiken. Ihn interessieren die Überschneidungen zwischen der konzentrierten Auf-
dass es Grenzen der Aufmerksamkeit gibt, man könne sich nur eine gewisse Zeit auf etwas
merksamkeit im sich neu formenden Gesellschaftsleben, etwa im Zeichen des Massenkon-
Besonderes konzentrieren, danach wird man automatisch unkonzentriert, unaufmerksam
sums, und die Aufmerksamkeit, wie sie in den kreativen Prozessen der Kunst sichtbar wird:
und abgelenkt. Er bezieht sich auf das Beispiel eines Fliesbandarbeiters, der mit der Zeit
(16, 17, 18) Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. (Seite 13)
(19) Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. (Seite 14)
(20) http://www.amsterdam.nettime.org – Sehen in der kapitalistischen Moderne.
36 37
jonathan crary
in seiner Tätigkeit automatisch unkonzentriert wird und somit in »Tagträume« abtriftet.
Auf die Frage, ob er glaube, dass sich unsere Wahrnehmung durch die ununterbrochene
Er sieht mediale Zeitgenossen wie Bill Gates an diesem historischen Projekt der ständigen
Interaktion mit virtuellen Simulationen verändern würde, antwortet er:
Rationalisierung und Modernisierung der Wahrnehmung, und somit auch der Aufmerksam-
»[...] Ich glaube schon, dass sich durch diese neuen Technologien die Textur unseres
keit, weiter arbeiten.
Alltagslebens ändern wird. Wir werden uns zwar immer noch während des größten
Teils unseres Lebens im wirklichen, euklidischen Raum bewegen, also zum Beispiel in
Dann geht Jonathan Crary während des Interviews darauf ein, wie sich die moderne Auf-
Wohnungen [...] Aber was sich ändern wird, ist die Abruptheit, mit der man von einer
merksamkeit unserer unmittelbaren Gegenwart verändert bzw. geprägt hat:
subjektiven Zone zu einer anderen springt. Das Alltagsleben wird so eine Art Patch-
»In der westlichen Hemisphäre verbringen wir immer mehr Zeit in einem Interface mit
work sein aus alten, »natürlichen« Wahrnehmungsräumen und den neuen, technolo-
einer Maschine, mit der wir durch eine Tastatur und einen Monitor verbunden sind.
gischen Gebieten, in denen ganz andere Raumerfahrungen möglich sind.« (23)
Das ist ein Zustand aufmerksamer, konzentrierter Demobilisierung des Körpers. Die
meisten Leute haben dieses Interface und die ungeteilte Aufmerksamkeit, die es verlangt, schon vollkommen akzeptiert. Was mich interessiert ist die Frage: Was ist historisch geschehen, dass wir dieses Interface völlig als alles durchdringendes Modell für
kreative und produktive Arbeit angenommen haben? Was für eine Rolle spielt Langeweile in diesem Zusammenhang? Gibt es ein modernes Gegenstück zu der »Träumerei«
der Romantiker des 19. Jahrhunderts? Denn ich glaube nicht, dass diese Mensch-Maschinen-Beziehung zwischen uns und dem Computer jemals vollkommen rationalisiert
und produktiv gemacht werden kann.« (21)
Jonathan Crary möchte die neuen Formen der Technologiekommunikation - wie zum Beispiel das globale Internet - nicht als das Allheilmittel hinnehmen - auch wenn er sich dadurch der Kritik, technologiefeindlich zu sein, aussetzt. Er kritisiert die Behauptungen,
ein gesellschaftlicher Fortschritt ginge nur einher mit mehr Information und mehr Kommunikation:
»Dabei müsste eigentlich auch dem oberflächlichen Betrachter auffallen, dass das absurd ist. Die meisten von uns leben heute in einer so entfremdeten sozialen Situation,
dass wir nicht mal mit den Leuten von nebenan reden. Was sollen daran noch mehr
Faxmaschinen oder Email ändern? Das ist doch nur eine Eskalation des Konsums und
nicht eine Verbesserung von sozialer Interaktion.« (22)
(21, 22) http://www.amsterdam.nettime.org – Sehen in der kapitalistischen Moderne.
38 39
(23) http://www.amsterdam.nettime.org – Sehen in der kapitalistischen Moderne.
jonathan crary
»Wer nicht wahrgenommen wird, den gibt es nicht. Das ist das Gesetz einer Gesellschaft, die von Medien regiert wird. Denn nur das, was sich in ihnen befindet, tritt in
die äußere Wirklichkeit einer räumlich verstreuten, translokalen Gemeinschaft. Obgleich Aufmerksamkeit die primäre Ressource der Informationsgesellschaft ist und er-
Aufmerksamkeit ist gewissermaßen die interne Öffentlichkeit eines Organismus. Un-
hebliche Anstrengungen darauf gerichtet werden, Aufmerksamkeit hervorzurufen, wird
terhalb ihrer kann eine Menge »automatisch« vom »Betriebssystem« der neuronalen
ihr erstaunlich wenig Aufmerksamkeit in der Reflexion gewidmet – ein blinder Fleck?«
Verschaltung und chemischen Transmitterstoffen für großflächiger induzierte Zustände
prozessiert werden. Wo es aber um neue Situationen geht oder überhaupt etwas auf
Florian Rötzer
höheren Stufen wahrgenommen wird, setzt Aufmerksamkeit ein. Durch bestimmte Reize wird ein sogenanntes unwillkürliches Orientierungsverhalten ausgelöst, das bei anhaltender Irritation, mithin Abweichung vom Vertrauten und bereits Gespeichertem,
zu Aufmerksamkeit führen kann. Auch wenn die selektive Aufmerksamkeit eine Art
Flaschenhals darstellt, der sich ganz offensichtlich durch eine geringe und relativ
langsame Verarbeitungskapazität auszeichnet, geht man doch heute davon aus, dass
4.2.
Florian Rötzer – Aufmerksamkeit als selektive Informationsverarbeitung
es verschiedene Formen der Aufmerksamkeit und vor allem verschiedene Aufmerksamkeitssysteme zu geben scheint. Sie ringen jeweils um einen Platz in einem übergeord-
Florian Rötzer versteht unter Aufmerksamkeit eine funktionalistische Bedeutung, die er in
neten Fenster der Aufmerksamkeit, das mehr oder weniger lange offenbleiben kann,
mehreren Aufsätzen aus dem Jahre 1996 folgendermaßen beschreibt:
sofern hinreichend Neues geboten und andere Reize nicht stärker sind. Andererseits
werden Signale, die in verschiedenen Arealen des Gehirns verarbeitet werden, an de-
»Aufmerksamkeit ist zunächst eine Eigenschaft eines kognitiven Systems, das [...]
nen visuelle, auditive oder andere sensorische bzw. körpereigene Information ankom-
Kraft der Selektion von egoistischen Genen für deren Überlebensmaschinen ab einem
men, verstärkt, wenn man auf die Reize achtet.
hinreichenden Komplexitätsgrad der internen Struktur entwickelt wurde, um vermutlich eine Selektionsinstanz für die wachsenden Wahrnehmungs- und Handlungsoptio-
Auf bestimmte Veränderungen in der Umwelt reagieren oder sich bestimmten Dingen
nen und einen für das Lernen notwendigen Mechanismus zu bieten. Ähnlich wie man
unter Absehung von anderen zuwenden zu können, ist zweifellos für jedes Lebewesen
einst vom autonomen Individuum mit seinem Willen und seinem Bewusstsein sprach,
ein Mittel des Überlebens. Als soziales Wesen, das aus den genetischen Banden der
glaubte man zunächst auch, dass es in jedem Organismus eine zentrale Instanz der
Familie oder Sippe ausgebrochen ist, ist der Mensch unter normalen Bedingungen und
Aufmerksamkeit gibt, die einen Filter für eintreffende Reize aus dem Organismus
meist auch in extremen Situationen verwoben in Aufmerksamkeitsnetze. [...] Daher
selbst oder aus einer Umwelt darstellt und die andererseits wie ein Scheinwerfer et-
lässt sich sagen: Was nicht in die Aufmerksamkeit fällt oder gefallen ist, gibt es
was durch Fokussierung aus der Umgebung der wahrnehmbaren Reize herauszuheben
nicht, weil es weder wahrgenommen noch erinnert oder bewusst wird. Breite Aufmerk-
vermag.
samkeit ist daher nicht umsonst auch das maßgebliche Kriterium dafür, ob etwas im
Markt der Medien, also in der Öffentlichkeit ankommt.« (24)
Dieses Bild hat sich heute gewandelt. Im Gehirn hat man keine zentralen und übergeordneten Instanzen gefunden. Man geht von einem massiv parallel verarbeitenden,
auf vielfältige Weise vernetzten System von vielen Neuronenverbänden mit jeweils
spezifischen Verarbeitungsmodi aus, die auch intern verschiedene, miteinander konkurrierende Versionen etwa eines Wahrnehmungsinhaltes produzieren, deren Auswahl
durch noch unbekannte Selektionsmechanismen geschieht.
(24) http://www.heise.de – Florian Rötzer: Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit.
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florian rötzer
Rötzer vertritt grundlegend die These, dass unter Aufmerksamkeit eine selektive Informa-
»So wie ein Bewegungsmelder Bewegung registriert, registriert ein »virtueller Agent«
tionsaufnahme und -verarbeitung zu verstehen ist. Für ihn handelt es sich also um die
bestimmte Datenkomplexe – ein rein technischer Vorgang. Wenn Rötzer virtuelle
rein zielgerichtete, fokussierte Aufnahme und Verarbeitung von Informationen durch Beo-
Agenten »aufmerksam« nennen will, müsste er auch Fieberthermometer und Tankan-
bachten der uns allumgebenden Umweltreize. Dabei geht er soweit, dass er auch bewusst-
zeigen als aufmerksam bezeichnen. Hier offenbart sich die absurde Konsequenz einer
seinslosen Gegenständen eine Art Aufmerksamkeitsvermögen zuspricht, indem er Aufmerk-
[solchen Argumentation, denn] wenn man wie Rötzer [...] behauptet, die Aufmerk-
samkeit in drei Formen unterscheidet,
samkeit gehe vom Menschen auf »Computersysteme« über, vermischt man eine wörtli-
»die sich gleichwohl immer vermischen werden: die Aufmerksamkeit des einzelnen
che Bedeutung des Terminus »Aufmerksamkeit« mit einer metaphorisch-personifizier-
Menschen, [...], die kollektive Aufmerksamkeit von gesellschaftlichen Gruppen oder
enden. Rötzer aufregend klingende, doch falsche Behauptung suggeriert ein
ganzen Gesellschaften, [...] und vielleicht noch jene Aufmerksamkeit, die man all-
umheimliches Science-Fiction-Bild von Computern, die [...] Bewusstsein haben und
mählich technisch zu realisieren sucht, beispielsweise durch virtuelle Agenten.« (25)
den Menschen einen Teil des ihren abnehmen. Was aber in Wirklichkeit vom Menschen
auf den Computer übergeht, ist allenfalls die Arbeit der Selektion von Datenkomple-
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich ausschließlich mit der individuellen Aufmerksam-
xen (und dies zwangsläufig nur teilweise, denn der Mensch muss die ausgewählten
keit auseinandergesetzt, da, wie bereits angedeutet, die eigentlich zentrale Bedeutung
Informationen noch einmal selektieren). Hier liegt die einzige Analogie, auf der die
von Aufmerksamkeit mit dem individuellen Bewusstsein sehr eng verknüpft ist. Florian
Metapher basiert.« (27)
Rötzer geht nun aber ein wenig weiter, indem er auch kollektiven Gegebenheiten wie der
Gesellschaft, der Öffentlichkeit oder den Medien ein aufmerksames Verhalten zuschreibt.
Schließlich stellt Florian Rötzer die folgerichtige These auf, Öffentlichkeit basiere grund-
Dabei ist aber zu beachten, dass, nach Jens Eder, hinter einer solchen Auffassung von
sätzlich auf Aufmerksamkeit. Er geht sogar dabei soweit zu behaupten, dass Gegenstände,
Aufmerksamkeit letztendlich immer wieder auch eine individuelle Ebene zu Grunde liegt.
Ereignisse oder Individuen ihr Profil, ja ihre eigentliche Realität erst dann erhalten, wenn
sie im Blickfeld einer öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.
»Wenn man Kollektiven [...] Aufmerksamkeit zuschreibt, handelt es sich um davon
»Aufmerksamkeit ist mithin eine übergreifende, wenn auch letztlich an Individuen
abgeleitete Formulierungen, um elliptische Ausdrucksweisen oder personifizierende
gebundene Ressource, die, verstärkt und verallgemeinert durch Medien, jede Gesell-
Metaphern. [...]
schaft reguliert und zusammenhält. Das ist um so mehr der Fall, je stärker deren post-
Wenn man sagt, dass die Medien auf einen Skandal aufmerksam wurden, meint man,
industrieller Charakter ausgeprägt ist, desto mehr sie also auf Erfassung, Verarbeitung
dass bestimmte Journalisten auf ihn aufmerksam wurden und dass der Skandal zum
und Herausgabe von Information basiert. Aufmerksamkeit ist natürlich auch die Grund-
Thema von Nachrichten wurde. Wenn man sagt, dass die Gesellschaft auf Missstände
lage für die Warenproduktion in einer Gesellschaft, in der mehr als das Notwendige
aufmerksam wurde, steht dies verkürzend dafür, dass die Missstände im Bewusstsein
zur Verfügung steht, in der es einen Markt und daher auch Optionen gibt. Wenn die
einer Mehrzahl von Gesellschaftsmitgliedern eine Rolle spielen.« (26)
Möglichkeit der Entscheidung gegeben ist, geht es auch um die Präsentation, also um
das Ansprechen der Aufmerksamkeit oder um die »Prominenz« einer Ware, die sich
In einem dritten Schritt, verwendet Florian Rötzer jedoch den Begriff der Aufmerksamkeit
dann erst in klingende Münze umsetzen läßt. Jedes Medium buhlt um Aufmerksam-
auch im Zusammenhang mit technischen, unbelebten Gegenständen und spricht diesen
keit, sucht diese auf sich zu lenken und aufrechtzuerhalten. Was am meisten Auf-
somit, wenn sie aufmerksam seien und sich verhalten können, zwangsläufig auch ein Be-
merksamkeit auf sich zieht, egal ob dies wiederum ein Medium, ein Mensch, ein Er-
wusstsein zu. In diesem Zusammenhang stellt Jens Eder folgerichtig fest:
eignis oder ein Gegenstand ist, ist auch am meisten wert oder wird am besten
verkauft.« (28)
(25) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 22)
(27) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 22f.)
(26) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 22)
(28) http://www.heise.de – Florian Rötzer: Aufmerksamkeit. Der Rohstoff der Informationsgesellschaft.
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florian rötzer
»Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr
Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht,
4.3.1. Der Grundgedanke der Aufmerksamkeitsökonomie
darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz.«
Georg Franck
Die Grundzüge einer solchen Aufmerksamkeitsökonomie sind für Georg Franck vor dem
Hintergrund einer Gesellschaft zu sehen, deren Wirklichkeit in einer digitalen Medienwelt
stattfindet, geprägt von nahezu unbegrenztem Zugang zu Informationen und enorm vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung oder Nicht-Nutzung von Nachrichten-, Unterhaltungsoder Werbungsangeboten. In der Massenökonomie einer solchen Informationsgesellschaft
ist es die Regel, dass das Angebot keiner zielgerichteten Nachfrage folgt. Das herkömmliche Marktgesetz, dass Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, wird mehr und mehr
über den Haufen geworfen. In manchen Bereichen der Wirtschaft, vornehmlich in der Medienbranche, wird von Seiten der Nachfrager teilweise gar nicht mehr bezahlt. Das Privatfernsehen verkauft seine Medienangebote nicht an die Rezipienten, sondern finanziert
4.3.
Georg Franck: »Ökonomie der Aufmerksamkeit«
sich über Werbung. Im Internet fließt, wenn überhaupt, nur noch Geld als Symbolwert.
Der 1946 geborene Medienwissenschaftler und promovierte Ökonom Georg Franck beschäf-
Warum kann Internet und Privatfernsehen funktionieren? Warum werden in diesen Bran-
tigt sich seit einiger Zeit mit der spannenden Beziehung zwischen Aufmerksamkeit, Kom-
chen sogar gewaltige Gewinne produziert? Weil es Massenmedien sind, die eine enorme
munikation, Kultur und Ökonomie. Deswegen möchte ich mich im folgenden mit seiner
Menge Aufmerksamkeit binden. Privatfernsehen und Internet verkaufen die Dienstleistung
Auffassung von Aufmerksamkeit und insbesondere mit seiner Theorie einer »Wirtschaft-
der Aufmerksamkeitsbindung an Werbefirmen. Zum einen entstehen durch die immense
lichkeit von Aufmerksamkeit« näher auseinander setzten und mich in diesem Zusammen-
Informationsproduktion heutzutage immer zahlreichere Möglichkeiten, auf die jeder Ein-
hang sowohl auf die 1998 erschienene Publikation »Ökonomie der Aufmerksamkeit – ein
zelne seine Aufmerksamkeit verteilen kann. Zum anderen ist die Menge an Aufmerksam-
Entwurf« als auch auf den Essay gleichen Titels beziehen, der bereits fünf Jahre zuvor in
keit eines Individuums, im Gegensatz zur Geldmenge, wie ich bereits angeführt habe,
einer Aufsatzsammlung der Zeitschrift »Merkur« veröffentlicht wurde.
nicht vermehrbar, sondern sozusagen quantitativ und auch »organisch« begrenzt.
»Ökonomische Begriffe und Modelle bestimmen seit Jahren das Bild der sozialen und
Nur derjenige Kommunikator, der es schafft, diese chronisch knappe Ressource Aufmerk-
politischen Verhältnisse unserer Gesellschaft. Georg Franck beschreibt [mit] diesem
samkeit auf sich zu lenken, erhält überhaupt die Möglichkeit, beachtet und wahrgenom-
Buch eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die neben der vertrauten Ökonomie des Gel-
men zu werden. Dies alles hat zur Folge, dass der Kampf um Aufmerksamkeit zunehmend
des existiert und mit ihr konkurriert. Immer schwieriger wird die Entscheidung, wie
härter wird und in das Zentrum allen wirtschaftlichen Tuns und Handelns rückt, ganz be-
wir unsere Aufmerksamkeit investieren sollen, immer komplizierter die Kunst, die ge-
sonders im, von der Werbung finanzierten Mediensystem. Je höher das Einkommen an
wünschte Aufmerksamkeit bei anderen zu wecken. Aufmerksamkeit ist eine knappe
Aufmerksamkeit, desto größer die Chance auf materielles Einkommen, Ruhm und Promi-
Ressource und begehrte Form des Einkommens. Sie lässt sich nicht beliebig vermeh-
nenz. Auf der anderen Seite sind Informationen und Angebote, die keine Aufmerksamkeit
ren. Intelligent ist daher nur, wer klug mit ihr umgeht. Noch stärker als beim Umgang
erhalten, wertlos, denn mit ihnen kann man nichts verdienen. Aufmerksamkeit ist also das
mit Geld sind bei der Spekulation mit Aufmerksamkeit soziale Konsequenzen zu be-
Gut, das es vor allem anderen zu verdienen gilt.
denken. Deshalb beschließt Georg Franck seinen Entwurf mit dem Grundriss einer
Ethik der Aufmerksamkeit.« (29)
(29) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Klappentext)
44 45
georg franck
4.3.2. Was ist nach Georg Franck »Aufmerksamkeit«?
»Was ist da, wenn wir aufmerksam da sind? Die Welt, wie wir sie subjektiv erleben.
samkeit für das eigene »Dasein« ist gekoppelt an die Aufmerksamkeit für die Umwelt.
