Ein Mann sieht Rot - SPOX EURO 2016 Special
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Ein Mann sieht Rot - SPOX EURO 2016 Special
18-2015 I www.spox.com Neymar da Silva Santos Junior Ein Mann sieht Rot GÜNDOGAN CALCIO STORICO BORIS Kommando zurück Sieht sch.... aus, kann aber klappen. Rauhes Spektakel Ein Experte erklärt 500 Jahre Tradition. Haudrauf-Jubiläum Beckers erster Wimbledonsieg wird 30. SPOX eMAG Neymar Bei der Copa gingen die Gäule mit ihm durch. Die Folge: Rot, Sperre, Turnier-Aus. Der Vorfall zeigt: Neymar zu sein, ist nicht nur nicht leicht, sondern unmöglich. 01 Gündogan Eigentlich sollte er den BVB verlassen - und das möglichst in diesem Sommer. Doch Ilkay Gündogan fand keinen neuen Klub. Jetzt kommt die Kehrtwende und alles macht sich lustig über das vermeintliche Schmierentheater. Doch wieso eigentlich? 02 Calcio Storico 03 Jedes Jahr am 24. Juni ist Florenz fest in der Hand des Calcio Storico. Das Spiel, das entfernt an Fußball und Rugby erinnert, ist tief in der florentinischen Folklore verwurzelt. Gewissermaßen als Zeremonienmeister ist Filippo Giovannelli für das rauhe Spektakel verantwortlich. Im Interview erläutert der Historiker Ursprung, Entwicklung, Gefahren und Risiken. 04 Becker 30 Jahre ist es her, dass ein 17-jähriger Leimener Wimbledon eroberte. 05 US Open In Chambers Bay geht‘s zu wie in Barcelona `99. Dustin Johnson ergeht es wie den Bayern. 18-2015 I 02 SPOX eMAG Neymar und das Aus bei der Copa America Verrückte Welt von David Kreisl Ein Ausraster auf dem Platz sowie eine Attacke auf den Schiedsrichter in den Katakomben nach dem Spiel gegen Kolumbien kosten Brasiliens Nationalheiligtum Neymar die Copa America. Es ist nicht erst der jüngste Eklat um den Superstar, der zeigt: Neymar zu sein ist nicht nur nicht einfach - es ist unmöglich. Weit oben auf Neymars Facebook-Seite springt einem der kleine Werbe-Clip entgegen. Eine brasilianische Kleinfamilie ist da zu sehen, Mutter, Vater, Kind. Der dunkelgraue Kombi vor der schicken Stadtwohnung geparkt, vorfreudig auf dem Weg zum Familienausflug. Doch der Autoschlüssel dreht sich vergebens im Zündschloss, irgendetwas ist hier kaputt. Doch keine Panik! Für solche Fälle sind ja zum Glück Neymar und seine fachkundigen Kumpels von „Heliar Baterias“ da. Die tauschen so eine kaputte Autobatterie einfach aus. 24-StundenNotservice, versteht sich. Am Ende gibt‘s sogar noch ein Selfie mit dem Superstar. Laune, Auto und Ausflug sind gerettet. Man muss nicht viel weiter scrollen, bis Neymars Trikot in der Timeline auftaucht. Geformt von einem kroatischen Künstler aus Red-BullDosen. Das trifft sich besonders gut, wenn man den Brausehersteller ohnehin seinen Werbepartner nennen darf. Auch auf dem Cover des neuesten Pro Evolution Soccer ist der 23-Jährge zu sehen, wie er virtuell mit Stolz verkündet. Guarana Antarctica trinkt Neymar sowieso seit jeher mit großer Begeisterung und wenn man sich schnell genug bei Pokerstars mit dem Passwort „NEYMARJR11“ anmeldet, dann gibt es sogar ein Meet and Greet zu gewinnen. Bald wird Neymar 53 Millionen Fans auf Facebook haben. Seinen Followern hat der 23-Jährige in den letzten neun Posts fünfmal Werbung vorgesetzt. Mit ihm als Testemonial. Ein skurriles Schauspiel, das zeigt, dass Vater Neymar senior keine Sprüche klopft, wenn er seinen Sohn nicht als Fußballer oder Popstar betitelt, sondern als Firma. Zumindest in den sozialen Medien wurde es in den vergangenen Tagen ruhig um Neymar da Silva Santos Junior. Keine neuen Werbe-Clips, keine der zahlreichen gottesfürchtigen Einzeiler mehr, keine Bilder von Toren und Trophäen. Dafür türmten sich in der echten Welt die Schlagzeilen über ihn. Ausgerechnet er. Das Idol, der Triple-Sieger, derjenige, der seit Jahren die Hoffnung von 200 Millionen fußballverrückten Brasilianern auf seinen schmalen Schultern trägt, hatte sich einen derartigen Aussetzer erlaubt. Ein Frustschuss in den Rücken von Kolumbiens Pablo Armero und einen 18-2015 I 04 angedeuteten Kopfstoß gegen Jeison Murillo noch auf dem Feld, ein Griff in den Nacken und die Worte „Du willst auf meine Kosten berühmt werden, du Hurensohn“ gegen den Schiedsrichter Enrique Osses nach Ende des Spiels im Bauch des Estadio Monumental David Arellano. Von einem „Akt der Agression“ und einer glimpflichen Strafe sprach Alberto Lozada vom CONMEBOLDisziplinarkomitee, das Neymar für vier Spiele aus dem Verkehr zog: Das vorzeitige Copa-Aus für den Kapitän der Selecao. Begonnen haben soll alles aber schon früher am Abend, mit Juan Zuniga. Jener Spieler, der Neymar bei Brasiliens Heim-WM mit einem ungestümen Foul den dritten Lendenwirbel brach. Es folgten Anfeindungen, Morddrohungen - eine Hexenjagd schaurigen Ausmaßes gegen den Kolumbianer. Allerdings sahen 73.429 Zuschauer wenige Monate später, wie sich Neymar und Zuniga