Was ist das aufmerksame Dasein [...]? Die Präsenz des erlebenden Bewusstseins.«
Daraus folgt für Franck, dass das jeweilige Bewusstseinssystem so stark an die soziale
Umwelt gebunden ist, die durch die anderen Bewusstseinssysteme konstruiert wird,
Georg Franck unterteilt – im Gegensatz zu Florian Rötzer – den Begriff der Aufmerksamkeit
dass auch das eigene Dasein überhaupt erst möglich wird durch die Vermutung, eben-
im Englischen in zwei Formen:
falls als Bewusstseinssystem, beseeltes Wesen – oder schlichter – als Mensch in der
»Das deutsche Wort »Aufmerksamkeit« zieht zusammen, was im Englischen als
Vorstellung der anderen einen Platz einzunehmen und dort, um mit Franck zu spre-
»awareness« und »attention« auseinandergehalten ist. »Awareness« ist der Zustand
chen, eine Rolle zu spielen. Die Zuspitzung dieser These verdeutlicht seine Sicht auf
der wachen Achtsamkeit, »attention« das gezielte Achtgeben.
die Wissenschaft, wenn er die Rationalität des Forschungsbetriebs als einen – durch-
»Awareness« meint den intransitiven Zustand des Daseins, in dem überhaupt ein Mer-
aus funktionalen – »Kampf um Aufmerksamkeit« beschreibt« (31)
ken, Spüren, Empfinden da ist und nicht vielmehr nichts. [...] »Awareness« wird [...]
auch in dem Sinn gebraucht, dass die Bereitschaft zur Zuwendung besteht und ein
Hintergrundwissen zur Sache aktiv ist. [...]
4.3.3. Aufmerksamkeit und Ökonomie
»Attention« ist [hingegen wie bei Florian Rötzer] so klar auf das zielend gerichtete,
den Gegenstand fokussierende und ihn heraushebende Achtgeben beschränkt, dass
Georg Franck unterscheidet, aufgrund seiner beschriebenen Zweiteilung von Aufmerksam-
man das Wort sachlich korrekt mit selektiver Aufnahme und zielgerichteter Verarbei-
keit als Prozess innerer und äußerer Vorgänge, eine makro- und eine mikroökonomische
tung von Information übersetzen könnte.« (30)
Ebene der medialen Aufmerksamkeitskonstruktion.
Damit lässt sich feststellen, dass Aufmerksamkeit nach Francks Definition sowohl die Be-
»Wir leben im Informationszeitalter und merken es daran, dass wir uns vor Informa-
deutung eines kontemplativen Bewusstseinszustandes als auch eines neutralen Wahrneh-
tionen nicht mehr retten können. Nicht der überwältigende Nutzen der Information,
mungsprozesses hat. Für ihn sind jedoch die vollständigen Voraussetzungen, dass Aufmerk-
sondern ihre nicht mehr zu bewältigende Flut charakterisiert die Epoche. Wir sind ei-
samkeit überhaupt erfolgen kann, nur dann gegeben, wenn beide Bedeutungen von
nem immer gewaltiger anwachsenden Schwall von Reizen ausgesetzt, die eigens dazu
»awareness« und »attention« gleichermaßen erfüllt sind. Aufmerksamkeit soll somit ein
hergerichtet sind, unsere Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen. Information ist
Vorgang sein, bei dem die gezielte, aktive Informationsaufnahme und -verarbeitung über
nichts Festes und Fertiges, sondern der Neuigkeitswert, den wir aus Reizen ziehen.
einen bestimmten Gegenstand mit achtsamer Wachheit als Voraussetzung für Selektion,
Das Besondere an den Reizen, die auf unsere Aufmerksamkeit angesetzt sind, ist,
Rezeption und Wahrnehmung zusammen erfolgt. Aufmerksamkeit nur unter dem Begriff
dass ihr Neuigkeitswert bewusste Zuwendungen erheischt.« (32)
der »attention« verstanden, würde laut Franck nicht funktionieren, weil ein achtsames
Verhalten immer ein Bewusstsein, und somit »awareness« voraussetzt. In diesem Punkt
Ein zunehmendes Angebot und die damit verbundene Überreizung an Kommunikationsme-
unterscheidet sich Franck deutlich von den Ansichten Rötzers, indem er aufgrund seiner
dien ist also vorrangig der Grund, der zu der heutigen vorliegenden Informationsgesell-
Argumentation Maschinen die Fähigkeit abschlägt, aufmerksam zu sein, zielgerichtet zu
schaft geführt hat, und bildet die makroökonomische Ebene, in der es darum geht, wie
agieren und somit Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten.
geschichtlich betrachtet die Aufmerksamkeit allmählich zu einem wichtigen Gut für die
Wirtschaft geworden ist. Nach Franck führt der, durch das Informationszeitalter bedingte,
»Der Aufmerksamkeit wird dabei eine zweifache Aufgabe zugeschrieben: Sie hat so-
größere Bedarf an Aufmerksamkeit zu dem Zwang, in der Wahrnehmung schärfer zu selek-
wohl einen Innen- (awareness) als auch einen Außenbezug (attention); die Aufmerk-
tieren, auszuwählen und viele Dinge bei der Aufnahme wegzulassen. Dies ist bedingt
(30) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 29)
(31) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 53)
(32) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 49)
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georg franck
durch die organisch begrenzte Aufnahmekapazität jedes Einzelnen, der alle auf ihn ein-
ungsvorgangs und der Informationsauf- und verarbeitung, sondern sie werden zur sozial-
stürmende Reize aufzunehmen hat und als Informationen weiter verarbeiten muss. Symp-
psychologischen Konstanten für das reibungslose Miteinander in einer gemeinsamen Ge-
tome, die sich bei der Überschreitung einer Aufmerksamkeitsgrenze ankündigen, sind
sellschaft. Aufmerksamkeit wird als Warenwert untereinander und gegeneinander aufge-
dann Stress und Hektik. Aufmerksamkeit wird also in der Schlussfolgerung irgendwann –
rechnet, wodurch es zu einem »Markt der Aufmerksamkeit« kommt. Die psychologische
was bereits schon eingetreten ist – zu einem sehr knappen Gut unserer heutigen und mo-
Funktion und der Schlüssel zum Verständnis der aufmerksamkeitsorientierten Ökonomie ist
dernen Informationsgesellschaft.
individuell, also mikroökonomisch zu suchen. In jedem Menschen ist der innigste Wunsch
nach Beachtung und Zuneigung durch Mitmenschen verankert. Denn von der Aufmerksam-
»Je höher die [Informations-]Flut steigt, um so nachdrücklicher wird die Erfordernis,
keit, die man von Mitmenschen erhält, ist wesentlich das persönliche Ansehen und damit
mit der Aufmerksamkeit hauszuhalten. Dem Steigen der Flut wohnt die Tendenz inne,
grundsätzlich das eigene Selbstwertgefühl abhängig. Der gegenseitige Austausch von Auf-
die Aufmerksamkeit in eine Rolle hineinwachsen zu lassen, die bisher das Geld spielt.
merksamkeiten ist ein menschliches Grundbedürfnis. Aufmerksamkeit kann man als ein für
Das Geld ist das immer noch wichtigste Rationierungsmittel. Seine Verfügbarkeit
die eigene Persönlichkeit erwünschtes Einkommen bezeichnen. Franck formuliert plakativ:
schneidet am schärfsten das praktisch Machbare aus dem Raum des theoretisch Mögli-
»Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr
chen aus. [...] Aufmerksamkeit braucht man für nicht nur fast, sondern restlos alles,
Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht,
was man erleben will. Man kann Aufmerksamkeit auch für restlos alles ausgeben, was
darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz.« (34)
es überhaupt zu erleben gibt. Die Aufmerksamkeit übertrifft in dieser Universalität
das Geld. Zugleich ist ihre Verfügbarkeit schärfer begrenzt. Ihr energetisches Aufkom-
Ein wesentlicher Zweck der Aufmerksamkeitsbindung ist also das Erlangen von Beachtung,
men ist nahezu konstant. Deshalb existiert ein Punkt, von dem an die Aufmerksam-
von Bekanntheit und Anerkennung durch andere Menschen zum Zweck der Selbstbestäti-
keit dem Geld den Rang des überlegen wichtigen Rationierungsmittels abläuft.« (33)
gung, Persönlichkeitsbildung und eventuell gar aus Eitelkeit heraus. Dahingegen ist das
Streben nach wohlwollender Aufmerksamkeit der Anderen und damit die Grundlage unse-
Die Aufmerksamkeit wird also zu einer neuen wichtigen Ressource in der Wirtschaft und
res Selbstwertgefühls bedroht, wenn wir gar nicht beachtet werden oder unbeabsichtigtes
beginnt, dem Geld als wichtigsten ökonomischen Faktor allmählich den Rang streitig zu
Aufsehen erregen. Die höchste Stufe des Bekanntheitsgrades, also der Menge an erhalte-
machen, da Geld grundsätzlich unbegrenzt vermehrbar sei, Aufmerksamkeit hingegen eben
ner Aufmerksamkeit und Beachtung, stellt die Prominenz da.
nicht. Somit kommt der Aufmerksamkeit nach Georg Franck die Bedeutung eines »selekti-
»Prominenz ist eben der Status des Großverdieners an Aufmerksamkeit.« (35)
ven Rationierungsmittels« zuteil. Damit der neue Wirtschaftsfaktor Aufmerksamkeit aber
endgültig zu einem neuem und global gültigem »Zahlungsmittel« werden kann, muss er
Verschiedene Bezugsgrößen und hauptsächlich der unterschiedliche Vorgang der Selbst-
folgendes zusätzliches Kriterium auf alle Fälle noch erfüllen: Aufmerksamkeit muss sich
wertschätzung erschweren den gegenseitigen Tausch von Aufmerksamkeit. Dafür erwähnt
unproblematisch als Währung – eventuell vergleichsweise wie unterschiedliche Devisen –
Franck drei Gründe:
universell verrechnen lassen. Dies führt Franck zur zweiten Ebene seiner zweigeteilten
»Erstens ist es nur schwer zu eruieren, wann die Bedeutung, die eine Person einer an-
Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie – nämlich zur mikroökonomischen.
deren schenkt, den Status einer Wertschätzung erlangt; zweitens hängt das Selbstwertgefühl, das aus der Wertschätzung gezogen werden kann, von dem Stellenwert
Damit Aufmerksamkeit also zu einer idealen und tragfähigen »neuen Währung« werden
ab, der demjenigen entgegengebracht wird, von dem sie ausgeht; und drittens muss
kann, muss es, wie das Geld, die Fähigkeit besitzen, austausch- und handelbar zu sein.
jeder Selbstwertschätzung ein bestimmtes Maß an Selbstachtung vorausgehen. Um
Somit besitzt Aufmerksamkeit nicht nur die reine Bedeutung eines selektiven Wahrnehm-
dem gerecht zu werden, ersetzt Franck die Vorstellung des Tauschens von Aufmerk-
(33) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 51)
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(34, 35) Georg Franck: Aufsatz: Ökonomie der Aufmerksamkeit. In: Merkur Nr. 534/535. (Seite 748)
georg franck
samkeit nach dem einfachen Prinzip der Nutzenmaximierung durch das »Spiel mit
»Die höchste Form des rentierlichen Reichtums an Beachtung ist der Ruhm. Wer
Aufmerksamkeit«, bei dem es gilt, »taktische Finessen und strategische Züge« anzu-
berühmt ist, ist allen bekannt und wird es lange bleiben. Als Ruhm bezeichnen wir die
wenden. So ebnet er auch auf der Mikroebene einen ersten Weg von der Aufmerksam-
Vermögen in der Größenordnung, die eine ewige Rente versprechen. Der Ruhm macht
keit zur Ökonomie: Denn auch die Geldwirtschaft funktioniert, durch Börsen und Märk-
unsterblich in dem Sinne, dass der Strom der bezogenen Beachtung nie versiegt. Das
te gesteuert, eher wie ein komplexes Spiel als wie ein einfacher Warentausch.« (36)
Anwachsen von Kapitalen in dieser Größenordnung setzt voraus, dass auch diejenigen
Beachtung schenken, die nicht genau wissen oder verstehen, wofür die Beachtung ur-
Es gibt also zwei Formen der Aufmerksamkeit, die unsere gegenseitige Wertschätzung ver-
sprünglich gezollt wurde. Berühmt ist nur, wer so bekannt ist, dass die Bekanntheit
bindet und in Beziehungen setzt, nämlich zum einen eine zwischenmenschlich, intime
für sich genommen schon hinreicht, um für fortdauernde Beachtung zu sorgen« (38)
und zum anderen eine gesellschaftlich, öffentliche.
Diese beiden Ebenen »bilden lokale Märkte der Aufmerksamkeit aus, auf denen wir
Die Wurzeln des Ruhms können also schon lange zurückliegen und sind zumeist auf die
mir unserem eigenen Wert und dem Wert der anderen Handel treiben. [...] Lokale
Buchdruck- und Schriftkultur zurückzuführen, die dem Ruhm eine gewisse Ewigkeit ver-
Märkte sind Bezugsgruppen wie Familien, Freundeskreise, Vereine etc., die zugleich
leiht. Selbst wenn kaum noch jemand freiwillig die Werke solcher Persönlichkeiten wie
einen Schutz bilden gegen Bewertungen von außen. Erst wenn diese lokalen Märkte
beispielsweise Goethe, Schiller oder Shakespeare liest, reichen Zitate oder Hinweise auf
aufgebrochen werden und die Menschen beginnen, ihren »Marktwert« über größere
deren Titel aus, um die mediale Bedeutung dieser berühmten Personen hervorzuheben.
Gruppen auszuhandeln, gelangt der Prozess der Ökonomisierung der Aufmerksamkeit
an sein vorläufiges Ende.« (37)
»Die dem Ruhm nächste, aber schon etwas vergänglichere Form des rentierten Reichtums ist die Prominenz. [...] Die Prominenten stellen die Klasse derjenigen Personen
dar, von denen allgemein bekannt ist, wer sie sind. Der ursprüngliche Grund für die
4.3.4. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit
Bekanntheit ist zweitrangig. [... Sie] beziehen [...] auch dann noch ein Einkommen,
wenn die Quellen des ursprünglichen Status versiegt sind,« (39)
Befindet man sich nicht mehr in den kleinen »intimen« Gruppen wie Familie, Schulklasse
da sie ein Teil des öffentlichen Bewusstseins sind und an der Spitze derer stehen, die am
oder Berufsleben, in denen mit Aufmerksamkeit gehandelt wird, so wandelt sich auch die
meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen und anhäufen. Es bedarf nicht mehr der hohen
Form der Kommunikation, da es sich nicht mehr um direkte, sondern vielmehr um vermit-
Geburt durch Adel, einer besonderen Begabung oder einer heldenreichen Tat, um promi-
telte Formen handelt, die zumeist innerhalb und über den Bereich der Massenmedien
nent zu werden bzw. zu sein. Prominent wird man durch die Medien, insbesondere durch
transportiert werden. Dadurch fällt zunehmend die zwischenmenschliche Ebene weg und
eine starke Präsenz in den Medien - am besten in Bild und am allerbesten im Fernsehen.
die Aufmerksamkeit bleibt nicht nur mehr Maßstab für Wertschätzung, sondern sie ent-
Das heißt also, dass den Massenmedien die ausschlaggebende Funktion zu Teil kommt, oh-
wickelt sich zum Gradmesser für überregionale, staatliche oder internationale Bekanntheit
ne deren aufmerksame Öffentlichkeit keiner in den Status der Prominenz gelangen könnte.
und erlangt entgültig den Status einer Währung. Franck unterscheidet grundsätzlich vier
unterschiedliche Formen des Reichtums an aufmerksamer Beachtung: Ruhm, Prominenz,
»Reputation ist [im Vergleich zur Prominenz] Reichtum – oder genauer: Wohlhaben-
Reputation und Prestige. Die Faktoren Quantität, Zeitbezug und soziale Reichweite sind
heit – an Beachtung, die von ihrerseits beachteten Personen gezollt wird.« (40)
seine vorrangigsten Kriterien, nach denen er die Definitionen der einzelnen Formen der
Wertschätzungen versucht zu unterscheiden.
(36) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 57)
(38, 39) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 118)
(37) Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.): Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. (Seite 58)
(40) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 119)
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georg franck
4.3.5. Schlussbetrachtung zu Georg Franck
Reputation ist also darauf begründet, dass man nur von jemandem Aufmerksamkeit entge-
Prominente sind laut Duden Menschen, die bekannt, berühmt, herausragend oder bedeu-
gengebracht bekommt, der zuvor bereits selbst eine gewisse Wertschätzung durch Auf-
tend sind. Das ist zwar nicht falsch, man kann es aber noch einfacher formulieren: Promi-
merksamkeit »erwirtschaftet« hat. Somit unterscheidet sich die Reputation aus sozialer als
nente sind Menschen, die es in die »Bild«-Zeitung geschafft haben. Wer den Deutschen
auch zeitlicher Sicht deutlich von der Prominenz, da sie nicht von der allgemeinen Öffent-
einmal von der Titelseite der »Bild« sowohl mit positiver als auch vermehrt mit negativer
lichkeit sondern vielmehr nur in Kreisen erfahrbar wird, die selbst schon Aufmerksamkeit
Schlagzeile ins Gesicht starren durfte, gehört dazu. Prominenz ist somit das Maß an Höhe
in höherem Maße empfangen und erhalten haben. Erst wenn die Reputation über diese
der Aufmerksamkeit und wird zunehmend bzw. fast völlig nur noch an Auflagenhöhen von
Gruppen hinauswächst, kann daraus Prominenz oder letztendlich sogar Ruhm werden.