bei einem Freundschaftsspiel in Miami mit einer herzlichen Umarmung aussöhnten. Der Brasilianer trieb sogar seine Späße mit dem vermeintlichen Peiniger und nominierte Zuniga für die Ice Bucket Challenge. Und jetzt? „Ruf mich nachher an, um dich zu entschuldigen, du Hurensohn“, soll Neymar seinem Gegenüber vor wenigen Tagen mehrfach an den Kopf geworfen haben. Es sind Momente wie dieser, die zeigen, wie unmenschlich groß der Druck ist, dem sich der 23-Jährige aus Mogi das Cruzes ausgesetzt sieht. Neymar ist die Blaupause des Idols für eifernde Hinterhof-Kicker auf der ganzen Welt, eine Figur, die man sich für die Generation Playstation nicht besser ausdenken hätte können. Doch ist Neymar auch ein junger Mensch, der sich einer Welt ausgesetzt sieht, die auf ihre Weise extremer nicht sein könnte. Polarisierend, wertend, jeden Schritt observierend. Jederzeit kurz davor, zu explodieren. Randnotizen oder kleine Zwischenfälle? Die gibt es bei Neymar nicht. Als letzter schillernder Star der brasilianischen Nationalmannschaft ist der Angreifer längst ein nationales Heiligtum. Und trägt damit nicht nur eine fußballerische Bürde, die größer nicht sein könnte. Immer der unbekümmerte, zu Späßen aufgelegte Neymar zu sein, das ist unmöglich. Richtig oder falsch gibt es nicht, wenn es um Neymar geht. Es gibt nur beides, in den extremsten Formen. Anbetung und Ablehung, Verehrung und Hass. Als Neymar bei der WM vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Mexiko während der Hymne in Tränen ausbrach, spalteten sich die Fußball-Fans in zwei Lager. In die einen, die ergriffen waren von der Identifikation und Leidenschaft des jungen Brasilianers. Und in die, die ihm gute schauspielerische Künste und Effekthascherei unterstellten. Auch bei seinem aktuellen Verein Barcelona ist das nicht anders. Als Neymar im Saisonendspurt gegen Sevilla in der 73. Minute für Xavi ausgewechselt wurde, reichte eine abfällige Geste mit der Hand, um die Gazetten Land auf, Land ab verrücktspielen zu lassen. Neymar kennt den versammelten medialen Irrsinn um seine Person. Doch ist der Copa-Skandal nicht der erste Vorfall in der jüngeren Geschichte, der dem Wunderkind plötzlich Wind aus dem eigenen Lager entgegen wehen lässt. „Ich bin echt angepisst, wenn Schiedsrichter nicht richtig pfeifen“, schimpfte der Brasilianer selbst nach dem verhängnisvollen Spiel gegen Kolumbien. Das ganze Theater käme doch nur heraus, wenn man einen schwachen Referee einsetze. „Dann endet ein Spiel mit einer Rauferei!“ Mitstreiter und Befürworter waren selbstredend schnell gefunden. Das mit der langen Sperre sei doch alles nicht normal, polterte der brasilianische Verband. Sogar Vereinskamerad Lionel Messi vom Erzrivalen Argentinien „hätte es gerne gesehen, dass er bis zum Ende des Turniers dabei ist“. Und für Dani Alves war die Sache ohnehin sonnenklar: „Schuld sind die Schiedsrichter. Sie wissen, dass Neymar Persönlichkeit hat.“ Eine aufbrausende Persönlichkeit mag eine Erklärung sein. Eine überdurchschnittlich harte Spielweise mit vielen Fouls gegen den Brasilianer eine andere. Doch sind es keine Rechtfertigungen für ein derart „aggressives“ Verhalten, wie es Brasilien-Legende Ronaldo bei einer kleinen Schimpftirade im TV nannte: „Er akzeptiert nicht, was geschieht. Das ist etwas, das unter keinen Umständen toleriert werden darf. Wenn man das brasilianische Trikot trägt, darf man sich nicht so verhalten.“ Auch die rügenden Worte des sonst nicht als Lautsprecher bekannten Xavi im Rahmen der Triple-Parade des FC Barcelona passen in das momentane Bild des Superstars. „Er sollte ernsthaft darüber nachdenken, wie er sich zu verhalten hat“, sagte der Spanier über den feierwütigen Neymar. „Vielleicht werden solche Dinge in Brasilien akzeptiert, aber in Spanien ist das eine haarige Angelegenheit. Es ist ok, drei oder vier Bier zu trinken, aber die Busparade ist für die Fans, um ihnen zu danken und du kannst nicht einfach in deiner eigenen Welt sein.“ SPOX eMAG Die Spitze des skurrilen Treibens - und der letzte Beweis dafür, in welcher wahnsinnigen Welt sich Neymar bewegt - bildete ein Interview im Heraldo, in der die Mutter von Kolumbiens Carlos Bacca Neymar Prügel mit ihren High Heels androhte. „Wäre ich im Stadion gewesen!“ Doch so geht es für Neymar - der sich mit den pathetischen Worten, er würde „sterben“, wenn er weiter mit der Mannschaft trainieren, aber nicht spielen dürfte, endgültig von der Mannschaft und der Copa verabschiedet hat - unversehrt weiter. Für den, nach Tennis-Schönheit Eugenie Bouchard, vermarktbarsten Athleten der Welt, wie das Magazin SportsPro in seinem jährlichen Ranking festlegte. 