Publikationen und Einschaltquoten in Fernsehmedien gemessen. Auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übertragen sind dementsprechend in einer Aufmerksamkeitsökonomie
»Die ursprünglichste Form kapitalisierter Beachtung ist das Prestige. Das Prestige ist
vor allem zwei Klassen ökonomisch relevant: Stars und Fans.
dem Ansehen nächst verwandt, ja es stellt den Anteil am Ansehen dar, der auf eingenommene Beachtung zurückgeht. Prestige hat, wer im Wissen oder in der Annahme
Diejenigen die reich an Aufmerksamkeit sind, sozusagen überaus Prominente, ziehen wei-
beachtet wird, dass viele auf ihn achten. Um Prestige zu haben, muss man lediglich
tere Aufmerksamkeit auf sich und werden in der aufmerksamkeitsorientierten Ökonomie
etwas über dem Durchschnitt bekannt sein. Prestige ist die Prominenz in kleiner Mün-
auch im herkömmlichen Sinne reich. Bekanntheit, Prominenz und Ruhm ist also natürlich
ze. [...] Prestige ist die soziologisch wichtigste Form kapitalisierter Aufmerksamkeit.
für viele Menschen die Erfüllung eines inneren Bedürfnisses an Zuwendung, allerdings
Sie ist so unspezifisch, weil sie die ursprüngliche Form der Kapitalisierung eingenom-
eben auch, vor allem in der Medienbranche, der Schlüssel zu Geld und Macht. Deshalb
mener Aufmerksamkeit ist. Zu Prestige kommt man dadurch, dass andere sich darüber
müssen »Promis« immer dafür sorgen, dass sie wenigstens gelegentlich bzw. in regelmäßi-
unterhalten, wem man auffällt, wen man kennt, in welchen Kreisen man verkehrt.
gen Abständen Thema von den Medienberichterstattungen sind. Dabei ist auffällig, dass
Auch sachliche Leistungen und Errungenschaften sind prestigeträchtig; Voraussetzung
sie sich zunehmend Anlässen bedienen, die mit dem ursprünglichen Grund ihrer prominen-
ist nur, dass sie auffallen und zum Gesprächsstoff werden. Fürs Prestige bringt nur
ten Bekanntheit nichts mehr zu tun haben. Persönliche »Schlammschlachten«, die in der
das etwas, worüber man redet. Umgekehrt bildet sich Prestige fast unwillkürlich, wo
Öffentlichkeit ausgetragen werden, als auch tatsächliche oder inszenierte Drogen- und
über Dritte geredet wird. Wo über Dritte geredet wird, ist nämlich fast immer die Rede
Sexeskapaden werden in den Medien breitgetreten und helfen den Prominenten ihren
auch davon, was über diese Dritte sonst geredet wird. Dieses Reden über das Reden
Kurswert an Aufmerksamkeit zumindest zu erhalten, wenn nicht sogar zu steigern, auch
ist die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, das dann einmal als Prestige, Repu-
wenn die prominente Persönlichkeit ihre Karriere ursprünglich als Sänger, Schauspieler
tation, Prominenz oder Ruhm Früchte trägt.« (41)
oder Sportler begonnen hat.
Es lässt sich deshalb nur schwer bewerten, ob oder in welchem Maße Aufmerksamkeitsbindung um des immateriellen oder um des materiellen Reichtums willen geschieht. Dies ist
sicherlich auch von Mensch zu Mensch verschieden. Georg Franck meint dazu:
»Nichts scheint die Aufmerksamkeit mehr anzuziehen als die Akkumulation (Anhäufung) aufmerksamen Einkommens, nichts die Medien mehr zu wärmen als dieses Kapital, nichts ihre Werbefläche mit höherer Attraktivität zu laden als der zur Schau gestellte Reichtum an eingenommener Aufmerksamkeit.« (42)
(41) Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. (Seite 119f.)
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(42) Georg Franck: Aufsatz: Ökonomie der Aufmerksamkeit. In: Merkur Nr. 534/535. (Seite 749)
georg franck
»Es geht um das Überleben als öffentliche Person in einer Gesellschaft, in der lokale
oder Nähegemeinschaften eine immer geringere Rolle spielen. Nur das hat heute
Chancen, noch wahrgenommen zu werden, was etwas Anderes oder Abweichendes zu
In einer solchen Ökonomie der Aufmerksamkeit sind die Aufgaben und somit die Einnah-
sein vorgibt, was eine Differenz markiert, was neu ist oder schockiert. Das gilt von
men erst einmal strikt getrennt: Der Verleger oder Fernsehproduzent erhält die finanzielle
Waren über Menschen bis hin zu Fernsehprogrammen oder Kunstobjekten. Natürlich
Aufmerksamkeit – das Geld, der Autor oder der Prominente die aufmerksame Währung. Es
gilt das Gesetz des Überlebens auch für die Medien selbst.«
Florian Rötzer
kommt somit nach Franck zu einem »Surplusprofit«, wenn auch der Verleger zu Aufmerksamkeit und der Autor zu Reichtum kommt. Sollte das Angebot den Geschmack der Fans
bzw. Medienkonsumenten treffen, kommt es zu gesicherten Auflagenhöhen sowie Einschaltquoten und Georg Franck stellt richtiger Weise fest:
»Das modernste der Medien, das private Fernsehen, finanziert sich nur noch durch
den Verkauf der Dienstleistung, Aufmerksamkeit für Beliebiges einzufangen.« (43)
Ein Unterschied zwischen der Einnahme an Geld und Aufmerksamkeit liegt, wie ich bereits
angeführt habe, darin, dass es uns nicht egal ist, von wem wir Aufmerksamkeit erhalten.
Aufmerksamkeit wird nicht nur nach der Dauer und der Konzentration gemessen, sondern
auch nach der Wertschätzung für die Person, von der wir sie empfangen.
»Es zählt dann nicht mehr nur, wieviel Aufmerksamkeit man von wie vielen Menschen
5.
Die Bedeutung von medialer Aufmerksamkeit
einnimmt, sondern auch, von wem man sie einnimmt - genauer: mit wem man gesehen wird. Der Abglanz aufmerksamen Reichtums wird dann zur eigenen Verdienstquel-
Aufmerksamkeit ist, wie bereits in den vorangegangenen Erläuterungen erwähnt, eine
le. Schon die Nähe zur Prominenz macht dann ein bisschen prominenter.« (44)
Grundvoraussetzung für jede weitere Informationsverarbeitung. Ohne auf etwas aufmerksam zu werden, kann man keine Inhalte aufnehmen. Informationen, die niemand beach-
Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Medaille von ökonomisch-gesellschaftlichem Er-
tet, haben keinen Wert und sind sinnlos. Diese Tatsache ist für das Mediensystem, dessen
folg in Form von Prominenz und Ruhm auch seine Kehrseiten hat. Denn wer gewollt Auf-
Funktionieren, Sinn und Zweck auf dem Vermitteln von Informationen beruht, natürlich
merksamkeit bindet, muss ab einem bestimmten Level mit der ungewollten Aufmerksam-
von zentraler Bedeutung. Der erste Schritt, um im Mediensystem einen Platz zu finden
keit leben. Und durch die heutigen Massenmedien geschieht dieses öffentlich und im
und eventuell Erfolg zu haben, ist deshalb erst einmal die Aufmerksamkeitsbindung und
großem Rahmen. Prominente werden so zum öffentlichen Interesse, binden Aufmerksam-
Aufmerksamkeitsgewinnung. Aufmerksamkeit ist also die primäre Ressource der Medien,
keit zu jeder Zeit an sich, was für den einzelnen prominenten Menschen schnell zu einer
ohne die alle weiteren Entwicklungen und Erfolge nicht geschehen können.
Belastung führen kann. Jede Handlung wird überwacht. Nicht umsonst häufen sich die
Klagen der Prominenz, dass sie keine Privatsphäre mehr besäßen und gerichtliche Ausein-
Einige Eigenschaften der Aufmerksamkeit stehen der leichten Eroberung dieser Ressource
andersetzungen mit Paparazzis sind an der Tagesordnung. Man könnte plakativ formulie-
aber grundsätzlich im Wege: eine gewisse Knappheit und Kurzlebigkeit. Wie schon er-
ren, dass für ein hohes Einkommen an Aufmerksamkeit und Beachtung Steuern gezahlt
wähnt, ist Aufmerksamkeit grundsätzlich knapp. Könnte der Mensch seine Aufmerksamkeit
werden müssen, und zwar in Form von Kontrolle und Überwachung, ausgelöst durch eben
auf unbegrenzt viele Reizquellen verteilen, wäre den Medien ein großer Dienst erwiesen,
diese erhöhte Aufmerksamkeit anderer Menschen.
könnten sie doch Aufmerksamkeit für ihre Inhalte gewissermaßen voraussetzen. So können wir nur mehr bewusst wahrnehmen, wenn wir die Details vernachlässigen. Dem ist
aber nicht so. Aus dieser Eigenschaft heraus wirkt Aufmerksamkeit wieder selektiv.
43 Georg Franck: Aufsatz: Ökonomie der Aufmerksamkeit. In: Merkur Nr. 534/535. (Seite 751)
44 Georg Franck: Aufsatz: Ökonomie der Aufmerksamkeit. In: Merkur Nr. 534/535. (Seite 753)
54 55
mediale aufmerksamkeit
5.1.
Wie kann man mediale Aufmerksamkeit gewinnen und binden?
Aufmerksamkeit ist prinzipiell auch niemals dauerhaft. Mit neuen, ungewohnten Reizen
Immer innovativere und zum Teil verrücktere Fernseh- oder Filmprojekte oder neuere Ge-
kann leicht Aufmerksamkeit erregt werden. Eine biologisch erhöhte Aufmerksamkeits-
staltungsmerkmale in den Print- oder Rundfunktmedien sind die Folge eines zunehmende-
schwelle, zusammen mit natürlichen Gefühlen wie Neugier auf Neues, verspricht hohe Auf-
ren medialen »Machtkampfes« um die knappe Ressource Aufmerksamkeit und können als
merksamkeit für überraschende, innovative Medienangebote. Ist etwas aber durch Länge
Techniken zur Gewinnung, Steuerung und Bindung zur Aufmerksamkeit angesehen werden.
oder Wiederholung bekannt oder gar alltäglich geworden, dann erregt es kaum noch Inter-
Überdimensionierte Darstellungen auf Werbewänden oder Hochhausfassaden, persönlich
esse und Aufmerksamkeit. Dadurch stehen die Medien vor dem nahezu paradoxen Problem,
adressierte Postwurfsendungen von Lotteriegesellschaften, fett gedruckte Überschriften
dass sie durch das Vermitteln von immer zahlreicheren neuen Angeboten zum Zwecke der
und Schlagzeilen auf Schmier- und Boulevardblättern oder auch freizügig präsentierte Co-
Aufmerksamkeitsbindung gleichsam die Gewöhnung an immer mehr neue Reize forcieren,
vergirls auf sämtlichen Fernsehzeitschriften sind Formen dieses medialen Wettbewerbes
die der Aufmerksamkeitsgewinnung entgegenwirken.
um Aufmerksamkeit.
Im Unterschied zu früheren Zeiten, gibt es heute aufgrund der vielseitigen elektronischen
»Zudem ist Aufmerksamkeit flüchtig, wenn nicht stets Ungewohntes und Interessan-
Medien, wie Fernsehen und Internet, eine vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit. Um diese
tes angeboten wird. Gleichzeitig wird das Problem der Informationsselektierung immer
weltweit existente Aufmerksamkeit, die sowohl auf globalen als auch »nur« staatlichen,
dringlicher. Die Schwellen für Signale werden höher, wenn Aufmerksamkeit noch er-
regionalen oder lokalen Ebenen stattfindet, zu erreichen, muss von Seiten der Medien zu-
regt werden soll, während immer mehr Techniken der Informationsfilterung, gewisser-
meist etwas Neues, Herausragendes, Einzigartiges oder Sensationelles den Rezipienten
maßen neue Sinnesorgane zur Erfassung und Selektion von Signalen entstehen. Die
präsentiert oder für ihn inszeniert werden. Ziel der Medien muss es also vorrangig sein,
Kämpfe um die Marktsegmente der Aufmerksamkeit in der globalen Ökonomie nehmen
den Blick der kollektiven Aufmerksamkeitsorgane auf sich zu ziehen, indem kontrahente
zu und werden härter, sie selbst muss in der Freizeit und während der Arbeit, ein Un-
und ebenfalls auf die Gewinnung von Aufmerksamkeit gerichtete Ereignisse oder Spektakel
terschied, der in der Informationsgesellschaft mehr und mehr verfällt, weiter gestärkt
möglichst übertroffen werden. Jedes Medium muss sich von den Angeboten anderer ab-
werden. Die Zukunft der Aufmerksamkeit ist deren Übergang auf Computersysteme, ist
grenzen und sich permanent neu profilieren.
deren Ablösung vom Menschen, der mit den Informationsströmen nicht mehr Schritt
halten kann und gleichzeitig, dauerstimuliert, auf der Jagd nach Spektakeln ist, die
die aufgeheizte Erwartung stillen, nach riskanten Extremerfahrungen am eigenen Leibe, die die Vielfalt der Entscheidungen in der komplexen Informationsumwelt reduzieren. Die Zeit der Bilder ist für die breite Masse am Ende. Es kommt die Zeit der erlebnistriggernden Umwelten - von der virtuellen Realität über Freizeitparks oder
Erlebnissportarten bis hin zu Situationen der Gewalt.« (45)
Medien sind von der erhaltenen Aufmerksamkeit abhängig. Nicht nur, dass ohne sie die
Inhalte ins Leere laufen würden, was ihrer grundsätzlichen Intention widerspräche. Heutzutage, im werbefinanzierten Mediensystem, hängt das generelle ökonomische Überleben
eines Mediums von der Ressource Aufmerksamkeit ab: Medien haben die Möglichkeit, eine
breite Öffentlichkeit zu erreichen und deren Aufmerksamkeit auf ihre Angebote zu lenken.
(45) http://www.heise.de – Florian Rötzer: Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit.
56 57
mediale aufmerksamkeit
5.2.
Beispiele medialer Aufmerksamkeit
Dies erfolgt zum einen durch ständige Wiederholungen: Mit Ohrwürmern oder Werbung
Vor einigen Jahren starteten – vorrangig im Privatfernsehen – neue, zum Teil auch frag-
können möglichst viele Menschen erreicht werden, um eben möglichst viel Aufmerksamkeit
würdige und problematisch eingestufte Medienformate. Angefangen hat es mit den stun-
auf das jeweilige Produkt zu lenken. So bezahlen Werbefirmen die Medien für die Dienstleis-
denlangen Talk-Sendungen, in denen natürliche Leute wie »Du-und-Ich« ihre privaten
tung der Aufmerksamkeitsbindung. Durch Stillung einer gewissen Neugierde in Form von
Sorgen, Probleme und Nöte wie ihre eigenen Interessen und speziellen Neigungen der
Sensationslust an Klatsch und Tratsch, kann dieses Ziel ebenfalls erfüllt werden. Ein dritter
breiten, aufmerksam zuschauenden und manchmal auch nach Sensationen lüsternden Öf-
und zugleich sehr wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die ästhetische Aufmerk-
fentlichkeit Preis gaben. Das weltweit vermarktete »Big-Brother« dürfte in diesem Zusam-
samkeit: Die Art der Inszenierung des Medienangebotes wird bei zunehmendem Kampf um
menhang eines der prädestiniertesten Beispiele für das neue Fernsehformat »Reality-TV«
Aufmerksamkeit immer wichtiger. Ästhetik wird ein wichtiges Kriterium für den Erfolg von
in der Medienlandschaft gewesen sein. Zehn unterschiedliche Personen, 100 Tage abge-
Unterhaltungsangeboten, denn je schöner die Bilder eines Werbespots oder das Äußere ei-
schnitten von der Öffentlichkeit und gemeinsam auf engstem Raum in einem Container
ner Webseite ist, desto wahrscheinlicher ist der Erfolg auf andauernde Aufmerksamkeits-
eingeschlossen, wurden rund um die Uhr deren intimsten Lebenssituationen live im Fern-
bindung. Dieses führt zu einer interessanten Entwicklung. Vor dem Hintergrund vieler kon-
sehen aufgezeichnet und übertragen. Behilflich waren dabei 360-Grad-Kameras, in sämtli-
kurrierender Aufmerksamkeitsangebote wird Ästhetisches immer seltener um der Kunst
chen Räumen des medialen »Big-Brother-Käfigs« angebracht, um den Kandidaten keinen
Willen geschaffen, sondern immer öfter in erster Linie zum Binden von Aufmerksamkeiten.
toten Winkel für ein mögliches Privatleben zu bieten.
So spielt künstlerische Gestaltung inzwischen in fast allen Lebensbereichen eine sehr
wichtige Rolle.
Und die Fernsehnation saß stundenlang vor der »Klotze« oder verfolgte sogar während der
Arbeit das Geschehen via Internet, um nicht die kleinste, brandaktuellste Neuigkeit zu
verpassen. Man kannte sofort alle beteiligten Namen: Zlatko, Jürgen, Sabrina, Alexander,
Andrea, Verena, Manuela, Kerstin, Jana oder der spätere erste Staffelsieger John. Und wer
die Namen nicht einwandfrei, wie aus der Pistole geschossen aufzählen konnte, gehörte
für zumindest diese knappen 100 Tage, an denen dieses Fernsehspektakel das Alltagsleben
fast aller beherrschte, zur Gruppe der Außenseiter. Die enorm hohen Einschaltquoten verrieten, dass das mediale Interesse an dieser Produktion und die damit erzeugte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sehr groß war. Keiner wollte einen weiteren »intellektuellen
Kultspruch« von Zlatko verpassen, als dieser nicht einmal wusste wer Shakespeare sei. Der
sensationsgesteuerte Betrachter erlebte also bei »Big Brother« ein triviales Fernsehspiel,
eine Mischung aus Klatsch, Beziehungsgeflechten und Voyeurismus, im Grund genommen
also eine konzentrierte Version des persönlichen Lebens außerhalb des Containers.
Was aber verleitet einen Kandidaten dazu, sich für ein solches Medienprojekt zur Verfügung zu stellen? Ist es möglicherweise nur der Reiz, eine neue Herausforderung oder etwas Unbekanntes zu erleben und dabei einen großen persönlichen Kick zu erfahren, vergleichsweise wie der Moment beim Absprung eines Bungee-Jumping-Falls? Ich gehe
vielmehr davon aus, dass dabei der Wunsch nach öffentlicher Anerkennung bis hin zur
58 59
mediale aufmerksamkeit
aufmerksamkeitsbezogenen Prominenz eine sehr große Rolle spielt – und nicht zu verges-
den bereits erwähnten Talk-Sendungen von »Meiser«, »Fliege«, »Schäfer«, »Arabella« und
sen der materielle Aspekt, der dem Gewinner in Aussicht gestellt wurde. Da Aufmerksam-
wie sie alle heißen, bis hin zu den aktuell den Mediennachmittag bestimmenden fiktiven
keit ein begehrenswertes und wertvolles gesellschaftliches Gut zu sein scheint – schließ-
Justiz-Shows, angefangen bei »Richterin Barbara Salesch«, »Richter Alexander Hold« bis
lich ist sie auch die Grundlage der Anerkennung und der zwischenmenschlichen Existenz –
hin zu den »Straf-, Jugend- und Familiengerichten«. Die seit knapp zwei Jahren als Publi-
dürften solche Fernsehereignisse, die in den Medien eben zwangsläufig eine kollektive
kumsmagnet wieder entdeckten Quiz-Sendungen, unter anderem moderiert von Günther
Aufmerksamkeit erzeugen, den Kandidaten die beste Möglichkeit geben, ihre Ziele nach
Jauch, Jörg Pilawa und Matthias Opdenhövel, ziehen ebenfalls die mediale Aufmerksam-
öffentlicher Prominenz und aufmerksamer Anerkennung zu erreichen.
keit auf sich.
Daher war es auch nicht sehr verwunderlich, dass die Bewerberzahlen zu den darauffol-
Die zahlreichen, auf fast allen Sendern angebotenen Casting-Shows mit dem vorherrschen-
genden »Big-Brother«-Staffeln immer höher wurden, zumal die späteren Kandidaten auch
dem Publikumsmagneten »Deutschland sucht den Superstar«, der seit Anfang September
miterleben konnten, wie die Teilnehmer der ersten Runde nach der offiziellen Staffel wei-
diesen Jahres unter der Leitung der vierköpfigen Jury Thomas Steiner, Shona Fraser, Die-
terhin in den Medien auf die unterschiedlichste Art und Weise für Aufsehen sorgten und
ter Bohlen und Thomas Bug in seine zweite Runde geht, ist der aktuellste Fernsehtrend,
hohe Aufmerksamkeit ernteten. Ob sich beispielsweise Zlatko oder Jürgen als Sänger ver-
wettstreitend um die Gunst der Zuschauer mit der Sendung »Die deutsche Stimme 2003«
suchten – mit dem Höhepunkt des missglückten Auftrittes von Zlatko bei der deutschen
im ZDF. Es steckt schon eine Menge wirtschaftliches Kalkül hinter diesen Shows. Kein Sen-
Vorausscheidung zum Gesangswettbewerbe des Grand-Prix-Eurovision – oder Alexander als
der, kein Plattenlabel würde ohne gewinnorientierten Hintergedanken soetwas organisie-
kurzzeitiger Freund von »Mediendiva« Jenny Elvers und als anschließend genauso schnell
ren. Artikel des Merchandising, CDs, DVDs und vieles mehr gehen dabei über den Laden-
wieder verstoßener Vater des gemeinsamen Kindes – selbstverständlich von ihr erneut me-
tisch wie frische Brötchen frühmorgens beim Bäcker. Und das hat – glaube ich – weniger
dienwirksam in Szene gesetzt. Schließlich wurde das Medieninteresse an dieser Sendung
mit Geltungsbedürfnissen eines Herrn Bohlen zu tun. Leicht verfällt man dem Glauben,
von Staffel zu Staffel verständlicherweise immer geringer. Das Aufmerksamkeit erweckend
wegen seiner merkwürdigen Art sei er in gewisser Hinsicht ein bisschen »schmalhirnig«.
Neue war weg, die Luft war raus, das Format schien »ausgelutscht«. Doch vor ein paar Mo-
Doch er bringt kurz vor der ersten Staffel »Deutschland sucht den Superstar« ein Buch mit
naten versuchte der Fernsehsender RTL 2 mit der verschärften Version »Big-Brother – The
allen Enthüllungen über ihn heraus – schön doof denken die Leute – aber alle kaufen es
Battle«, bei der die Kandidaten bei verschiedenen Spielen und Wettkämpfen gegeneinan-
auf einmal. »Schön doof, danke fürs Geld« denkt sich allerdings der medienkalküle Boh-
der antraten, ein Comeback – und prompt wurden die Zuschauerzahlen aus vergangenen
len. Und schon ist er Gesprächsthema Nummer Eins und lenkt gerade deshalb als Jurymit-
Ausstrahlungen annähernd wieder erreicht. Dies dürfte wohl vielmehr dem neuen bzw. er-
glied bei »DSDS« zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf die Show. Aus diesem Blickwinkel
weiterten und somit wieder interessanteren Format zuzuschreiben sein, bei dem einzelne
betrachtet, ist sicherlich die »Schlammschlacht« über das nationale »Schmierblatt«
»Battles« zwischen den Kandidaten zum Ziel hatten, dass die jeweilige Siegergruppe im
»Bild«-Zeitung zwischen Dieter Bohlen und seinem ehemaligen »Modern-Talking«-Partner
puren Luxus schwelgen durfte, wohingegen die »Loser«-Crew lediglich bei Wasser und Brot
Thomas Anders erneut als »bohlische«, medienwirksame Inszenierung zu sehen. Das Prin-
darben musste.
zip am Beispiel Bohlen lässt sich noch auf viele andere im Showbiz übertragen, die wissen, wie man sich verkauft und wie man auf diesem Wege an das Geld der Leute kommt.
Auffällig sind vereinzelte Boom-Phasen von diversen neuen Fernsehformaten, zumeist aus
dem amerikanischen Raum mit etwas Verspätung auf den europäischen Kontinent »herüber-
Aber nicht nur solche strategisch von hoher Stelle geplanten Medienangebote und vor-
gespült«, die zumeist anschließend die komplette private als auch vermehrt öffentlich-
nehmlich Unterhaltung, Wissen oder Information verarbeitende Sendungen können die
rechtliche Fernsehlandschaft beherrschen. Angefangen bei den Boulevard-Magazinen und
Aufmerksamkeit einer solchen heutigen Mediengesellschaft auf sich ziehen, sondern leider
60 61
mediale aufmerksamkeit
auch Naturkatastrophen oder ähnlich schreckliche Begebenheiten wie kriegerische sowie
Wer über medienästhetisch beeindruckende Ereignisse wie Katastrophen oder Anschlä-
terroistische Ereignisse. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA haben bewie-
ge prominent werden will, weil er anderweitig vom Markt der kollektiven Aufmerksam-
sen, dass Terroristen ebenso wie Medien darauf angewiesen sind, sich selbst zu überbieten,
keit wie die meisten Menschen ausgeschlossen ist, muss mitunter selbst sein Leben
also immer größere und beeindruckendere Spektakel umzusetzen, um noch die Aufmerk-
aufs Spiel setzen, um das Spektakel zu inszenieren, oder zumindest mit Strafe nach
samkeit der Öffentlichkeit zu erhalten und zu fesseln. Nach Florian Rötzer sind Terroristen
vollbrachter Tat rechnen, die ihn kurzzeitig ins Rampenlicht der Öffentlichkeit ge-
daher eher eine Art »Medien- und Aufmerksamkeitskünstler«:
bracht hat. Selbstmordanschläge bedürfen daher keineswegs, wie das in letzter Zeit
»Die Wirksamkeit der Anschläge beruht nicht allein auf der Größe des Schadens und
so erscheinen mochte, einen religiösen Hintergrund. Möglicherweise sind die Selbst-
der Menge der Opfer, sondern auch auf der Ästhetik der Bilder, die durch sie entste-
mordanschläge etwa der muslimischen Attentäter auch eher aus den aufmerksam-
hen. In einer visuell geprägten Gesellschaft sind es vornehmlich die Bilder, die sich
keitsökonomischen Grundlagen heraus zu verstehen, während die vorgeschobenen po-
verbreiten, die die Aufmerksamkeit anlocken und die sich in die Speicher und Gehirne
litischen und religiösen Motive sekundär sind.« (46)
einbrennen. Die endlose Wiederholung der Bilder nach den Anschlägen auf den Bildschirmen, vor denen die Menschen wie gebannt saßen, hat die Faszination an dem er-
Aufgefallen ist mir in letzter Zeit vermehrt, dass die Thematik der Aufmerksamkeit nicht
habenen-schaurigen Schauspiel deutlich werden lassen. Nicht allein, weil der Zer-
nur in den Medien zum Selbstzweck eingesetz wird, um Aufmerksamkeit für einen Film
störung am flachen Pentagon weniger eindrucksvoll als die Zerstörung der Türme war,
oder ein Produkt zu gewinnen und zu binden, sondern vereinzelt schon Produkte so ange-
sondern vor allem, weil es keine Live-Bilder vom Aufprall gab, ließ die Berichterstat-
boten und für sich geworben werden, dass man mit ihnen - sofern man sie besäße - Auf-
tung über das Pentagon mehr in den Hintergrund treten.
merksamkeit selbst erzeugen könne. Aufmerksamkeit wird somit auch vermehrt werbestra-
Die besondere Faszination oder das eigentümliche Grausen an den Bildern des An-
tegisch als versprochene Begleiterscheinung zu einem Produkt angepriesen. So war die
schlags auf das World Trade Center war, dass sie nicht nur die hinterlassenen Spuren
jüngste Werbekampagne bei der Einführung des neuen Handymodells M55 von Siemens –
der Zerstörung zeigten, sondern den Anschlag selbst – und das beim Crash des zwei-
ganz nach dem Werbeslogan: »Zeig dich – zieh die Aufmerksamkeit auf dich« – darauf
ten Flugzeugs in den Turm praktisch live. Der Beobachter ist nicht mehr distanziert,
konzipiert, dass man doch mit diesem neuen Telefon »in« sei und unter der nunmehr be-
sondern er sieht dem Ablauf der Geschehnisse überrascht zu, ohne zwar in diesen ein-
reits großen Schar der Handynutzer auffallen würde:
greifen zu können, aber als jemand, der dennoch weiß, dass er in diesem Fall noch
»Wenn alles möglich scheint, jeder Moment in deinem Leben zählt und selbst der All-
einmal davon gekommen, ein Überlebender ist. Auch das hat wohl die Wucht der Bil-
tag voller Abenteuer steckt, dann ist das neue M55 genau der richtige Begleiter für
der für das globale Bewusstsein ausgezeichnet, das weniger betroffen oder gelähmt
dich. Deine Sinne suchen ständig nach neuen Impulsen? Kein Wunder, dass Du und
gewesen wäre, wenn es sich um eine langsam sich vollziehende Katastrophe gehan-
Deine Freunde immer auf der Jagd nach Spaß und Aktion seid. Aber vergiss dein M55
delt hätte oder wenn er nur, wie so oft, Bilder der bereits geschehenen Katastrophe
nicht, denn damit hat Langeweile keine Chance mehr. Lass deiner Kreativität freien
zu sehen gewesen wären. Ob die Attentäter die Inszenierung aus aufmerksamkeits-
Lauf mit dem integrierten Cubasis Mobile Synthesizer, überrasche andere mit deinem
strategischen Gründen auch wirklich so geplant hatten, muss dahin gestellt werden,
musikalischen Talent und komponiere unverwechselbare Klingeltöne! Aber vielleicht
doch die Zeit zwischen dem Einschlag des ersten Flugzeugs und dem des zweiten hat
erregst du auch mehr Aufmerksamkeit mit dem unschlagbaren, coolen und dynami-
erst die Live-Bilder aus einer distanzierten Perspektive von der sich für den Zuschauer
schen Design des M55. Es fällt garantiert auf. Dank der ansteckbaren Kamera können
schicksalhaft abspielenden Katastrophe ermöglicht, wobei in einer teuflischen Strate-
deine Freunde immer und überall an deinem Leben teilhaben. Das Dynamic Light zeigt,
gie die nacheinander einstürzenden Türme den gesamten Ablauf noch stärker drama-
dass man mit dir außergewöhnliche Abenteuer erleben und viel Spaß haben kann!« (47)
tisiert hatten. [...]
(46) http://www.merz-zeitschrift.de – Florian Rötzer: Das terroristische Wettrüsten.
(47) http://www.mysiemens.de – Werbe- und Begleittext zum Handymodell M55
62 63
mediale aufmerksamkeit
Ebenfalls ein Paradebeispiel zum Thema Aufmerksamkeit ist der Ende Juli diesen Jahres
einem heimtückischen Heckenschützen ausgeliefert, der so gut wie alles über ihn weiß.
im deutschen Kino gestartete Film »Nicht auflegen«. Dieser von Regisseur Joel Schumacher
Dass er seine Ehefrau betrügt und dass er ein unzuverlässiger Egozentriker ist, dessen
raffiniert inszenierte Thriller, der als »One-Man-Show« knapp 90 Minuten fast gänzlich in
Denken meist um den eigenen Bauchnabel kreist. Dieser unberechenbare Verrückte, ir-
einer New Yorker Telefonzelle von Manhatten spielt, zeigt sehr deutlich die Thematik des
gendwo in den umliegenden Häusern versteckt, verlangt Stu eine öffentliche Beichte ab.
persönlichen Drangs nach Aufmerksamkeit als auch die mediale Gier nach sensationslüstern-
Hier und jetzt soll er all seine Lügen und Sünden bekennen. Für jede Lüge, jede Halbwahr-
der Ereignisse. Nur drei Sekunden Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bestätigung benötigt
heit, jede Oberflächlichkeit, jede abfällige Bemerkung soll er seine Verfehlungen vor der
der Mensch täglich, um in sich ruhen zu können, wird in diesem Film zu Beginn behauptet.
Polizei, seiner Frau, seiner Geliebten und sämtlichen, sich allmählich vor der Telefonzelle
Ob wohl deshalb die Menschen in Joel Schumachers Telefonthriller »Nicht auflegen« durch
versammelten Medien, die dieses Schauspiel auf allen Fernsehkanälen live übertragen, ge-
die Straßen Manhattans hetzen und dabei unentwegt wild gestikulierend in ihre Handys
stehen. Den Hörer einfach auflegen, funktioniert nicht. Durch einen gezielten Warnschuss
hauchen, flüstern, schreien? Weil sie ihre drei Sekunden noch nicht bekommen haben? Sie
aus einem Präzisionsgewehr hat der Anrufer deutlich gemacht, dass das Ende des Ge-
hauchen Liebesschwüre, tragen Streitigkeiten aus oder schließen ein Geschäft nach dem
sprächs auch das Ende seines Lebens bedeutet.
anderen ab. Es gibt ihnen offenbar das Gefühl, wichtig zu sein.
Beim Kinozuschauer entwickelt sich eine ähnliche Dynamik wie beim hinzugeeilten KomDer Presseagent Stu, die Hauptfigur des Films, ist einer dieser Großstadthektiker, die
missar Captain Ramey. Man versucht zu ergründen, wo sich dieser wahnsinnige Sniper auf-
ständig den Straßenlärm überbrüllen. Einer dieser getriebenen Charaktere, die geschäftig
hält. Die Kamera streift an Hochhäusern rund um die Telefonzelle vorbei, hinter jedem Vor-
durch das Leben hechten. Stets auf der Pirsch nach schnellem Erfolg, Aufmerksamkeit und
hang könnte sich der mordlustige Anrufer befinden, wodurch die Anonymität der New Yorker
kurzweiligem Sex. Einer von denen, die, wenn sie im teuren Markenanzug über den Times
Metropole zusätzlich deutlich wird. Stu versucht zu ergründen, welches Motiv der Anrufer
Square eilen und über zwei Handys gleichzeitig telefonieren, Lebensqualität mit Erlebens-
hat. Ist auch er einer jener Vernachlässigten, die ihre tägliche Portion »Drei-Sekunden-
Quantität verwechseln. In dem Thriller dreht sich alles Geschehen um eine kleine Telefon-
Aufmerksamkeit« noch nicht bekommen haben? Der Film zeigt, wie einsam ein Mensch
zelle in der 53. Straße Manhattans. Bewegung und Abwechslung kommt nur durch nervö-
sein kann, selbst wenn er im Mittelpunkt des Interesses steht. Nur eine Glasscheibe trennt
se, gestresste Mitbürger, die einen schnellen Anruf tätigen möchten und dies je nach
Stu von einer neugierig zusammengelaufenen Menschenmenge, doch sie ahnen nicht, dass
Temperament entsprechend deutlich machen. Zudem sind Voyeure im Blickfeld, die Stus
er in Todesgefahr steckt.
beharrliches Verbleiben am Telefon aufmerksam mitverfolgen, ohne jedoch sein Motiv verstehen zu können. Der Kinobesucher indes weiß aber mehr, als die Beteiligten im Film,
die ahnungslos um diese vereinzelte Telefonzelle herumstehen. Der Zuschauer ist eingeweiht in die lebensbedrohliche Situation, die Stu in der gläsernen Zelle durchlebt, die für
ihn zum Gefängnis wird.
Eigentlich wollte Stu bloß mit seiner Geliebten Pamela ungestört sein tägliches Telefonat
führen. Mit dem Handy ist dies nicht möglich, denn seine Ehefrau Kelly kontrolliert seine
Handyrechnungen. Als Stu die Telefonzelle wieder verlassen will, klingelt es erneut, er
nimmt instinktiv das Gespräch entgegen und eine unbekannte Stimme sagt: »Du genießt
absofort meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Wenn du auflegst, bist du tot!« Stu ist
64 65
mediale aufmerksamkeit
Das Internet ist ein weiteres mediales Medium, das zunehmend durch das World-Wide-Web
lektion erfolgt, kann man sich fragen, wie Internet-User dazu verleitet werden könnten,
attraktiver wurde und im Ausmaß an Informationsvielfalt grenzen- und konkurrenzlos ist.
das Internetangebot gründlicher und aufmerksamer wahrzunehmen und zu verarbeiten?
Nach Florian Rötzer ist das Internet
»eine unermeßliche Landschaft von dicht nebeneinanderliegenden Orten zum Durch-
Dies ist nicht so wichtig bei Internetseiten, die lediglich zur reinen Unterhaltung oder zur
klicken, die jetzt multimedial aufgerüstet wird, aber auch ein Medium, das jedem die
ästhetischen Weiterbildung dienen, als vielmehr bei informationsorientierten Angeboten,
Möglichkeit gibt, selbst ein Medium zu werden, indem man beispielsweise seine eige-
die konkrete Inhalte transportieren wollen, und deshalb eher genutzt werden sollten.
ne Homepage ins Netz stellt. So wie Benjamin einst gesagt hat, dass aus dem Film
Schließlich lassen sich bei der aufmerksamen Informationssuche im Internet zwei grund-
der Anspruch für jeden erwachse, gefilmt zu werden, so wie dies bei der Fotografie,
legende Typen unterscheiden: Entweder sucht man zielgerichtet nach einer bestimmten
beim Video, beim Rundfunk und Fernsehen auch der Fall ist und immer mehr kulti-
Information, ist diese gefunden, wurde die Aufgabe erfolgreich bewältigt. Oder man be-
viert wird, so kann nun jeder in Konkurrenz mit allen anderen um die Ressource der
sitzt kein konkretes Suchziel, sondern der User will vielmehr nur »schauen, was es im In-
Aufmerksamkeit treten und sich zum Medium machen.« (48)
ternet alles zu entdecken gibt«. In diesen Fällen spricht man zumeist von den typischen
Begriffen des »Surfens« oder »Browsings« – was übersetzt soviel wie »Stöbern« bedeutet.