2012 und 2013 stand er sogar an der Spitze dieser Liste - dank Werbedeals und Partnerschaften mit Nike, Red Bull, Beats, Castrol, Panasonic oder Volkswagen. Und Tenys Pe Baruel, dem offiziellen Fußdeo des Superstars. Eine komplette Liste ist das nicht, natürlich. Dem Draht zu seinen Anhängern schadet das alles aber nicht. Die Unterstützung für den Brasilianer ist ungebrochen - in der Heimat und beim FC Barcelona. Neymar ist eben perfekt inszeniert. Er dokumentiert sein Fußballer-Leben bis ins Detail, gibt so viele private Einblicke, wie nötig sind, um seine Follower und Fans bei Laune zu halten. Auch der Rattenschwanz, den sein Transfer vom FC Santos nach sich zog, der die Katalanen ins Chaos stürzte und bedeutende Köpfe rollen ließ, werden ihm nicht als Hypothek ausgelegt. Schließlich kann Neymar nichts für die dunklen Machenschaften hinter seiner Person, sagen dann die Fans. Er soll spielen, tricksen, Tore machen, deswegen ist er in Katalonien, deswegen schauen ihm die Leute gerne zu. So gerne sogar, dass Neymar im August angeblich ein neues Arbeitspapier unterschreiben soll. Bis 2020, mit zwölf Millionen Euro Netto-Gehalt und einer festgeschriebenen AblöseSumme von 250 Millionen Euro. So macht sich der Brasilianer im Schatten des nichtsportlichen Wahnsinns, der den 23-Jährigen umweht, drauf und dran, in die oberste Riege der Fußballer aufzusteigen. Unter dem Strich ist Neymar ja auch nicht dazu da, den Familienurlaub mit einer neuen Autobatterie zu retten, zu pokern oder Modell zu stehen. Sondern, um Fußball zu spielen. Und - das geht bei der perfekten Marke Neymar gerne unter: Das kann er so gut wie wenig andere. 18-2015 I 06 Kehrtwende im Fall Gündogan Echte Chance von David Kreisl Ilkay Gündogan weigerte sich, seinen Vertrag bei Borussia Dortmund zu verlängern, der Klub pochte auf einen Verkauf. Dass nun beide Seiten zurückrudern, mag im ersten Moment wie ein fadenscheiniges Schmierentheater anmuten. Doch tun sich für Gündogan und den BVB große Chancen auf. Was dieser Ilkay Gündogan doch für ein Raffzahn ist, oder? Aber da hat er sich ganz schön verzockt, der Gute, mit seinen Gehaltsforderungen. So lange verletzt, und dann denkt der, er könne sich einfach einen Spitzenklub aussuchen und dann so mir nichts dir nichts hingehen. Und jetzt will sein Berater das Ganze retten mit irgendwelchen Ausreden. Und auch der BVB! Peinlich ist das ja schon. Kündigen die beleidigt an, den Gündogan auf jeden Fall zu verkaufen, weil ablösefrei niemand mehr abgegeben wird. Und jetzt? Kriegen sie ihn nicht los und müssen ihn behalten. Oder sogar verlängern mit einem, der am liebsten weg wäre. Also echte Liebe sieht anders aus... So denken viele. Auf dem Bolzplatz, am Stammtisch, in den sozialen Netzwerken. Fußball-Deutschland hat sich festgelegt. Ein Imageschaden für Spieler und Klub sei die plötzliche Kehrtwende im Fall Gündogan, der aller Voraussicht nach und allen Beteuerungen zum Trotz wohl auch kommende Saison bei Borussia Dortmund spielen wird. Doch es bleiben Fragen. Was die nahende Zweckehe für beide Seiten wirklich bedeutet, zum Beispiel? Oder: Wie viel Schuld hat der in Ungnade gefallene Gündogan tatsächlich an der Posse? Am Anfang war da nämlich der BVB, der - freilich mit gutem Recht - auf seine Planungssicherheit drängte und eine Entscheidung von Gündogan forderte. Einen zweiten Fall Lewandowski sollte es nicht mehr geben, Leistungsträger sollen bitteschön Geld in die Kassen spülen, wenn sie den Verein verlassen. Also hieß es: Gündogan bleibt langfristig, oder Gündogan muss weg. Verlängerung oder nix, sozusagen. Onkel Ilhan sagte jetzt der Süddeutschen Zeitung, dass es nie ernsthafte Verhandlungen mit dem BVB gegeben habe. Frühzeitig und fair, so Gündogan selbst, habe man die Borussia darüber in Kenntnis gesetzt, nicht über 2016 hinaus zu verlängern. Und die Schwarzgelben? Die waren not amused und taten ihr übriges, in dem sie Ende April eine lieblose Pressemitteilung versendeten. SPOX eMAG 18-2015 I 08 „Zusammenarbeit zwischen Borussia Dortmund und Ilkay Gündogan endet spätestens 2016“, stand da als Überschrift. Weiter: „Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund und Mittelfeldspieler Ilkay Gündogan werden nicht über den 30. Juni 2016 hinaus zusammenarbeiten.“ Absatz. „Gündogan hat sich entschieden, seinen bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Vertrag beim achtmaligen Deutschen Meister nicht zu verlängern.“ Punkt. Aus. Keine nett gemeinten Wünsche für den zukünftigen Weg des Mittelfeldspielers. Kein Wort des Dankes für vier Jahre BVB. Oder dafür, dass er den Klub als Führungsspieler zur Krönung des rasanten Aufstiegs unter Jürgen Klopp 2013 bis ins Champions-League-Finale geführt hatte. Mit Auftritten, die nicht weniger waren als Weltklasse. Damals, vor zwei Jahren, ja, da hätten sie Gündogan alle mit Kusshand genommen. Alle, die ihn auch jetzt haben wollten: Die Bayern, Barcelona und Manchester United. Auch Real Madrid. Und wie sie alle heißen. An potenziellen Interessenten soll es nach wie vor nicht mangeln. Nur an den ernsthaften Absichten selbiger. Einen Gündogan kann man holen, aber für diesen Preis? Von einer ordentlichen zweistelligen Millionensumme ist immer wieder die Rede, wenn es um den Nationalspieler geht. Irgendwo zwischen 20 und 30 Millionen soll die sich wohl einpendeln, wenn es nach dem Gusto der BVB-Verantwortlichen geht - die Gündogan damit augenscheinlich unüberwindbare Steine in den Weg gelegt haben. Dieses Preisschild schreckt ab. Als zu groß empfindet man in den Fußballhochburgen von München bis Barcelona die Unsicherheit, die ein Transfer mit sich bringen würde. Gündogan hat ein Jahr Restvertrag, war 14 Monate verletzt. Er bangte zwischenzeitlich um seine Karriere und hinterließ auch beim in der vergangenen Saison kollektiv kränkelnden BVB keine Nachweise, auch nur annähernd seine alte Stärke wiedergefunden zu haben. So viele Millionen? Nicht für so viel Risiko. Auch das Kandidatenfeld für den nächsten Karriereschritt erleichtert Gündogans Lage nicht wirklich. In München will man ihn nicht mehr, Barcelona darf keine Transfers tätigen und Real ist schon länger vom Radar verschwunden. Bleiben eine Hand voll Vereine aus der SPOX eMAG das Image nicht komplett ruiniert werden, sollte sich kein Abnehmer mehr finden. Und danach sieht es momentan tatsächlich aus. Doch ist mehr dran an diesen Aussagen, als man mit der gesamten Posse im Hinterkopf zunächst denken mag. Und die Situation, so skurril und unglücklich sie anmutet, birgt auch Chancen. Große sogar, für beide Seiten. Zumindest, wenn Ilhan sagt, dass einiges dafür sprechen würde, „dass Ilkay es in einem gewohnten, angenehmen Umfeld leichter fällt, wieder auf sein altes Niveau zu kommen“, ist das nur logisch und nachvollziehbar. Neue Stärke unter einem neuen Coach - das klingt realistischer, als ein Konkurrenzkampf mit Ivan Rakitic und Sergio Busquets. Zumindest in der aktuellen Verfassung. Und auch der BVB gewinnt. Nämlich einen Mittelfeldspieler mit Weltklasse-Anlagen, der die Zentrale um Gonzalo Castro, Nuri Sahin, Sven Bender und Oli Kirch qualitativ nicht nur bereichert, sondern in Top-Form die unangefochtene Spitze bildet. Zumal die Westfalen den Poker um ihr Objekt der Begierde für die Zentrale, Johannes Geis, ausgerechnet gegen Schalke 04 verloren haben. Premier League. Wenigstens ein bisschen heiß war maximal vielleicht der Flirt mit Manchester United. Das war‘s. Ein fast aussichtsloser Markt, auf dem sich Gündogan verzockt hat. Nun ist das im Fußball-Geschäft an der Tagesordnung. Doch sind es Vorgänge, die im Regelfall im Hintergrund ablaufen. Im stillen Kämmerchen und den geschützten Büros, ohne, dass jemals ein Fan oder Journalist davon Wind bekommt. Gündogan durfte seinen Marktwert in einem ellenlangen Theater dagegen in aller Öffentlichkeit ausloten. In einer denkbar ungünstigen Situation, nach langer Verletzung, in einer Form-Krise. So wurde er schnell zum Buhmann. Zum Raffzahn, der die Bayern vergraulte, weil er zehn Millionen Gehalt forderte. „Wir haben mit Bayern München mit keiner Silbe über Geld gesprochen“, beteuert der Onkel. Glaubt man der SZ, steht mittlerweile sogar eine Verlängerung über zwei Jahre im Raum. Denn: „Es war immer klar, dass Dortmund eine Ablösesumme zusteht. Auch als Zeichen der Dankbarkeit dem BVB gegenüber“, so Onkel Ilhan. Das könnte die Situation für den wechselwilligen Gündogan mit einer noch höheren Ablöse zwar in Zukunft verkomplizieren. Doch wird das weder die BVB-Verantwortlichen, noch die Fans oder einen potenziellen Abnehmer stören, sollte Gündogan in seinem Wohnzimmer wieder zu dem werden, was er vor zwei Jahren war: Einer der besten Mittelfeldspieler der Welt. Deshalb sei „ Dortmund ganz klar wieder eine Option“, wenn es nach Ilhan geht. Und nach Ilkay, der im Asien-Urlaub weilend so von Thomas Tuchels Ideen angetan sein soll, dass er „sich jetzt Gedanken macht“. Viel Heuchelei mag man im ersten Moment in den Aussagen erkennen können. Das Gesicht soll gewahrt, 18-2015 I 10 SPOX eMAG Calcio Storico Fiorentino „Gebrochene Knochen gehören dazu“ Jedes Jahr am 24. Juni ist Florenz fest in der Hand des Calcio Storico. Das Spiel, das entfernt an Fußball und Rugby erinnert, ist tief in der florentinischen Folklore verwurzelt. Gewissermaßen als Zeremonienmeister ist Filippo Giovannelli für das rauhe Spektakel verantwortlich. Der Historiker und Autor kennt sich wie kaum ein anderer mit der Geschichte der toskanischen Metropole aus. Im Interview mit Andreas Inama spricht Giovannelli über den kulturellen Ursprung, die Entwicklung, Gefahren und Risiken des Calcio Storico. SPOX: Herr Giovannelli, Sie gelten als der Experte schlechthin für den Calcio Storico Fiorentino. Wie sind Sie zu diesem Sport gekommen? Filippo Giovannelli: Ich lebe in dieser Stadt