Einer US-amerikanischen Studie zufolge, sollen sich inzwischen über zwei Milliarden Seiten im weltweiten Internet befinden und täglich kämen rund sieben Millionen hinzu. Da
Die zur Zeit weltweit am zweithäufigsten besuchte Internetseite – neben den bekannten
ist es leicht verständlich, dass im Internet der »Kampf um Aufmerksamkeit« besonders
WWW-Suchdiensten von Google und Yahoo – müsste der größte Umschlagplatz für Waren
hoch ist und immer schärfer umkämpft wird. Die Aufhebung räumlicher Distanzen führt
im Internet von eBay sein. Fast 15 Millionen Deutsche und damit jeder zweite Vernetzte
dazu, das mögliche Konkurrenzangebote im WWW nur einen weiteren Mausklick entfernt
in diesem Land soll Untersuchungen zufolge mindestens einmal monatlich die deutsche
liegen. Verstärkt wird diese Situation schließlich durch eine noch geringere Bindung zwi-
eBay-Website besuchen. Es gibt nichts, was nicht bei dem globalen »Aktionshaus« eBay
schen dem Internet-Nutzer und dem Anbieter von Web-Informationen. Neben der lang-
zu ersteigern wäre: Angefangen bei belegten Butterbroten über reine Verpackungen von
samen Übertragungsgeschwindigkeit, die jedoch zunehmend durch technologische Weiter-
wertvolleren Gegenständen bis hin zu Freundschaftsspielen eines Handballvereins oder Pa-
entwicklungen wie ISDN und DSL überwunden werden, zählt aus eigener Erfahrung das
tenschaften für meteorologische Tief- und Hochdruckgebiete. Oder wie wäre es mit einer
aufwendige Auffinden von Informationen und die Unübersichtlichkeit von Webangeboten
kleinen einsamen Insel in der Karibik oder einem ausgedientem, aber noch funktionsfähi-
zu den häufigsten Problemen bei der Internetnutzung.
gem russischen Atom-U-Boot?
Wenn man Informationen nicht findet und Seiten aufgrund ihrer schlechten Gestaltung
Ebay entwickelte sich in den vergangenen Jahren zu einem Basar des Besonderen und des
kaum Aufmerksamkeit erzeugen, kann dies schlimme Folgen für den Betreiber einer sol-
Banalen als Ramschladen für Flohmarktartikel bis hin zur elektronischen Kleinanzeigen-
chen Internetseite haben. Dass man als Internet-User nur ungern und selten gründlich
Pinnwand und virtuellen Shopping-Meile und wird somit unter den regelmäßigen Nutzern
lange Texte im Netz liest und stattdessen lieber wahllos durch bunte, schrille und zum
allmählich zu einer neuen Lebenskultur. Geschickte und teilweise arbeitslose Internet-Ver-
Teil blinkende Seiten surft, liegt sicherlich teilweise an der zunehmenden Informationflut,
käufer machen sich mit Ebay selbstständig und bauen sich vermehrt eine eigene Existenz
die mit der Etablierung dieses doch noch recht neuen Mediums mit einhergeht. Internet-
auf. Ebay kann man meiner Meinung nach bereits schon als den aktuell modernsten, kul-
seiten verleiten aufgrund ihres strukturellen Aufbaus den Nutzer vielmehr zur Selektion als
tischsten und trendigsten Volkssport bezeichnen. Es bietet Unterhaltung – quasi wie ein
zur eigentlich nötigen aufmerksamen Rezeption. Da eine erfolgreiche Informationsaufnah-
Computerspiel ohne gefährliche Nebenwirkungen, außer wenn man über seine finanziellen
me- und verarbeitung jedoch immer noch eher durch eine Rezeption und nicht durch Se-
Verhältnisse lebt.
(48) http://www.heise.de – Florian Rötzer: Aufmerksamkeit. Der Rohstoff der Informationsgesellschaft.
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mediale aufmerksamkeit
»Denn hier kommt zum schnöden Tauschgeschäft gratis ein Hauch von Steinzeit: das
6.
Aufmerksamkeit und Sport
6.1.
»Aktive« Aufmerksamkeit im Sport
Jagdfieber bei der Suche nach seltenen Stücken, der Beutekampf gegen heimtückisch
mitbietende Rivalen und die triumphale Heimkehr mit der erlegten Beute.« (49)
Wie ist es möglich, den Aufschlag eines Spitzentennisspielers von weit über 200 km/h zu
erreichen sowie kontrolliert und fehlerfrei zu retournieren? Welche Aufmerksamkeitsbe-
Bei einem Selbstversuch habe ich auf der deutschen Ebay-Seite unter der Rubrik »Was su-
reitschaft ist von Nöten, wenn Boxer im Ring oder Judokas auf der Matte im Wettkampf
chen Sie?« den Begriff »Aufmerksamkeit« eingegeben und selbst nach Artikeln zu diesem
ihre Kräfte messen? Hier und bei allen anderen sportlichen Höchstleistungen muss das
Schlagwort gesucht. Prompt gab es hierauf drei Suchergebnisse, die unter folgenden Be-
»Auge« die Vorarbeit leisten, die informative Basis aufbauen, um schnellstmögliches, auf-
zeichnungen zum Ersteigern angeboten wurden: »Heightened Awareness / Erhöhte Auf-
merksames Handeln zu ermöglichen. Alle Sportler müssen, jeweils ihrer Sportart entspre-
merksamkeit«, »MvM (2RO45) Zu viel Aufmerksamkeit« und »Kleine Aufmerksamkeit!
chend im unterschiedlichen Grad, aktiv aufmerksam ihre Bewegungen, Handlungen, Übun-
Geschenk? 1A!« Dabei handelte es sich bei den beiden ersten Artikeln um spezielle Sam-
gen und Reaktionen ausführen können, um erfolgreich zu sein.
melkarten mit dem jeweiligen Titel »Erhöhte Aufmerksamkeit« und »Zu viel Aufmerksamkeit«, im letzten Fall wurde eine kleine Golftrophäe angeboten, die vom Anbieter als klei-
Die konzentrierte, aktive Aufmerksamkeit ist wie im sonstigen alltäglichen Leben in allen
nes aufmerksames Geschenk angepriesen wurde.
Disziplinen eine fundamentale Größe unter den zahlreichen Komponenten der Psyche des
Sportlers. Sie entspricht auch hier einem Zustand gesteigerter Wachheit und der Fähigkeit,
Aber selbst Ebay gibt auf seiner Website seinen Kunden Tipps und Ratschläge, wie diese
die gesamte psychische Tätigkeit aktiv und auswählend auf jene Sachverhalte zu richten,
die Aufmerksamkeit optimiert und gezielter auf ihre zum Handel angebotenen Artikel len-
deren Beachtung für Lernen und Leisten im Sport unerlässlich ist. Zugleich macht die Auf-
ken können:
merksamkeit während des Sports es ebenfalls möglich, sich vor unwesentlichen Sachver-
»Wählen Sie Ihre persönlichen Kategorien mit Bedacht. Sie treffen diese Auswahl
halten und störenden Einflüssen abzuschirmen. Gegenstand der Aufmerksamkeit können
beim Erstellen Ihres Shops, um Ihren Käufern das Stöbern in Ihrem Warenangebot zu
sowohl äußere als auch innere Objekte, Ereignisse oder Vorgänge sein, die bestimmt wer-
erleichtern: Wählen Sie Kategorien und Kategorienamen, die Ihre Käufer ansprechen.
den können durch Besonderheiten der Sportgeräte, Mannschaftskollegen oder Gegner, In-
Erstellen Sie ggf. eine Kategorie namens »Sonderangebote« oder »Sonderverkaufsarti-
halte der Übungsanweisung als auch durch den eigenen körperlichen, psychischen Zustand.
kel«, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Artikel zu lenken. [...]
Nutzen Sie Auktionsangebote, um den Besucherstrom zu Ihrem eBay Shop zu lenken.
Die Richtung der Aufmerksamkeit ist einerseits durch den Sportler selbst, andererseits
Ihre Auktionsangebote enthalten einen deutlich sichtbaren Link zu Ihrem eBay Shop.
durch den Charakter der existierenden Sachverhalte der jeweiligen Sportart bestimmt. Be-
Je mehr Neugierige also Ihre Auktionen besuchen, desto mehr Besucher werden Sie zu
sonders auffällige, ungewohnte und unerwartete, ebenso aber persönlich sehr bedeutsame
Ihrem eBay Shop lenken: Bieten Sie die gefragtesten Artikel in Auktionen an. Proto-
Erscheinungen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. So ist nicht selten – und nicht allein
kollieren Sie die Anzahl der Seitenaufrufe mithilfe kostenloser Zähler und stellen Sie
bei Anfängern – festzustellen, dass bei einem Konditionstraining die Aufmerksamkeit vie-
ggf. Artikel zu niedrigen Preisen ein, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erlangen.
ler Sportler sehr stark auf die Wiederholungszahl der Übungen, kaum aber auf die Qualität
Wählen Sie Zusatzoptionen beim Einstellen Ihrer Artikel (Fettschrift, Highlight, Top-
ihrer Ausführung und die Einhaltung der Pausenzeiten gerichtet ist. Diese Belastungskom-
Angebot), um sich von der Konkurrenz abzuheben. Geben Sie bei Ihrem gesamten
ponenten bleiben dann unbewusst, was letztlich zu geringen oder falschen Belastungswir-
Schriftverkehr die Web-Adresse Ihres eBay Shops an: Machen Sie Käufer und Besucher
kungen und anderen als den eigentlich gewollten Trainingseffekten führt.
auf Ihren Shop aufmerksam, indem Sie die Adresse Ihres eBay Shops so oft wie möglich angeben [...]« (50)
(49) Stern. Das Deutsche Magazin. Ausgabe Nr. 23/2003. (Seite 44ff.)
(50) http://www.ebay.de
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aufmerksamkeit im sport
Darüber hinaus stellen alle Sportarten hohe, wenn auch unterschiedliche Anforderungen
Von ähnlich elementarer Bedeutung ist der Grad der psycho-physischen Aktivierung des
an die Aufmerksamkeit. Der Bewältigung dieser Anforderungen muss sich der Sportler durch
Sportlers. Darunter ist die Gesamterregung des Organismus, seine Energiemobilisation als
sportart- und aufgabenspezifisches Training annähern. Wenn ein Turner täglich eine Stun-
Vorbereitung auf eine Tätigkeit, zu verstehen. Der Aktivierungsgrad unterliegt ständigen
de intensiv trainiert, schafft er damit – zumindest für seine Aufmerksamkeit – keine aus-
Schwankungen und variiert vom Tiefschlaf bis zu höchsten Erregungszuständen bei extre-
reichenden Voraussetzungen für einen Mehrkampf, denn diese Wettkämpfe dauern mehre-
mer Aktivierung. Bei genauem Hinschauen zeigt sich, dass dieser Bereitschaftszustand im
re Stunden. Die Beständigkeit seiner Aufmerksamkeit wäre somit nicht ausreichend. Ein
täglichen Training und auch in der Anfangsphase vieler Wettkämpfe nicht ausreichend ge-
solcher Mangel drückt sich in Sportarten wie Handball, Tischtennis oder Ringen in nach-
geben ist. So werden Misserfolge und Niederlagen provoziert und Lernerfolge bleiben so
lassender Handlungsfähigkeit – wie höhere Fehlerquoten oder Verlust an Übersicht und
im Rahmen der Unauffälligkeit.
Aktivität – besonders in der Endphase von Wettkämpfen aus.
Psychische Prozesse, vor allem das Wahrnehmen, Denken, Vorstellen und Einprägen, realiIn anderen Sportarten ist weniger die zeitliche Ausdehnung, mehr dafür die Intensität der
sieren die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen über die Sachver-
Aufmerksamkeit wichtig – wie beispielweise bei leichtathletischen Sprint- und Wurfdiszi-
halte im Umfeld des Sportlers und im Inneren seines Organismus sowie über Verlauf und
plinen oder Gewichtheben. Hier ergeben sich besondere Probleme oft dann, wenn nach
Ergebnis seiner Tätigkeit. Lernen und Leisten setzen immer eine möglichst wirklichkeits-
längeren Aufmerksamkeitspausen, zum Beispiel infolge von Wettkampfunterbrechungen,
nahe Erkenntnis der Realität voraus: »Was sind die wirklichen Knotenpunkte bei dieser
plötzlich wieder hohe Aufmerksamkeitsintensität erforderlich ist.
Übung?«, »Was ist die bevorzugte Schlagvariante meines Gegners?«, »Wo liegen die
Schwächen meines Kontrahenten?«, »Ist das Lauftempo für meine Leistungsfähigkeit zu
Da im Sport sowohl Beständigkeit als auch Intensität der Aufmerksamkeit unverzichtbar
schnell oder zu langsam?« Eine fehlerhafte Erkenntnis dieser wichtigen Sachverhalte kann
sind, muss der Sportler gewissermaßen zu Kompromissen fähig sein. Sehr lange Bestän-
sich schnell potenzieren. Denn auf Grundlage der aufgenommenen Informationen und ih-
digkeit und gleichzeitig hohe Intensität schließen sich gegenseitig, wie man bereits an-
rer Verarbeitung müssen – im Sport oft unter erheblichem Zeitdruck – für den Erfolg sofort
hand meiner vorangegangen Ausführungen entnehmen konnte, weitgehend aus. Deshalb
Ziele, Programme und Entscheidungen für das eigene Handeln sowie motorische Lösungen
muss das Ziel eines jeden Hochleistungssportlers auch sein, zu erlernen, beginnende Auf-
konzipiert werden.
merksamkeitsverluste wahrzunehmen, Phasen psychischer Erholung bewusst in den Wettkampfverlauf einzubauen und optimal zu nutzen sowie Tätigkeitsunterbrechungen selbstbestimmt durch Auszeiten oder Kampfpausen einzuleiten.
Umfang und Umschalten der Aufmerksamkeit sind deshalb weitere Qualitäten, die sportartabhängig auszubilden sind. Ersterer wird durch die Zahl der beim Handeln zu beachtenden
Sachverhalte bestimmt. Ein Biathlet hat beispielweise bei der Schießübung mindestens
die räumliche Lage von Visiereinrichtung sowie Scheibe, Licht- und Windverhältnisse,
technische Parameter seiner Waffe und nach der körperlichen Anstrengung des Langlaufes
auch die Rückmeldungen aus seinem Körper zu beachten. Dies alles kann gleichzeitig oder
in einer bestimmten Abfolge – durch planvolles Umschalten von einem Merkmal auf das
nächste – erforderlich sein.
70 71
aufmerksamkeit im sport
6.2.
»Passive« Aufmerksamkeit im Sport
Aber auch der passive Gebrauch von Aufmerksamkeit ist im Sport und insbesondere bei
ten Platz bei der Tour de France 2003 von Jan Ullrich, mit Sicherheit den Radsport be-
Sportgroßereignissen sehr wichtig – letztendlich auch wirtschaftlich von Nöten. Sport oh-
zeichnen. Ebenfalls aus seinem »Schatten-Dasein« dürfte nach langer erfolgloser »Durst-
ne Merchandising, Werbepartner und Sponsoren ist heutzutage unvorstellbar. Sportveran-
strecke« die traditionell erfolgreiche Wintersportart Langlauf getreten sein, nachdem in
staltungen wie Welt- oder Europameisterschaften sowie Olympische Winter- als auch Som-
der aktuellen Vergangenheit in dieser Disziplin erneut zahlreiche Erfolge bei Olympischen
merspiele können ebenso nicht ohne Haupt- und Nebensponsoren überleben wie
Spielen und Weltmeisterschaften erzielt wurden.
Formel1-Teams oder die vielen Fahrradrennställe, die beispielsweise jährlich bei der Tour
de France an den Start gehen. Nur durch die Einnahme aufmerksamkeitsbezogener Gelder
Einige Randsportarten nutzten aber auch die große »Showbühne« Olympischer Spiele als
sind die hohen Kosten solcher Sportereignisse, neuer technischer Innovationen oder die
Gelegenheit der Präsentation und Eigenwerbung. Noch vor kurzem als »Putzkolonne des
horrenten Kosten für Übertragungsrechte noch finanzierbar.
Wintersports« spöttisch bezeichnet, erlangte Curling bei den Winterspielen in Salt Lake
City 2002 überraschend ein sehr hohes mediales Interesse und die damit verbundene Auf-
Die immens hohen Gelder fließen im Sport auch nur dann in diesen großen Maßen, wenn
merksamkeit. 6,1 Millionen Zuschauer, was einen Marktanteil von 19 Prozent entsprach,
die mit solchen Ereignissen verbundene Aufmerksamkeit weltweit sehr hoch ist. Randsport-
verfolgten in Deutschland zur nächtlichen Sendezeit den Auftritt der deutschen Curling-
gruppen, wie Schach oder Tanzen, haben es aufgrund des ihnen geringer geschenkten,
Männer gegen Schweden und nahmen dafür gern »Olympische Ringe« unter den Augen in
globalen Interesses wesentlich schwerer, sich im »Geschäft der großen Veranstaltungen«
Kauf. Plötzlich kannte fast jeder Sportbegeisterte die Spielregeln und Fachbegriffe der
– wie Fußballweltmeisterschaften, Olympiaden usw. – zu behaupten und laufen Gefahr, im
ehemaligen »Eisschrubber«:
»Niemandsland« zu verschwinden. Das deutschlandweite Interesse an Tennis wurde erst
durch den sensationellen Wimbledonsieg eines 17-jährigen, blondschopfigen Boris Becker
»Jetzt wissen wir endlich, was ein »Guard« ist. Ein »Guard« ist ein schottischer
1985 geweckt. Steffi Graf, Michael Stich und Anke Huber zogen nach und es gab in den
Schutzwall im letzten End. Er muss es aber nicht sein. Wir haben außerdem gelernt,
Folgejahren mit Sicherheit kaum ein größeres Tennisturnier, von dem nicht mehrere Stun-
dass die Damen und Herren mit den Unionjack am Schrubberstil keine Engländer, son-
den am Tag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit berichtet wurde. Der
dern Schotten sind, aber Engländer genannt werden müssen. Und niemals Schotten.