und bin schon seit jeher ein Liebhaber der florentinischen Folklore. Besonders der Calcio Fiorentino hat es mir angetan, aber weniger der sportliche Aspekt, sondern das Historische dahinter. Überhaupt kann man nicht von einem Sport sprechen. Es ist eine Volkstradition. SPOX: Beschreiben Sie uns bitte das Spiel. Giovannelli: Es wird auf einem Sandplatz gespielt. Heute ist das Feld exakt 70 Meter lang und 35 Meter breit. Es treten zwei Mannschaften gegeneinander an, die jeweils aus 27 „Calcianti“ bestehen. Das Ziel des Spiels ist es, den Ball an das andere Ende des Feldes zu befördern und dort im Tor unterzubringen. Diese Regeln wurden von Giovanni de‘ Bardi im Jahr 1580 festgelegt. SPOX: Hat sich das Spiel seitdem geändert oder hat es seine ursprüngliche Form beibehalten? Giovannelli: Das Spiel selbst hat sehr wenige Regeln und das ist auch so geblieben. Der Ball muss einfach auf die andere Seite. Dabei sind alle Mittel erlaubt. Es wird gerungen, geboxt, gestoßen - alles, nur um den Gegner aufzuhalten. Es gibt zwar Schiedsrichter und die Mannschaftskapitäne, die für Ordnung sorgen, jedoch kommen die fast nur zum Einsatz, wenn es zu Raufereien kommt, die über das Sportliche hinausgehen. SPOX: Und das ist seit fast einem halben Jahrtausend so? Giovannelli: Geändert hat sich nur die Organisation. Heute findet jedes Jahr ein Turnier statt, an dem Mannschaften aus den vier 18-2015 I 12 historischen Vierteln von Florenz teilnehmen. Es werden zwei Halbfinals und schließlich ein Finale ausgetragen. Der Sieger erhält als Preis ein Chianina-Kalb. Früher hat sich die Mannschaft das Kalb untereinander aufgeteilt, heute hat es nur noch symbolischen Wert. In Anlehnung an den 17. Februar 1530 wird heute in der Kleidung aus dem 16. Jahrhundert gespielt. SPOX: Gibt es unterschiedliche Taktiken und Strategien, die die Mannschaften anwenden oder wird einfach drauf los gerannt? Giovannelli: Jede Mannschaft hat einen oder zwei Trainer, die sehr erfahren im Bereich des Calcio Storico sind. Seit 1930 hat man sich durchaus Taktiken zurechtgelegt. Außerdem gibt es auch Positionen wie beim Fußball: Es gibt die „Datori Indietro“, die man mit Torhütern vergleichen kann, die „Sconciatori“, so eine Art Mittelfeldspieler, und die „Datori Innanzi“, die Angreifer. SPOX: Sind die Mannschaften wie Vereine organisiert oder werden da jedes Jahr neue Teams zusammengewürfelt? Giovannelli: Die Mannschaften repräsentieren die vier historischen Viertel von Florenz: Die Blauen kommen aus dem Viertel Santa Croce, die Weißen aus Santo Spirito, die Grünen aus San Giovanni und die Roten aus Santa Maria Novella. Die Mannschaften sind wie sportliche Vereinigungen organisiert. Es wird das ganze Jahr trainiert und schließlich werden die Spieler ausgewählt, die die Spiele austragen. Es gibt eigene Trainingszentren und -plätze, auf denen der Wettkampf vorbereitet wird. SPOX: Die Einwohner der Viertel nehmen leidenschaftlich teil. Gibt es Fangruppierungen wie etwa im Fußball? Giovannelli: Natürlich, viele Menschen kommen jedes Jahr zur Piazza Santa Croce, um die Calcianti anzufeuern. Es ist zwar zum Teil auch eine Touristenattraktion, aber das Gros der Fans sind Florentiner, Menschen aus den Vierteln und Familienmitglieder, die ihre Mannschaft anfeuern. SPOX: In Spanien gibt es die Stierkämpfe, die ob ihrer Zurschaustellung von Gewalt be- SPOX eMAG sonders in der Kritik stehen. Nun ist Gewalt auch im Calcio Storico ein Charakteristikum. Gibt es Gegner, die das Spiel verbieten lassen möchten? Giovannelli: Es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen Volkstraditionen und Festen, bei denen Tiere beteiligt sind und zu Schaden kommen, und einem Sport wie diesen. Es sind Menschen, die daran teilnehmen - Männer, die wissen, welcher Gefahr sie sich aussetzen. Sie sind sich der Risiken bewusst und niemand zwingt sie mitzumachen. Tiere können sich das nicht aussuchen. Außerdem ist diese Tradition so fest verwurzelt und alt, dass es noch nie Kritik gab. Es gibt durchaus häufig schlimmere Verletzungen, aber die Teilnehmer kennen die potentiellen Konsequenzen schon vorher. Knochenbrüchen. Aber auch das passiert eher selten. Auch in einem normalen Fußballspiel kann es zu Unfällen mit Verletzungsfolge kommen. SPOX: Gibt es eine medizinische Notfallversorgung? Giovannelli: Am Spielfeldrand stehen Ärzte und Sanitäter, die auf das Spielfeld kommen, falls es zu Zwischenfällen kommt. Tödliche Verletzungen gab es noch nie, wir sprechen hier höchstens von Bewusstseinsverlust oder SPOX: Sie sprechen das Jahr 1530 an. Das Spiel wurde eingeführt, als Florenz belagert wurde. Wie kam man dazu, eine solche Veranstaltung in so prekärer Lage ins Leben zu rufen? Giovannelli: Eigentlich gab es den Calcio Fiorentino schon länger, es wurden schon vor SPOX: Knochenbrüche und Bewusstseinsverlust. Das klingt nach einem echten Männersport. Gibt es auch einen Calcio Storico für Frauen oder haben Frauen schon an der Veranstaltung teilgenommen? Giovannelli: 1530 - das Jahr, an das die Veranstaltung erinnern soll - haben nur Männer teilgenommen. Daher verlangt es die Tradition, dass nur Männer auf dem Platz stehen. Außerdem wird das Spiel sehr hart geführt und Frauen könnten sich dabei nur schwer durchsetzen. Deswegen nehmen auch keine am Spiel teil. 18-2015 I 14 SPOX eMAG diesem berühmten 17. Februar 1530 Spiele organisiert. Jener Tag dient nur als Vorlage für den heutigen Event. Im Jahr 1490 war zum Beispiel der Arno (Fluss durch Florenz, Anm. d. Red.) zugefroren und so organisierte man Partien auf dem Eis. Es wurde auch zu besonderen Anlässen gespielt, wenn Botschafter von anderen Städten nach Florenz reisten oder während des Karnevals. SPOX: Was hat es dann mit der Partie aus dem Jahr 1530 auf sich? Giovannelli: Wie schon erwähnt wurde Florenz belagert. Kaiser Karl V. hatte 1529 im Auftrag von Papst Clemens VII. die Stadt belagert, um seinen Verwandten, der Familie De Medici, die Macht über Florenz zurückzugeben. Florenz hatte diese vertrieben und war mittlerweile eine Republik. Aus Trotz organisierte man im Februar in der Stadt dieses Spiel, um den Belagerern zu zeigen, dass sie den Einwohnern von Florenz gleichgültig sind. Aber der Stadt ging es zu diesem Zeitpunkt schon schlecht, die Menschen litten Hunger und im Laufe des Sommers wurde Florenz erobert. Die De Medici wurden wieder als Machthaber installiert. SPOX: War es ein Spiel des Adels oder spielte auch das „gewöhnliche“ Volk? Giovannelli: Durchaus spielte der Adel, aber auch Männer anderer sozialer Schichten organisierten Spiele. Es war ein Spiel des Volkes, das zu besonderen Anlässen organisiert wurde. SPOX: Also kam es auch vor, dass Adelige gegen Menschen spielten, mit denen sie sonst ob der sozialen Unterschiede nie in Kontakt kamen? Giovannelli: Absolut. Da kam auch die Eigendynamik des Sports am besten zum Ausdruck: Ein Herr konnte nicht einfach den Ball von seinen Untergebenen verlangen und musste das ein oder andere Mal einiges einstecken. Außerdem war es besonders zur Zeit der Republik zwischen 1527 und 1530 so, dass die Adeligen sich nicht in so extremem Maße vom städtischen Leben abgesondert hatten. Sie nahmen nur eine andere Rolle als der Rest ein. Auf dem Feld gab es dann gar kei- ne Unterschiede mehr. Der Adel hatte keine Privilegien auf dem Platz. SPOX: Im 18. Jahrhundert fand dann das letzte offizielle Spiel statt, anschließend wurde das Spiel für fast 200 Jahre nicht mehr gespielt. Wieso? Giovannelli: Die letzte traditionelle Partie fand 1749 in Livorno statt. Die Familie De Medici starb aus und die Macht über Florenz ging an Franz Stefan I. von Lothringen, den Ehemann von Maria Theresia. Die Tradition verflüchtigte sich, man spielte nicht mehr. Es gab dann einzelne Events, wie 1898 oder 1902. Endgültig wieder aufgenommen wurde die Tradition im Jahr 1930. Damals gab es in der Toskana eine Bewegung, die alte Traditionen wieder aufleben ließ, wahrscheinlich auch unter dem direkten Einfluss des Faschismus. SPOX: Welchen Wert hat diese Tradition für die Stadt heute? Konzentriert sich das Interesse nur auf Florenz oder ist es ein über die Grenzen der Stadt beliebter Event? Giovannelli: Eigentlich konzentriert sich das Ganze nur auf Florenz. Diese Tradition ist tief in der florentinischen Gesellschaft verwurzelt und die Menschen aus den vier Vierteln hängen sehr an ihren Mannschaften. Die Teilnehmer, ob Spieler, Musiker oder das Rundherum, arbeiten das ganze Jahr auf dieses Spektakel hin. Die Familien der Teilnehmer binden sich mit ein und die Einwohner der Viertel feiern ein richtiges Fest. International sind eigentlich nur unsere Choreografien bekannt. Fast 530 Personen nehmen ausschließlich an der Parade teil, die an Militärparaden aus dem 16. Jahrhundert erinnern soll. Mit diesen Paraden haben wir schon die ganze Welt bereist, wir waren auf jedem Kontinent. Das Spiel selbst ist nur selten außerhalb der Grenzen von Florenz ausgetragen worden. 18-2015 I 16 SPOX eMAG Par-10 zur US Open Wie Camp Nou`99! von Florian Regelmann Jordan Spieth gewinnt nach dem Masters auch die US Open in Chambers Bay und ist auf dem Weg zum Grand Slam. Dustin Johnson ergeht es dagegen wie den Bayern 1999. Das Par-10 schreibt einen Brief an Tiger Woods und beschäftigt sich mit existenziellen Fragen: Broccoli oder Blumenkohl? Und: Hör mal, wer da hämmert und der schwindelige Superman! 10. Hör mal, wer da hämmert „From Houston, Texas. Cole Hammer!