Boom ging sogar soweit, dass plötzlich die halbe Nation zum Tennisschläger griff und ein
Denn wir sind beim Curling. Zudem haben wir gelernt, dass Curling wahnsinnig span-
Tennisverein nach dem anderen aus dem Boden gestampft wurde. Jetzt, wo diese deut-
nend, aber auch total langweilig sein kann. Genauso langweilig wie ein leise knistern-
schen Idole des Tennissports zurückgetreten sind und der Sport lediglich durch sensatio-
des Kaminfeuer, bei dem man vor der Zeit wunderbar einschlafen darf. Was uns selten
nelle Einzelerfolge das Medieninteresse noch auf sich zieht, interessiert sich kaum noch
passiert ist, weil Curling in Salt Lake City zum Renner des olympischen Programms
einer für den »weißen Sport«, so dass selbst die bedeutendsten Grand-Slam-Turniere nur
wurde. Vor Ort ebenso wie daheim an den Fernsehgeräten. Im Ice Sheet at Ogden ha-
noch in Aufzeichnungen zu später Abendstunde auf speziellen Sportkanälen zu sehen sind
ben sie anfangs untereinander Curling-Eintrittskarten verscherbelt oder großzügig ver-
und zahlreiche Vereine aufgrund von Mitgliederschwund schließen müssen.
schenkt, doch plötzlich suchten sie danach wie weiland Sherlock Holmes nach der
Blauen Mauritius. Wir haben beim Curling Sabine Belkofer kennen lernen dürfen, die
Ein ähnlicher Boom erfuhr vor wenigen Jahren mit Michael Schumacher die Formel 1 sowie
einzige Hamburgerin im deutschen Olympia-Aufgebot. [...] Die Dame aus Hamburg
mit Martin Schmitt und Sven Hannawald das Skispringen, so dass sich RTL um die Übertra-
stand stets neben der handfesten Bayerin Natalie Nessler, dem Skip, was im Curling
gungsrechte dieser Sportarten bemühte. Reißerisch warb Sportreporter und Publikumslieb-
mehr ist als Oliver Kahn beim Fußball, und obendrein strategisch zu sehen ist. [...]
ling Günter Jauch sogar im Fall des Skispringens mit dem Slogan: »Formel 1 des Winters«.
Im Gegensatz zu den Fußball-Profis wurden die Curler allesamt vor ihrem jeweiligen
Als eindeutige »In-Sportart« kann man, nach dem glanzvollem Comeback und dem zwei-
Auftritt verkabelt, auf dass der geneigte Fernsehzuschauer daheim auch genau hören
72 73
aufmerksamkeit im sport
konnte, was gerade ausgeheckt wird. Wir haben überdies erfahren, dass Curling aus
Ausgerechnet bei der zweiten Ausrichtung Olympischer Sommerspiele in Deutschland wur-
dem Englischen kommt uns so viel wie drehen – englisch: to curl – bedeutet. Denn
de die öffentliche Bühne der Veranstaltung durch ein blutiges Massaker, dem elf jüdische
der granitene Curling-Stein, den Uneingeweihte für eine Bettpfanne aus dem An-
Sportler und ein Polizist zum Opfer fielen, erneut dazu ausgenutzt, um auf politische Ver-
tiquitäten-Shop oder einen schlichten Wasserkessel halten, dreht sich um die eigene
hältnisse aufmerksam zu machen. Die Sommerspiele von München 1972, aufgrund der erb-
Achse, er curlt, wenn er auf sein Ziel zurutscht. [...]« (51)
lichen Belastung der »Hitlerspiele« von vor 36 Jahren als »heitere und fröhliche Spiele«
geplant, um die Welt auf ein neues und friedvolles Deutschland aufmerksam zu machen,
Aber nicht nur Sportdisziplinen nutzen die Gunst der Stunde, sich bei Sportgroßveranstal-
hinterliesen einen globalen Schock. Arabische Terroristen waren am 5. September in das
tungen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Leider erfolgte dies nicht immer im
Olympische Dorf eingedrungen, hatten zwei Israelis erschossen und neun andere als Gei-
positiven Sinn, sondern die breite und öffentliche Aufmerksamkeit wurde zu oft aus poli-
seln festgehalten. Sie verlangten die Freilassung von zahlreichen in Israel gefangengehal-
tischen Gründen negativ missbraucht:
tenen Guerillakämpfern als Preis für die Freigabe der Athleten. Am Ende der Verhandlungen mit den Terroristen stand ein Blutbad, das die ganze Welt erschütterte und die Spiele
Im August 1936 eröffnet Adolf Hitler die XI. Olympischen Sommerspiele in Berlin. Die Au-
kurzzeitig stoppte. Alle Geiseln wurden erschossen, nachdem Scharfschützen versucht hat-
gen der Weltöffentlichkeit ruhten damit auf dem nationalsozialistischen Deutschland.
ten, die Geiselnehmer aus dem Hinterhalt kampfunfähig zu machen. 80.000 Menschen
Durch eine geschickte Inszenierung gelang es Hitler, der gesamten Weltöffentlichkeit auf
versammelten sich am darauffolgenden Morgen im Münchner Olympiastadion, um vor den
der einen Seite das Bild eines friedfertigen, harmlosen Deutschlands vorzuspielen, ande-
Augen der Weltöffentlichkeit den Toten die letzte Ehre zu erweisen und an die Welt zu ap-
rerseits nutzte auch er die Spiele, um die »überlegene« arische Rasse zu demonstrieren.
pellieren, den fanatischen Terror ein Ende zu setzen.
Zum erstenmal in der Geschichte der Olympischen Spiele errang Deutschland die meisten
Medaillen unter den teilnehmenden Nationen, womit die Nationalsozialisten einen großen
Wiederholen sollte sich ein ähnlicher Vorfall 1996 in Atlanta, als im Olympischen Park
propagandistischen Triumph verzeichnen konnten. Vorausgegangen war der aufwendige
während eines Konzertes urplötzlich eine Rohrbombe explodierte, welcher eine Person
und heroische Bau der Wettkampfstätten in Berlin sowie für die Winterspiele Anfang 1936
zum Opfer fiel. Man fühlte sich sofort an die Vorfälle in München erinnert, so dass wie
in Garmisch-Partenkirchen. Die Olympischen Sommerspiele wurden besonders aufwendig
1972 dieselbe Diskussionen in den öffentlichen Medien entbrannte, ob die Spiele unter
ausgerichtet, nachdem die Spiele zur nationalen Prestigesache erklärt worden waren. Es
diesen Umständen fortgesetzt werden dürften. Das markante in diesem Fall war dieses
wurden Gelder im nie gekannten Ausmaße in die Organisation gesteckt. Hitler unterließ es
mal, dass die ganze Welt hautnah dabei war, als der Anschlag in Millionen von Haushalten
trotz der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit nicht, seinen Abscheu angesichts der drei
live über den Bildschirm lief.
Goldmedaillen des amerikanischen »Negers« Jesse Owens zu äußern. Obwohl der deutschen Bevölkerung dadurch täglich eingetrichtert wurde, dass alles »nichtarische« nicht
wertvoll war, wurde ein Schwarzer der Star und zum Idol der Spiele. Für Hitler und sein
Regime waren die Olympischen Spiele der beste Anlass, da die ganze Welt nach Berlin
blickte, allen zu demonstrieren, wie sehr sein Volk hinter ihm stand und ihm zujubelte.
(51) Rudi Cerne: Salt Lake 2002. XIX. Olympische Winterspiele. (Seite 162)
74 75
aufmerksamkeit im sport
Selbstverständlich nutzen auch die Einzelsportler vermehrt die Fernsehübertragungen und
die damit verbundenen Medienpräsenz zur Eigenwerbung und Vermarktung. Nicht selten
werden von Seiten der Athleten immer häufiger reine Selbstinszenierungen produziert. Mit
mehreren Olympia- und Weltmeistertiteln gehört Gail Devers international zu den TopLeichtathletinnen des vergangenen Jahrzehnts. Neben ihren sportlichen Erfolgen macht
die 36-jährige Amerikanerin besonders durch ihr auffälliges Äußere auf sich aufmerksam:
Ihre überlangen, farbigen Fingernägel, die man ohne weiteres spöttisch als Krallen bezeichnen könnte, sind inzwischen zu ihrem persönlichem Markenzeichen geworden, das
Sportfirmen wiederum für sich als ideale Werbeplattform entdeckt haben.
Verständlicherweise war in diesem Jahr die Medienpräsens an der Tour de France besonders hoch, da es sich um die Jubiläums-Rundfahrt durch Frankreich handelte. Da aber
auch hier das Interesse vorrangig auf den großen Fahrradrennställen mit ihren Tour-Favoriten und Superstars Lance Armstrong und Jan Ullrich lag, müssen kleinere Teams oder unbekanntere Radfahrer um ihr finanzielles Überleben kämpfen, so dass diese sich etwas
einfallen lassen müssen, um auch ein wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Deshalb
kam es bei den vorangegangenen »Großen Schleifen« noch nie zu so vielen Angriffen und
Attacken im Feld wie bei dieser Jahrhundertfahrt. Die Übertragunsgzeiten begannen zumeist schon beim Start, so dass solche Fahrer die Gunst der Stunde nutzen, um aus dem
Hauptfeld auszureißen. Und wenn es nur für ein paar Minuten war, in denen die Fernsehkameras sie als Spitzenreiter verfolgten, ernteten sie zumindest für diese kurze Zeit eine
fast ungeteilte mediale Aufmerksamkeit, so dass sie sich und ihre Teams für neue Sponsoren empfehlen konnten.
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aufmerksamkeit im sport
7.
Die praktische Arbeit – ein Aufmerksamkeit erzeugendes Erscheinungsbild
Ein jeder kennt sie, die Olympischen Ringe. Fünf an der Zahl, miteinander verbunden, die
Zum Aufstellen der Geräte
fünf Kontinente in den Farben Blau (Europa), Schwarz (Afrika), Rot (Amerika), Gelb (Asien)
So unterwegs in einem schönen Hechtsprung
und Grün (Ozeanien) symbolisierend. Sie stellen fraglos eines der bekanntesten Logos der
Erblickt er das Licht der Welt, das Leben,
Welt dar, denn seit Jahrzehnten begleiten sie das bekannteste Sportereignis der Welt –
Und hat – obwohl er damals doch noch recht jung –
die Olympischen Spiele. Das Logo ist mitunter der wichtigste Teil dieser Sportgroßveran-
Den Kniesturz übend und manch andre Tugend,
staltung, denn es garantiert den optischen Wiedererkennungs- und Zuordnungswert und
Verging ihm eine turnerische Jugend
fördert bzw. steigert es die Aufmerksamkeit, welche diesem globalem Ereignis beigemes-
Im Wachen teils und teils im Traum
sen werden soll. Auf allen Publikationen, bei allen Veranstaltungen, im Merchandising,
Und Freitagnachmittag am Schwebebaum.
überall taucht es als Bindeglied zwischen den Organisatoren und dem Publikum auf und
dies schon lange vor der eigentlichen Veranstaltung.
Vorturner wurde er und Löwenbändiger,
Seemann und Schornsteinfeger, Akrobat
Vor gut zwei Jahren hat das Nationale Olympische Komitee (NOK) von Deutschland be-
Und schließlich turnerischer Sachverständiger
schlossen, sich mit einer deutschen Stadt um die XXX. Olympischen Sommerspiele 2012 zu
Im transsibirischen Artistenrat.
bewerben. Am 12. April 2003 wurde bei einer spannenden TV-Liveübertragung in einer
Er las die Morgenzeitung stets im Handstand,
hochdramatischen Ausscheidungswahl die Bewerberstadt ermittelt, die für Deutschland
Vom Hang der Freiheit sprach sein roter Schlips.
ins Rennen gehen soll. Fünf Städte bzw. Regionen standen zur Auswahl: Stuttgart, Frank-
er glich – wie er im Turnsaal an der Wand stand –
furt Rhein-Main, Düsseldorf Rhein-Ruhr, Hamburg sowie Leipzig. Letztendlich setzte sich –
Dem allbekanntem Herkules aus Gips.
für einige sehr überraschend – der vermeintliche Außenseiter Leipzig im letzten Wahlgang
gegen Hamburg recht deutlich durch. Als Austragungsort der Segelwettbewerbe wurde die
Ostseestadt Rostock-Warnemünde bestimmt.
Inhaber aller silbernen Pokale,
Erwarb er sich den Franziskanerpreis
Und im August in Halle an der Saale
Mit diesen beiden Ostdeutschen »Zugpferden« versucht das NOK Deutschland die Olympi-
Die Jahnkokarde mit dem Lorbeerkreis.
schen Sommerspiele 2012 nach Berlin 1936 und München 1972 zum dritten Mal gegen
Ein zarter Kern in einer rauhen Schale.
hochkarätige internationale Konkurrenz nach Deutschland zu holen. Um die Austragung
der Olympischen Spiele bewerben sich acht weitere namhafte Metropolen wie die europäi-
Er hat sich mit dem Salto mortale
schen Hauptstädte Paris, London, Moskau, Madrid, sowie New York, Rio de Janeiro, Istan-
Aus dem Leben
bul und Havanna.
Über ein Felsengeländer
Ich habe mich entschlossen als gestalterische Diplomarbeit für dieses sportliche Großer-
Hinwegbegeben.
eignis, welches möglicherweise im Sommer 2012 in Leipzig ausgetragen werden könnte,
Joachim Ringelnatz
ein Erscheinungsbild zu entwickeln. Dabei ist es mir wichtig, mit dem neuen Corporate
Design ein national wie international Aufmerksamkeit erheischendes, einprägsames und unverwechselbares Erscheinungsbild zu kreieren, denn es geht um mehr als nur um ein Logo:
78 79
leipzig 2012
»Leipzig scheint meinen Träumen und Ahndungen wie der rosige Morgen jenseits den
waldigten Hügeln. In meinem Leben erinnere ich mich keiner so innigen prophetischen Gewißheit, wie diese ist, daß ich in Leipzig glücklich seyn werde.«
es betrifft den gesamten optischen Auftritt für »Leipzig 2012«, also alles, womit sich die
Friedrich Schiller
Stadt und das Land visuell darstellt. Alles, was auch immer die Olympischen Spiele in Leipzig betrifft, muss zumindest den Kern dieses Gesamtbildes enthalten. Man soll anschließend – selbst ohne das Logo zu sehen – am Stil der visuellen Sprache den Absender erkennen. Das Ziel meiner gestalterischen Arbeit ist es demnach, ein Gestaltungssystem zu
7.1.
Leipzig – eine vielseitige und Aufmerksamkeit würdige Stadt
entwickeln, bei dem das Logo lediglich den Kopf des gesamten Projekts darstellt. Deshalb
war es wichtig, vor der Entwicklung des Emblems und des damit verbundenen kompletten
Leipzig ist historisch betrachtet schon immer eine stolze Bürgerstadt gewesen. Das histo-
Erscheinungsbildes, eine genaue Zielsetzung für die Gestaltung zu geben. Die Anforde-
rische Stadtzentrum, umgeben von einem grünen Promenadenring, der den einstigen Ver-
rungsliste war dementsprechend umfangreich. Die Gastgeberstadt Leipzig und das Aus-
lauf der Befestigungsanlagen markiert, bildet dabei das lebendige Herz. Um das Jahr 1165
richtungsland Deutschland sollte mit dem Corporate-Design-Entwurf auf den ersten Blick
erhielt der Ort das Stadt- und Marktrecht, womit im Umkreis von etwa 15 Kilometern kein
erkennbar sein, genauso wie der angestrebte lockere und leichte Charakter der Olympi-
den Handel der Stadt beeinträchtigender Jahrmarkt abgehalten werden durfte. Für Leip-
schen Sommerspiele. Erreichen wollte ich, die unvergleichlichen Emotionen, die olympi-
zigs weitere Entwicklung zu einem Messeplatz ersten Ranges war das entscheidend. Die
schen Traditionen und Gedanken, die kulturellen, historischen, wirtschaftlichen und sport-
Entwicklung der Messe ging einher mit den Blütezeiten der Handelsstadt. Die Bürger Leip-
geschichtlichen Besonderheiten und Charaktere der Stadt Leipzig, sowie deren Motto
zigs förderten stets die Künste und die Wissenschaften. Das Gewandhausorchester, die
»Kompakt, Maßvoll, Intim« in den optischen Auftritt mit ein- und zusammenfließen zu
Deutsche Bücherei sowie bedeutende Privatsammlungen und Museen entstanden. Eine der
lassen. Ferner war es beabsichtigt mit diesem Zeichen und der damit verbundenen »visu-
ältesten Universitäten Deutschlands zog Studenten aus vielen Ländern des Kontinents an.
ellen Klammer« diese Ziele zu transportieren.