“ COLE HAMMER. Schon vor der Woche war längst klar: Wer den coolsten Namen im Sport hat, der kommt logischwerweise automatisch ins Par-10. Wenn Du dann noch ein 15-jähriger Milchbubi und damit der drittjüngste Spieler in der Geschichte der US Open bist und wenn Du dann in Runde eins eben als 15-jähriger Milchbubi noch drei Schläge besser scorst als Tiger Woods, dann erst recht. Dass Hammer nach seiner 77 an Tag eins in Runde zwei zerlegt wurde (84), spielt überhaupt keine Rolle. Hammer erlebte die Woche seines Lebens, die sogar noch eine Proberunde mit seinem Idol Jordan Spieth beinhaltete. Da hatte Spieth tatsächlich mal jemanden gefunden, der so jung ist, dass er zu ihm aufschauen kann - schon geil. Neben Hammer sollen aber auch einige andere Young Guns erwähnt werden, die vor einer großen Zukunft stehen könnten. Insgesamt sechs Amateure schafften den Cut. Brian Campbell spielte zwei Runden in den 60ern und landete in den Top 30. Ollie Schniederjans (schon wieder so ein lässiger Name) schrieb an 4 Tagen 17 Birdies auf die Scorekarte. Und: Er ist bei der Frage „Haust Du den Ball so weit wie Dustin Johnson?“ einer der ganz wenigen Menschen, die tatsächlich die Hand heben dürfen. 9. Deutschland/Österreich: zero points! Was soll man zu Martin Kaymer, Marcel Siem, Stephan Jäger und Bernd Wiesberger nach dieser US Open großartig sagen? Alle verpassten den Cut und Aufregendes war jetzt auch nicht gerade dabei. Es war sogar so langweilig, dass Siem an zwei Tagen völlig untypisch nur Pars, Birdies und Bogeys spielte. Wiesberger machte sich dagegen mit drei Katastrophen-Löchern alles zunichte. Jäger war ohnehin einfach froh, mal bei einem Major dabei zu sein. Und Kaymer? 18-2015 I 18 Der setzte seine enttäuschende Saison weiter fort. Den Anspruch, den man an einen zweifachen Major-Sieger hat, dass er zumindest meistens bei den großen Events irgendwo vorne dabei ist, kann er im Moment leider nicht erfüllen. Er ist aber erstens gefühlt nicht weit davon entfernt, dass es bald wieder klick macht. Und zweitens ist er Martin Kaymer. Wenn er in den nächsten Wochen plötzlich anfangen würde, wieder (große) Turniere zu gewinnen, würde das auch niemanden überraschen. Hoffen wir, dass es so kommt! 8. Broccoli vs. Blumenkohl Die Browns von Chambers Bay. Sie werden in die Geschichte eingehen. Dass sich Spieler bei einer US Open über den Platz aufregen, gehört dazu und soll so sein. Aber was wir in dieser Woche gesehen und gehört haben, war nicht mehr feierlich und schaukelte sich zu Hass hoch. Henrik Stenson verglich die Grüns mit Broccoli, Rory McIlroy konterte mit Blumenkohl. Geht es nach Ernie Els, weilen einige der Grüns auch gar nicht mehr unter uns (seinen Berechnungen nach sind vier Grüns tot). Justin Rose bezeichnete das Putten darauf als Outdoor-Bingo, Sergio Garcia meinte, dass die NBA Finals ja auch nicht auf einen Korb ohne Backboard gespielt werden (hat er per se mal Recht...). Als am Samstag nicht weit entfernt ein Feuer in einem Warenhaus ausbrach, wünschten sich wohl einige Spieler, dass der Platz gerade abgefackelt wird. Billy Horschel und Ian Poulter („eine Schande“) gehörten am Ende zu den schärfsten Kritikern der USGA und ließen ihrem Ärger freien Lauf. Aber was fangen wir jetzt mit der ganzen Diskussion an? Waren die Grüns einer US Open würdig? Nein, waren sie definitiv nicht. Aber sie waren für alle gleich und wenn wir uns am Ende das Leaderboard ansehen, dann waren am Ende auch die Besten vorne. Das dürfen wir nicht vergessen. toppst. Ich mach‘ das auch, aber ich darf das, Du nicht! Du bist einer der größten Sportler aller Zeiten, aber inzwischen hat jeder nur noch Mitleid mit Dir. Selbst bei der Weltfrauenkonferenz wird Dir wahrscheinlich nichts Schlimmes mehr gewünscht. Es ist, als wäre Lionel Messi seit Jahren ohne Tor und könnte keinen Ball mehr stoppen. Als würde Usain Bolt von Marc Blume geschlagen. Als würde Roger Federer in der ersten Runde von Wimbledon 1:6, 0:6, 1:6 ausscheiden und keinen Ball mehr übers Netz spielen. Es ist echt traurig. Deshalb: Entweder Du bekommst das jetzt wieder auf die Reihe (ich hab ja keine Ahnung, wie Du vor zwei Jahren 5 Turniere gewonnen hast), oder Du musst es bitte lassen. Danke. You da man. Dein Par10. 7. Tiger, mach‘ was, bitte! Lieber Tiger, you da man. Kannst Du bitte dringend was machen, damit Du dieses Golfen wieder kannst? Ich weiß nicht, ob es Dir schon aufgefallen ist, aber so wird das nix. Wenn ich den Fernseher einschalte, sehe ich deine Schläger in hohem Bogen hinter Dir durch die Luft fliegen. Ich sehe, wie Du ein Holz 5 in den Pot Bunker 6. Tigers Jagd nach Nummer 15 Müssen wir wirklich darüber reden, ob Tiger nochmal ein Major gewinnt? Ob er Jack Nicklaus noch einholt? Vielleicht hätte er jetzt schon über 20 Majors gewonnen, wenn er seit 2000 seinen Schwung einfach so gelassen hätte, wer weiß es. Aktuell ist die ganze Diskussion, wann er wieder gewinnt, auf jeden Fall SPOX eMAG reine Zeitverschwendung. Ein paar Fakten: Tiger ist in der Weltrangliste auf Platz 205 (!) zurückgefallen. Wären Tigers letzte 4 Runden ein Turnier, hätte er es in 31 über Par gespielt. 