Der große deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe, der hier studierte, nannte Leipzig ehrerbietig »Klein-Paris«. Im 19. Jahrhundert wuchs Leipzig zu einer Großstadt euro-
Unkonventionell sollte es sein, nicht starr wirken, um die globale, mediale und sportliche
päischer Dimension heran, die innovativ auf die Entwicklung der Wirtschaft, Technik, Wis-
Aufmerksamkeit sowohl vor, als auch hauptsächlich während der Olympischen Spiele, auf
senschaft, Kultur und des Sports ausstrahlte.
dieses sich alle vier Jahre wiederholende Weltsportereignis zu lenken. Es sollte die Vorfreude auf hoffentlich fröhliche, heitere und begeisternde Wettkämpfe wecken, damit
Leipzig steht nicht nur in der gegenwärtigen Geschichte als die »Heldenstadt« der be-
schon im Vorfeld und während der Olympischen Spiele der Funke der Begeisterung zwi-
rühmten Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 für den Anfang der friedlichen DDR-Re-
schen Organisatoren, Gastgebern, Funktionären, Sportlern und Zuschauern überspringt
volution und dem damit verbundenen Mauerfall der innerdeutschen Grenzen und der dar-
und nicht nur nach dem bekannten Motto »Schneller – Höher – Weiter« gehandelt wird,
auffolgenden Wiedervereinigung im Blickfeld der weltweiten Öffentlichkeit, sondern ist
sondern vielmehr die Spiele nach dem bewährten, überlieferten, olympischen Ursprungs-
auch in der historischen Vergangenheit als »Freiheits-, Revolutions- und Reformations-
gedanken »Dabei sein ist alles« ausgetragen werden.
stadt« hervorgetreten. Schon 1953 versuchten sich die Bürger gegen das totalitäre, kommunistische Staatsregime der DDR zu wehren und erhofften sich durch einen Volksaufstand,
All diese Punkte will ich in dem neuen, umfangreichen und möglichst innovativem Corpo-
der sich über weite Teile des Landes ausbreitete, die politische Situation zu verändern.
rate-Design-Entwurf für »Leipzig 2012« zur Geltung bringen. Deshalb steht das Zeichen
Leider war dieses Volksbegehren zum Scheitern verurteilt, da es mit Hilfe sowjetischer
und das Erscheinungsbild ganz unter dem Motto:
Truppen blutig niedergeschlagen wurde. Ein weiteres von Freiheitsdrang geprägtes Wahr-
»Hand in hand feeling the fire in our hearts«.
zeichen Leipzigs ist der größte Denkmalbau Europas – das »Völkerschlachtdenkmal«. Mit
seinen 91 Metern Höhe steht es auf einem Hügel und ist weit über das Stadtgebiet hin-
80 81
leipzig 2012
weg sichtbar und erinnert an den siegreichen Freiheitskampf von 1813 gegen die Truppen
Personen wie Mendelssohn-Bartholdy, Schumann, Wagner, Eisler und vor allem Bach ha-
Napoleons, welcher als »Völkerschlacht bei Leipzig« in die Geschichte einging. Leipzig
ben Leipzig als »Musikstadt« weltbekannt gemacht. Vor allem den Beinamen »Bachstadt«
spielte auch in der Wirtschaft und im Handel frühzeitig eine führende Rolle. Der erste
verdankt sie dem Wirken Johann Sebastian Bach’s als »Director musices lipsiensis« und
weltweite Freihandelsplatz sowie die erste öffentliche Tageszeitung wurden hier gegrün-
Thomaskantor von 1723 bis 1750 und der Pflege seines Erbes durch das Bacharchiv, den
det. Genauso findet die bekannte »Leipziger Disputation« zwischen dem Reformator Mar-
Thomanerchor und das Gewandhausorchester. Der Thomanerchor ist vor über 800 Jahren
tin Luther und seinem Gegenspieler Dr. Johann Eck auf der Leipziger Pleißeburg sowie die
aus der gottesdienstlichen Kunstausübung am ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift her-
Einführung der Lutherischen Reformation in der Thomaskirche ihren Bezug in der Ge-
vorgegangen und ist heute im In- und Ausland sehr geschätzt. Das Mendelssohn-Haus ist
schichte der Stadt Leipzig.
die einzig erhalten gebliebene Wohnstätte des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy,
Sterbeort des Musikers und heute Museum unter anderem mit originalen Möbeln. Das Ge-
Die »Sachsen-Metropole« genießt vorrangig als anerkannte »Messestadt« seit über 500
wandhausorchester, das älteste bürgerliche Konzertorchester Europas, ist seit über 250
Jahren internationales Ansehen. Von Beginn an war Leipzig, was es noch bis heute bleiben
Jahren ein Inbegriff für die Stadt und erregt heute weltweit Aufmerksamkeit. Die Oper
sollte: eine »Handels- und Marktstadt«, deren wachsender Reichtum schon in der spätgoti-
Leipzig ist mit einer über 300-jährigen Operntradition die zweitälteste deutsche Musik-
schen Epoche begründet lag. Die bereits im 13. Jahrhundert weitbekannten Jahrmärkte
bühne, dem Erbe des gebürtigen Leipzigers Richard Wagners verpflichtet, und immer wie-
entwickelten sich um 1900 über die Grenzen Deutschlands hinweg zur »Mustermesse« von
der mit Ereignissen von europäischer Dimension aufwartend.
Leipzig. Seit der Verleihung des Messeprivilegs durch Kaiser Maximilian I. im Jahre 1497
wuchs Leipzigs Bedeutung als Messestadt beständig, aufgrund dessen sie auch durchaus
Aber auch landschaftlich hat Leipzig als »Wasser- und Auenstadt« sehr viel zu bieten. Den
als »Mutter aller Messen« bezeichnet wird. Bis heute strahlen die restaurierten Handels-
häufig angeführten und netten Beinamen »Klein-Venedig« hat es seiner zahlreichen Flüs-
häuser, Messehöfe und Passagen ein einziges Flair aus. Schließlich wurde zuletzt 1996 mit
se und Kanäle durch Elster, Pleiße, Parthe, Luppe und Saale zu verdanken. Leipzig verfügt
dem neueröffneten Messegelände das weltweit modernste und innovativste dieser Art in
über eine in Europa einmalige Park- und Auenlandschaft, die sich in einem großen, grü-
Betrieb genommen.
nen Gürtel längs durch die komplette Leipziger Innenstadt zieht. Die Flüsse bilden gemeinsam mit Bächen und Gräben das für Leipzig charakteristische natürliche Stadtbild.
1700 fiel der Stadt ein neuer Erwerbzweig zu. Bis dahin hatte Frankfurt am Main den Buchhandel beherrscht. Nunmehr begann Leipzig die führende Rolle auf diesem Sektor zu spie-
Als wichtiger Teil der Lebenskultur ist der Sport in Leipzig zu Hause. Leipzig kann auf eine
len. In diesem Zusammenhang entstand die weltberühmte Leipziger Buchmesse. Der Buch-
lange Sportära zurückblicken, so dass sie als die »Sportstadt« Nummer eins genannt wer-
druck wurde in der Pleißestadt mit Hilfe der Künste für Schrifttum weiterentwickelt und
den könnte. Dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt, die Austragung der Olympischen Spiele
perfektioniert sowie die Deutsche Bibliothek gegründet. Etwa 30 der 400 Verlage, welche
nach Leipzig zu holen. Bereits im Jahre 1498 soll erstmals in Leipzig ein öffentlicher
die »Buch- und Literaturstadt« Leipzig ursprünglich zum Zentrum des Buchhandels mach-
Schießwettbewerb mit Feuerwaffen stattgefunden haben. Leipzig – wie erwähnt umgeben
ten, sind in der Stadt verblieben, darunter so namhafte Verleger wie Brockhaus und Reclam.
von zahlreichen Flüssen – war früher auch ein Arbeitsort für viele Fischer. Mit dem Fische-
Gleichviel bleibt der kulturelle Beitrag Leipzigs zur deutschen Geistesgeschichte unverges-
stechen wurden öffentliche Wettbewerbe ausgetragen, 1714 mit einem Privileg offiziell
slich. An der 1409 gegründeten Universität haben Leibnitz, Lessing, Goethe und Nietzsche
genehmigt und somit erste öffentliche Volksbelustigung. Aus dem Jahre 1681 stammen
studiert, um nur ein paar der bekanntesten Namen zu nennen. Der Gasthof »Auerbachs
Informationen über das erste offizielle Pferderennen in Leipzig.
Keller« in der Mädlerpassage der Grimmaischen Straße ging in die weltbekannte Faustdichtung von Goethe ein.
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leipzig 2012
Geschichtsträchtig war die Gründung des Allgemeinen Turnvereins zu Leipzig 1848, die als
Deshalb bietet Leipzig den Olympischen Spielen und der Olympischen Idee von Pierre de
Beginn der Deutschen Turnerbewegung angesehen wird. 1882 wurde im Leipziger Zoo die
Coubertin, dem Begründer der Olympischen Bewegung der Neuzeit und dem ersten Präsi-
weltweit erste Radrennstrecke über knapp 300 Meter eröffnet, zwei Jahre später schließ-
denten des Internationalen Olympischen Komittes, genau 100 Jahre nach der ersten
lich der Bund Deutscher Radfahrer in Leipzig gegründet. Aus diesem Grund fanden alle na-
»Leipziger Goldmedaille« durch Heinrich Schomburgk, hier eine ideale Heimat. All dies
tionalen und internationalen Radwettbewerbe ihren Ursprung auf Leipziger Boden, selbst
sind schlagkräftige Argumente dafür sein, dass die »Freiheits-, Messe-, Buch-, Musik-, Kul-
der erste Radweltrekord wurde hier aufgestellt. Einen sportlichen Meilenstein setzte Leip-
tur-, Medien-, und Sportstadt« Leipzig der geeigneteste Austragungsort für Olympische
zig im Jahr 1900 mit der Gründung des Deutschen Fußballbundes – dem aktuell größten
Sommerspiele im Jahr 2012 wäre, um dann zusätzlich die Aufmerksamkeit als »Olympia-
Sportverbund der Welt. Nicht nur, dass bei der ersten Deutschen Fußballmeisterschaft der
stadt« auf sich, ihre Gäste und vor allem die internationalen Sportler zu lenken – zum
VfB Leipzig das Finale gegen DFC Prag gewann, sondern auch das 1956 eröffnete Zentral-
friedlichen und völkerverbindenden Weltsportereignis im Zentrum Deutschlands und im
stadion erreichte jahrzehntelang als »Stadion der Hunderttausend« und als größte deut-
Herzen Europas.
sche Fußballarena internationales Ansehen. Eben diese noch im Bau befindliche, modernisierte Sportstätte wird im Jahr 2006 Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft sein
und im Fokus der Weltöffentlichkeit wird in diesem Zusammenhang die offizielle Gruppenauslosung für die WM im Jahr 2005 auf dem neuen Messegelände in Leipzig über die TVMedien ausgestrahlt.
Die 1950 eröffnete Deutsche Hochschule für Körperkultur erlangte mit Dutzenden von
Olympiasiegern internationale Bekanntheit. Sportler aus mehr als 120 Nationen wurden
und werden über internationale Trainerkurse für den Spitzensport ausgebildet und trainiert. Die ersten olympischen Teilnehmer aus Leipzig starteten 1908 in London. Es handelte sich um einen Turner, einen Tennisspieler und zwei Leichtathleten. »Goldene Zeiten« erlebte die Stadt bereits vier Jahre später, als mit dem Tennisspieler Heinrich
Schomburgk der erste Leipziger im gemischten Doppel eine olympische Goldmedaille gewann. Zahlreiche, weitere Erfolge sollten folgen, denn in der olympischen Geschichte errangen Sportlerinnen und Sportler aus der Region Leipzig über 500 olympische Medaillen,
rund 300 davon waren »goldene«. Somit kann man ohne große Übertreibung mit Sicherheit behaupten, dass Leipzig die »medaillenreichste Stadt der Welt« sein dürfte und in
Leipzig der Sport wie auch seine Aktiven zu Hause sind.
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7.2.
Ein visuelles Erscheinungsbild für die Olympischen Spiele in Leipzig 2012
Olympische Sommerspiele in Leipzig 2012 sollen von Heiterkeit, Begeisterung, sportlichen
Darüber hinaus besitzen diese Farben Signalfunktion. Sie erzeugen Übersichtlichkeit und
Höhepunkten als auch olympischen Rekorden, vor allem aber durch ein friedvolles und
Transparenz und werden in der Öffentlichkeit – ob im Stadtbild, in den Medien, an und in
völkerverbindendes, gemeinsames Miteinander geprägt werden. Zum einen sollen diese
den Sportstätten oder durch die zahlreichen, die Spiele begleitenden Publikationen –
Ziele das folgende, von mir entworfene Konzept für ein mögliches visuelles Erscheinungs-
durch eine solche Farbdefinition aufmerksamer wahrgenommen und mit den Olympischen
bild erfüllen, zum anderen soll es durch Aufmerksamkeitsgewinnung und anschließender
Spielen eindeutig in Verbindung gebracht. Diese ausgewogene und harmonische Farbskala
Aufmerksamkeitsbindung, wie viele andere massenmedialen Angebote auch, in der globa-
vermag das optische Stimmungsfeld neben dem weiteren Primärelement – dem Logo – ab-
len Öffentlichkeit allgemeine Bekanntheit für die Olympischen Wettbewerbe als auch spe-
zustecken, in dem die Veranstaltung angesiedelt sein will. Die konsequente und ausgewo-
ziell für Leipzig und im Ganzen für Deutschland erlangen. Schließlich sollte das Corporate-
gene Anwendung der Farben Hell- und Dunkelgrün, Gelb sowie Dunkel- und Hellblau ga-
Design der XXX. Olympiade in Leipzig zur besseren Kommunikation während der Spiele
rantieren einen eleganten wie spielerischen Auftritt und gewährleisten den
beitragen und die Verständigung unter den teilnehmenden oder auch nur der vor den
Wiedererkennungswert der Olympischen Spiele von Leipzig 2012.
Fernsehbildschirmen gebannten Nationen erleichtern.
7.2.2. Die Embleme für Olympia 2012 – »Hand in hand feeling the fire in our hearts«
7.2.1. Das visuelle Farbklima – »Leipziger Sommerfrische«
Neben den Farben ist das offizielle Emblem für die Olympischen Spiele 2012 in Leipzig eiAusschlaggebend für die Wahl des Farbklimas waren die Stadtfarben des Austragungsortes
gentlich das wichtigste und vorrangigste Wiedererkennungsmerkmal, das durch seine öf-
Leipzigs als auch die Farbgebung des Landeswappens des Freistaates Sachsen. Die Farbtö-
fentliche Präsenz und einfache Allgemeinverständlichkeit eindeutig auf das Sportereignis
ne für das Erscheinungsbild erstrecken sich somit von Blau-Gelb für Leipzig bis zu Grün-
in Leipzig aufmerksam machen soll. Wie bereits erwähnt, erscheint ein solches Logo im
Gelb für Sachsen, wobei von mir zur besseren ästhetischen Atmosphäre dieser Olympiade
Zusammenhang mit »Leipzig 2012« immer und immer wieder auf und in allen Medien,
und zur Erzeugung von Leichtigkeit die Farben Blau und Grün jeweils in einen helleren
Publikationen und bei sämtlichen Ereignissen rund um die Olympischen Spiele.
und dunkleren Ton aufgespalten wurden. Dunkelblau ist die offizielle Hauptfarbe der Spiele in Leipzig und bestimmt das Design der visuellen Kommunikation, da es dominant und
Es zeigt in der Grundform eines Quadrates, ganz nach einem uns allgemein bekannten
plakativ zum Einsatz kommt. Die Farbgebung für die Austragungsstätte der Segelwettbe-
Werbespruch »Quadratisch, praktisch, gut«, das weltumspannende Symbol des »Olympi-
werbe in Rostock soll Dunkelgrün als Grundton markant sein. Gelb findet in beiden Fällen
schen Feuers« lodernd, knisternd und brennend in einer »L«-förmigen Schale. Die Olympi-
zur optischen Akzentuierung lediglich sekundär Verwendung.
sche Flamme wurde erstmals 1928 bei den Spielen in Amsterdam entzündet und steht
seitdem für die Reinheit und das Streben der Athleten nach Perfektion. Gleichzeitig wird
Gleichzeitig erzeugt diese Farbkombination aus den beiden Grundfarben Blau und Gelb so-
durch dieses »brennende« Sportlogo das Leipziger Grundmotiv der Spiele – »Hand in hand
wie der gemeinsamen Mischfarbe Grün die assoziativen Empfindungen von »Natürlichkeit,
feeling the fire in our hearts« – bildhaft verdeutlicht. Das weiße, »tanzende« Schriftzei-
Sportlichkeit, Sommerlichkeit und Fröhlichkeit«. Sie beziehen sich auf das spezifische
chen »L«, das die Schale des Feuers bildet, weist sogleich als Anfangsbuchstabe der Gast-
visuelle Klima Leipzigs mit seiner natürlichen Park- und Auenlandschaft – durchzogen von
geberstadt symbolisch und aufmerksam auf die traditionelle, kulturelle »Literatur-, Buch-,
zahlreichen Kanälen und Flüssen. Grün könnte beim Betrachter somit mit »Natur & Land-
und Schriftstadt« Leipzig hin. Es kann aber zusätzlich auch als ein stilisiertes, aufgeschla-
schaft«, Blau mit »Wasser & Himmel« und Gelb mit »Sonne & Fröhlichkeit« in Verbindung
genes Buch oder ein Häkchen – ganz nach dem Motto: »Leipzig als Olympiastadt – das
gebracht werden.
hört sich richtig an« – verstanden werden.
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7.2.3. Die Sportpiktogramme – »Die bewegten Buchstaben«
Zusätzlich ist das Logo mit dem handgeschriebenen Schriftzug »LEIPZIG 2012«, dem Hin-
Bei Großveranstaltungen, die in Form von großen Messen, Weltausstellungen oder inter-
weis auf die »xxxth olympic games« sowie dem Symbol der fünf Olympischen Ringe ver-
nationalen Sportwettkämpfen ausgetragen werden, haben zur reibungslosen Kommunikation
bunden. Die bereits erwähnte und vordefinierte Farbgebung von Blau, Gelb und Grün mit
besonders Piktogramme eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Für einen bestimmten Zeitraum
seinen Abstufungen kommt ebenfalls in diesem Zeichen zum Zwecke des Wiedererken-
kommt eine große Anzahl an Personen unterschiedlichster kultureller Herkunft und Spra-
nungswertes und der eindeutigen Zuordbarkeit erneut zum Tragen. Dabei ist zu beachten,
che unter einem meist reichhaltigen Programmangebot in einem Gastgeberland zusam-
dass die Übergänge zwischen den einzelnen Farben zusätzlich durch das illustrative und
men. Diese Menschenmassen müssen bei einer Olympiade durch begrenzte Areale oder
im gesamten Erscheinungsbild an verschiedenen Stellen erneut auftretende Grundmotiv
Stadien und Tribünen geleitet werden. Piktogramme sind in diesem Fall besonders geeig-
mehrmals überlagerter, brennender »Feuerflammenzungen« gestaltet wurde.
net, da sie eine reibungslose Informationsverbreitung garantieren und als unkomplizierte
Orientierungshilfe dienen. Durch ihre Einfachheit und Klarheit sowie durch ihre markante
Für die Ostseestadt Rostock als Austragungsort der Segelwettbewerbe wurde ein eigen-
Platzierung im öffentlichen Raum werden sie besonders augenfällig, gut wahrgenommen
ständiges Emblem entwickelt, das sich jedoch nur durch eine vertauschte Farbgebung vom
und verhelfen ohne große Anstrengungen von Informationsverarbeitung der besseren Ori-
»Hauptlogo« Leipzigs unterscheidet und somit die Zusammengehörigkeit beider Zeichen
entierung und Lagebeschreibung.
unverkennbar erhalten bleibt.
Grundsätzlich beziehen sich die Leipziger Sportpiktogramme auf die charakteristischen
Das Logo für die Paralympischen Spiele in Leipzig 2012 zeigt einen begeisterten, fröhli-
Bewegungen und Haltungen sowie auf typische, attributive Elemente – wie beispielsweise
chen Sportler, der die drei typischen paralympischen Behinderungsformen – Blindheit,
Sportgeräte – der jeweiligen Sportarten. Zusätzlich werden die Sportzeichen durch die
Amputation und Rollstuhl - in einer Person miteinader verbindet. Sowohl das bereits aus
konstante Anwendung gleichbleibender Elemente – dem deutschen Anfangsbuchstaben
dem Logo der Olympischen Spiele bekannte »L« als auch die quadratische Form fanden in
der jeweiligen Disziplin, der konstanten Farbigkeit und dem quadratischen Format – auf
diesem Emblem erneut Verwendung und wurden beibehalten. Ebenfalls erhalten blieb der
eine formal durchgängige Linie gebracht. Wie sich bereits das Hauptlogo mit dem »L« für
typografische Aufbau. Dadurch soll die »verwandtschaftliche Verbundenheit« zwischen
die Spiele in Leipzig auf die für Leipzig typische Basis des Buchstabens bezieht, wurde
den Paralympischen und den Olympischen Spielen verdeutlicht werden. Damit die Sport-
zum Ziel einer konzeptionellen und einheitlichen Linie auch bei den Piktogrammen erneut
veranstaltung jedoch ihre Eigenständigkeit behält, wurde eine neue Farbkombination ver-
auf dieses Wiedererkennungsmerkmal zurückgegriffen.
wendet. Zu dem bereits bekannten Dunkelgrün und Dunkelblau kam als dritte Farbe das
Rot. Die Farbigkeit des Zeichens beruht auf den drei Grundfarben Grün, Rot und Blau des
Ich versuchte typographisch, Schriftzeichen mit zusätzlichen Zeichenelementen zu verbin-
Paralympischen Logos, das drei Tropfen darstellt, welche den Geist, den Körper und die
den, um einzelne typische Bewegungen der Sportarten widerzuspiegeln. Dadurch ergibt
Seele symbolisieren sollen.
sich neben der rein visuellen Umsetzung der Sportart eine zweite Möglichkeit der erkennbaren »Entschlüsselung« der jeweiligen Sportpiktogramme über die Typographie. Die gleichbleibende Farbigkeit der kommunikativen Hauptfarbe Dunkelblau in Verbindung mit Gelb
des Sportlers und Weiß der begleitenden Sportgeräten als auch das konstante, quadratische Format helfen der besseren Kommunikation, so dass diese wichtigen Orientierungszeichen im möglichen »Chaos« des visuellen Angebots, gegen das sich die Piktogramme
während der Spiele ohne Frage durchsetzten müssen, die nötige Aufmerksamkeit zu Teil
kommt.
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7.2.4. Sekundärelemente der »visuellen Klammer«
7.2.5. Weitere Medien zu »Leipzig 2012«
Zu den Primärelementen des Logos und der Farbigkeit kommen noch weitere einheitliche
Der Briefbogen ist mit den gängigen Erscheinungselementen des Corporte Designs für
und durchgängige Gestaltungsprinzipen hinzu, die zum aufmerksamen Wiedererkennungs-
Leipzig 2012 gestaltet. Die Jahreszahlen der bisherigen Olympischen Spiele in Deutsch-
wert des Corporate-Design-Entwurfes für »Leipzig 2012« beisteuern:
land – 1936, 1972 und 2012 – dienen in einer Zeitlegende aller Olympiaden der Neuzeit
seit 1896 in Athen als Faltmarkierungen.
Die Hausschrift der Olympischen Spiele in Leipzig sollte modern und vielseitig verwendbar
sein. Ich habe mich deshalb für die Schriftfamilie der »ITC Officina« entschieden, deren
Die Leipziger Verbundenheit zwischen Musik, Literatur, Geschichte und dem Sport kommt
klarer, sachlicher zugleich aber auch ein wenig bewegter und jugendlicher Charakter das
in der Plakatserie »Leipziger SportKultur« sehr prägnant zum Ausdruck. Bekannte kulturel-
Konzept des kompletten Erscheinungsbildes typographisch unterstützt.
le Besonderheiten Leipzigs sowie berühmte Persönlichkeiten, die sich in der Vergangenheit um die Gastgeberstadt, der umliegenden Olympiaregion sowie um Rostock auf den
Die Papierformate setzten sich basierend auf dem Hauptlogo und den Piktogrammen stets
unterschiedlichsten Sektoren verdient gemacht haben, werden auf heitere und humoristi-
aus dem Prinzip des Quadrates zusammen, so dass alle Kommunikationsmedien mit einem
sche Art und Weise mit verschiedenen Sportarten in Verbindung gebracht und werben so
festen und klaren Gerüst an Formaten heraus gestaltet wurden.
auf ihre erfrischende Art für heitere, fröhliche als auch kulturell reizvolle Olympische Spiele in Leipzig.
Die definierte Farbskala erstreckt sich in allen Medien nach folgender fester Reihenfolge
von links nach rechts: Dunkelgrün, Hellgrün, Gelb, Dunkelblau und Hellblau. Im Anschluss
So erlebt man Johann Sebastian Bach beim Kanuslalom im Wildwasserbach sowie Georg
an diese als Band angeordnete Farbsortierung schließt sich meist rechts, direkt im An-
Friedrich Händel beim graziösem Synchronschwimmen zu seiner kleinen »Wassermusik«.
schnitt, in doppelter Höhe das Logo der Olympischen Spiele an.
Martin Luther beweist seine sportliche Wurfkraft beim Kugelstoßen, der Rostocker Gebhardt
Leberecht Blücher von Wahlstatt zeigt sein Talent im schwierigem Reitparcours und die
Als zusätzliches illustratives Gestaltungselement treten zusätzlich in weißer »Outline-Form«
Gegner beim Boxen bekommen reihenweise zu spüren, wie treffsicher Goethes »Faust« ist.
drei weitere florale Elemente auf. Es handelt sich dabei um die symbolischen Blätter eines
Selbstverständlich dürfen auch nicht der weltbekannte »Auerbachkeller«, das schmack-
Lindenbaumes, einer Eiche sowie dem Lorbeerblatt. Die Linde, als zentraler Baum auf
hafte »Leipziger Allerlei« sowie die typischen Schrebergärten, die ihren Namen dem Leip-
Marktplätzen in vielen Ortschaften stehend und als Tee trinkend gegen schweißtreibende
ziger Arzt und Pädagogen Daniel Gottlob Moritz Schreber zu verdanken haben, in dieser
Sportarten, begründete und befindet sich heute noch im Namen von Leipzig: Slawische
hoch Aufmerksamkeit erzeugenden »SportKultur«-Sammlung fehlen.
Siedler, die Sorben, die den Lindenbaum als zusätzliches Heiligtum verehrten, gründeten
im 7. bis 9. Jahrhundert Lipzk, den »Ort bei den Linden«. Erstmals wird um 1015 die
Knapp vier Milliarden Menschen verfolgten mit großer Aufmerksamkeit und Spannung das
deutsche Burg »Urbs Libzi« erwähnt, in deren Nähe eine Kaufmanns- und Handwerkersied-
Sportgeschehen der letzten Olympischen Sommerspiele 2000 in Sydney global auf den
lung entstand. Die Eiche und deren Blatt ist ein typisches, altes germanisches National-
Fernsehbildschirmen. Meist rund um die Uhr wurden weltweit insgesamt über 40 Milliar-
symbol und repräsentiert in diesem Zusammenhang die Gastgebernation Deutschland. Als
den Sendestunden verkonsumiert. Um die Sportübertragung allen Sprach- und Kulturkrei-
Hommage und zur Erinnerung an die Olympischen Spiele der Antike, bei denen die Sieger
sen gleichverständlich zu präsentieren, ist ein klar strukturierter, einheitlicher und allge-
lediglich mit einem Siegerkranz aus Lorbeerblättern geehrt wurden, komplettiert das Lor-
meinverständlicher Fernsehauftritt von Nöten, der sich selbstverständlich auch an dem
beerblatt das olympische »Blättertrio«.
Corporate Design von Leipzig 2012 widerspiegelt.
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8.
Schlusswort
Neben dem Aspekt, durch Farb- und Lichtgestaltung den festlichen Charakter der Spiele
Das Fazit meiner Ausführungen über den Gedanken der Aufmerksamkeit bringt mich zu der
hervorzuheben sowie ein typisches ästhetisches Klima durch Farb- und Formelemente zu
Überzeugung, dass die Auseinandersetzung und Beschäftigung mit diesem Thema in unserer
schaffen, sind für die visuelle Erscheinung der Sportstätten auch funktionale Gesichts-
heutigen Gesellschaft sehr aktuell und weit verbreitet ist. Da ist es nicht verwunderlich,
punkte zu berücksichtigen: sowohl unansehnliche Stellen in und an den Stadien können
dass gerade beim aufmerksamen »Durch-die-Welt-Schreiten« auffällt, wie in den zahl-
kaschiert als auch Wege und sportliche Areale besser gekennzeichnet werden. Dies wird
reichen Medien, in der Öffentlichkeit oder im persönlichem Umfeld die Aufmerksamkeit
erreicht durch Fahnengruppen vor den Sportstätten als auch durch dekorative Transparen-
sehr häufig thematisiert wird.
te und Banden in den Sportstadien bzw. an den Austragungsorten. Die Farbwahl orientiert
sich natürlich auch in diesem Fall an dem definierten Farbkodex der Olympischen Spiele.
Die brandaktuellsten Ereignisse aus der Politik führen uns augenscheinlich den bestehenden Kampf um die Aufmerksamkeit vor Augen. Der Wahlkampf aus dem US-Bundesstaat
Jede Eintrittskarte besteht aus einer Kombination von visuellen Elementen und ist unter-
Kalifornien um den Posten des Gouverneurs verdeutlicht den Wettstreit und die Auseinan-
teilt in mehrere Informationsfelder. Als Zeichen werden auf dem Ticket sowohl die Sport-
dersetzung um die Aufmerksamkeit, die mittlerweile hochprofessionell und von ganzen In-
piktogramme als auch die Buchstaben oder Zahlen für die Zugänge und die Sitzordnung
dustrien gefördert und geführt wird. Die mediale Aufmerksamkeit galt ohnehin nur einem
verwendet. Der vordefinierte Farbencode beschreibt eindeutig den Austragungsort der
der Kandidaten, dem Muskelpaket und »Terminator« Arnold Schwarzenegger, obwohl er
Sportveranstaltung, für welche die Eintrittskarte jeweils bestimmt ist. Außerdem besitzt
sich in einer illustren Bewerberriege um Pornoproduzenten und -stars sowie Exhibitioni-
jedes Ticket eine herauslösbare Chipkarte, mit der ein reibungsloser Zugang zu den Sport-
sten befand. Der Bekanntheitsgrad und die öffentliche Präsenz des Kandidaten, gebürtigen
stätten garantiert ist. Zusätzlich kann in diese kleine Chipkarte, auf der alle wichtigen Da-
Österreichers und Bodybuilders Schwarzenegger hat ihm, trotz einschlägiger Vorgeschich-
ten auf einem Magnetstreifen gespeichert sind, zur besseren Aufbewahrung ein Umhänge-
ten, den Weg zum Berufspolitiker geebnet. Dies lässt sich ebenfalls deutlich daran ablesen,
band eingefädelt werden.
dass an dessem Wahlsieg in den USA selbst die deutschen Medien mit Sondersendungen
und Live-Berichterstattungen aus Los Angeles versuchten, von dem großen »Kuchen« der
Den Olympiamedaillen soll das Grundmaterial des typisch sächischen »Weißen Goldes« zu
Aufmerksamkeit und des künstlich erzeugten Medieninteresses ein Stück abzubekommen.
Grunde liegen. Unter der Vormundschaft August des Starken, dem wohl bekanntesten Kurfürsten von Sachsen, erfand der Apothekergeselle Johann Friedrich Böttcher per Zufall das
»Günther Jauch hätte als Kandidat für ein politisches Amt [in Deutschland auch]
uns heute bekannte und heißbegehrte Hartporzellan und trug so maßgeblich zu Sachsens
gute Erfolgsaussichten: Fast jeder zweite Deutsche (49 Prozent) könnte sich den Fern-
weltweitem Ruhm bei. Die Siegermedaillien werden also in der weltberühmten Meißner
sehmoderator in einem wichtigen politischen Amt, etwa als Bundeskanzler oder als
Porzellan-Manufaktur produziert, mit Hilfe des handwerklichen Könnens bemalt und mit
Bundespräsident, vorstellen, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid
den jeweiligen Metallen Gold, Silber und Bronze umhüllt.
ergab. Auf Platz zwei liegt Sabine Christiansen (42 Prozent).« (52)
Dies ist nicht das einzige Beispiel, dass Moderatoren oder Schauspieler eine besondere
Chance haben, bis zum Präsidenten oder ähnlich hohen Ämtern in der Politik gewählt zu
werden – denke man nur an den ehemaligen »US-Schauspieler-Präsidenten« Ronald Regan
oder an den amtierenden, italienischen Ministerpräsidenten und in diesem Sommer in Europa für Aufsehen erregenden Medienmogul Silvio Berlusconi.
(52) Main-Echo. Unabhängige Zeitung für den Untermain. (Rubrik: Aus aller Welt)
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schlusswort
Die Medienpräsenz, welche nicht nur im Kulturbetrieb, der Werbung und der Popkultur
Krankheiten führen. Die Forscher haben in psychologischen Tests herausgefunden, dass
vorherrscht, hat sich auch in der Politik durchgesetzt. Die neuen pragmatischen Politiker
sehr kreative Menschen von vornherein kaum Eindrücke ausblenden, also eine geringe
nehmen das Medieninteresse in Kauf, ja sie fördern es sogar, indem jeder und jede ver-
Reizschwelle haben. Wenig kreative Menschen würden ein Objekt wahrnehmen und es dann
sucht, sich tagesaktuell mit neuen Reformvorschlägen und -alternativen zu profilieren.
wieder vergessen. Kreative dagegen seien immer offen für neue Möglichkeiten. Vorteilhaft
Nicht umsonst ist der Beiname »Medienkanzler« für den deutschen Regierungschef Ger-
sei eine niedrige Reizschwelle daher nur für sogenannte intelligente Personen, die fähig
hard Schröder entstanden. Er nutzt das tagesaktuelle und zum Teil oberflächliche Medie-
sind an mehreren Dingen gleichzeitig zu arbeiten. Nur sie könnten die vielen gleichzeiti-
ninteresse geschickt wie kaum ein anderer, weswegen er hauptsächlich auch als »Medien-
gen Informationen in neue Ideen umsetzen, so die Forscher. Für andere würde die Infor-
kanzler« bezeichnet wird. Er geht immer mit freundlichem Gesicht an Kameras vorbei und
mationsvielfalt leicht zur Reizüberflutung werden und sie würden beginnen, darunter zu
gibt dabei volksnahe Statements ab, die oft menschlich sind. Oder er bezieht sich auf ta-
leiden und krank zu werden. Deshalb lägen Genie und Wahnsinn so eng beieinander.
gesaktuell-unpolitische Themen, um von politischen Niederlagen oder Misserfolgen me-
In diesem Sinne ...
dienwirksam abzulenken. So etwas wird bewusst gemacht, das wird sicherlich zwischen
Referenten und Journalisten vorher abgesprochen, immerhin muss das ja vorbereitet in
... vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
die richtige Kamera gesprochen werden.
Beim Durchblättern der aktuellen Oktoberausgabe der Apotheken Illustrierten stieß ich
zufällig auf einen kleinen Artikel zu dem Thema Hirnforschung, in dem es darum ging, ob
der Mensch auf mehrere Dinge – und das im selben Augenblick – achten könne. Matthias
Müller, Professor für Psychologie an der Universität Leipzig, hat die bisherige Ansicht, das
Gehirn könne seine Aufmerksamkeit wie einen Lichtkegel nur auf einen einzigen Gegenstand in einem bestimmten Blickfeld richten, durch Messung der Hirnfunktion von Testpersonen widerlegt.
»Das Hirn kann mit mindestens zwei Lichtkegeln arbeiten. Linke und rechte Hirnhälfte
sind gleichberechtigt aktiv, wenn die Aufmerksamkeit gestreut wird« (53),
so Matthias Müller in diesem Bericht. Als Nächstes wolle er prüfen, ob sich auch eine
Hirnhälfte allein auf mehrere Punkte konzentrieren könne.
Beim »Surfen« durch das World-Wide-Web wurde ich schließlich vor kurzem auf folgenden
Beitag aufmerksam, der insbesondere für kreativ Schaffende von hohem Interesse sein
könnte: Je kreativer ein Mensch sei, desto offener sei er für neue Eindrücke – und damit
leider auch für Psychosen. Das behaupten Wissenschaftler um Jordan Peterson an den
Universitäten von Toronto und Harvard. Im Prinzip müssten wir Menschen viele Reize und
Eindrücke ignorieren, um mit der Umwelt zurecht zu kommen. Funktioniert diese Ausblendetechnik nicht, könne die Reizüberflutung zu Orientierungslosigkeit und psychischen
(53) Apotheken Umschau. Artikel: Wie unser Denkorgan doppelt Arbeit leistet (Seite 51)
94 95
schlusswort
9. Literaturverzeichnis
9.1. Publikationen
9.2. Internet
Georg Franck:
http://www.panikattacken.at/aufmerksamkeit
Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. – München: Carl Hanser Verlag, 1998.
Knut Hickethier, Joan Kristin Bleicher (Hrsg.):
Dr. Hans Morschitzky: Aufmerksamkeit.
http://www.heise.de
Aufmerksamkeit, Medien und Ökonomie. Beiträge zur Medienästhetik und Medien-
Zur Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit.
geschichte. Band 13. – Münster: Lit-Verlag, 2002.
Florian Rötzer im Gespräch mit Wolf Singer.
Jonathan Crary:
Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. –
http://www.wissen.de
Unter dem Suchpunkt »Aufmerksamkeit« aus dem Gabler Wirtschaftslexikon.
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2002.
http://www.amsterdam.nettime.org
Georg Franck:
Aufsatz: Ökonomie der Aufmerksamkeit. (Seiten 748-761).
Sehen in der kapitalistischen Moderne. Ein Gespräch mit dem amerikanischen
Kunsthistoriker Jonathan Crary, geführt von Tilman Baumgärtel.
In: Merkur Nr. 534/535, 47. Jg. – 1993.
http://www.heise.de
Stern. Das Deutsche Magazin.
Florian Rötzer: Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit.
Ausgabe Nr. 23/2003. – Hamburg: Grunder+Jahr Verlagshaus, 2003.
http://www.heise.de
Rudi Cerne:
Florian Rötzer: Aufmerksamkeit. Der Rohstoff der Informationsgesellschaft.
Salt Lake 2002. XIX. Olympische Winterspiele – Berlin: Sportverlag, 2002.
http://www.merz-zeitschrift.de
Main-Echo. Unabhängige Zeitung für den Untermain.
Florian Rötzer: Das terroristische Wettrüsten.
Ausgabe Nr. 274/2003. 11. Oktober 2003 – Aschaffenburg, 2003.
http://www.mysiemens.de
Apotheken Umschau. Das aktuelle Gesundheits-Magazin
Werbe- und Begleittext zum Handymodell Siemens M55
Artikel: Wie unser Denkorgan doppelt Arbeit leistet (Seite 51).
Ausgabe Nr. 10/2003. – Baierbrunn, Konradshöhe: Wort&Bild Verlag, 2003.
http://www.ebay.de
Klaus Beck, Wolfgang Schweiger (Hrsg.):
Attention please!: Online-Kommunikation und Aufmerksamkeit. Band 1. –
München: Reinhard Fischer Verlag, 2001.
96 97
literaturverzeichnis