8574-80-76. Zwischen 1996 und 2014 hat Woods 1242 Runden Golf gespielt, davon war eine in den 80ern (seine berühmte 81 2002 im Regenchaos von Muirfield). In 16 Runden in diesem Jahr hat Woods schon drei Runden in den 80ern auf dem Konto. Es gibt zwar immer noch ein Zipfelchen Hoffnung, das einen denken lässt: Hey, Tiger ist 39, nicht 59. Er hat es bis jetzt nach jeder Schwungumstellung noch hinbekommen und wieder gewonnen. Er wird zurückommen. Und man stelle sich vor, was das dann für ein Comeback wäre... Aber der Glaube schwindet und schwindet. Ein weiterer Major-Sieg für Tiger reiht sich bald bei den Sachen ein, die einfach nicht passieren werden. Major-Siege für Lee Westwood oder Sergio Garcia, ein US-Open-Sieg für Phil Mickelson, solche Sachen. St. Andrews wird jetzt nochmal spannend zu sehen sein, wenn selbst auf einem seiner Lieblingsplätze nicht mal ein bisschen was geht für Tiger, wird‘s immer düsterer. 5. Rory vs. Jordan 0-2 „Ich habe den Ball bei einem Major noch nie so gut getroffen wie diese Woche.“ Wenn man bedenkt, dass McIlroy zwei seiner vier Majors mit acht Schlägen Vorsprung gewann, ist seine Aussage nach Chambers Bay bemerkenswert. Und sie sagt natürlich aus, wo aktuell McIlroys Probleme liegen: beim Putten. McIlroy lochte in Chambers Bay über weite Strecken so gut wie gar nichts. Am Finaltag schien er kurzzeitig auf dem Weg, Historisches zu schaffen und mit der ersten 62 in der Major-Geschichte doch noch in den Kampf um den Sieg eingreifen zu können, aber wie in der gesamten Woche patzte McIlroy auf den Löchern 14 bis 18 (6 über). Wie beim Masters schob sich McIlroy dank einer hervorragenden Schlussrunde noch in die Top 10, so sieht es am Ende vom Ergebnis irgendwie annehmbar aus, aber für die Nummer eins der Welt ist das selbstredend zu wenig. McIlroy sieht sich als besten Spieler auf dem Planeten, das ist er eigentlich auch, aber 2015 steht seine Bilanz gegen Spieth jetzt bei 0-2. Insgesamt führt McIlroy im neuen Super-Matchup auch nur noch 4-2. Rory muss diesen Sommer zurückschlagen, so viel steht fest. 18-2015 I 20 4. Der heimliche US-Open-Sieger 77-66-66-67. Louis Oosthuizen fehlte zwar trotz 6 Birdies an den letzten 7 Löchern am Ende ein Schlag auf ein Playoff, aber der Südafrikaner ist auch so ganz klar ein Mann des Turniers. Wenn der Arme an den ersten beiden Tagen nicht mit Tiger Woods und Rickie Fowler hätte zusammenspielen müssen... Oosthuizen lag nach 20 gespielten Löchern seiner US-Open-Woche bei 9 über Par, da hätte er in Gedanken schon wie Tiger und Rickie im Flieger sitzen und es einfach laufen lassen können. Oosthuizen spielte aber stattdessen die nächsten 52 Löcher in 13 unter Par! Mit seinen beiden 66er-Runden stellte er sogar einen neuen US-Open-Rekord für die beiden mittleren Tage auf. Und jetzt? Jetzt kehrt im Juli die Open Championship nach St. Andrews zurück. Zum letzten Mal war man dort 2010, als ein gewisser Louis Oosthuizen mit 7 Schlägen Vorsprung das Feld vernichtete und seinen bislang einzigen Major-Sieg einfuhr. Watch out for Louis! 3. Der schwindelige Superman Jason Day: „Die Vertigo (lat. „Umdrehung“, „Schwindel“, von vertere „wenden“) ist der medizinische Fachausdruck für Schwindel. Unter Schwindel im medizinischen Sinne versteht man das Empfinden eines Drehgefühls oder Schwankens oder das Gefühl der drohenden Bewusstlosigkeit.“ (Quelle: wikipedia) Empfinden eines Drehgefühls oder Schwankens? Drohende Bewusstlosigkeit? Klingt ja gerade zum Golf spielen eher suboptimal. Es war die Horror-Szene der Woche, als Jason Day an der 9, seinem letzten Loch von Tag 2, plötzlich zusammenbrach und auf dem Fairway lag. Day musste im vergangenen Jahr schon einmal ein Turnier mit Schwindel abbrechen, vor einigen Wochen passierte es ihm bei der Byron Nelson Championship erneut. Alle Tests (Schlafstudien, Blutuntersuchungen) brachten kein Ergebnis, jetzt kam es in Chambers Bay zum großen Day-Drama. Der Aussie spielte nicht nur seine zweite Runde irgendwie fertig, der Kerl spielte einen Tag später eine völlig außerirdische 68. Obwohl Day aussah wie der Tod, obwohl er kaum auf den Boden schauen konnte, am Abschlag teilweise zitterte und schlicht und ergreifend zombiemäßig über den Platz wackelte. Es erinnerte an Tiger SPOX eMAG Woods‘ US-Open-Sieg mit gebrochenem Bein 2008, oder an Michael Jordans berühmtes FluGame in den NBA Finals 1997, es war definitiv nicht von dieser Welt. Absolut jeder hätte Day, der sowieso zu den nettesten Menschen der Szene gehört, den filmreifen Triumph am Sonntag gegönnt. Aber es sollte nicht sein, der Tank war dann doch leer, nach einer 74 reichte es nur für Rang 9. Aber allein, dass er das Turnier zu Ende spielte und in den Top 10 beendete, ist Wahnsinn. Und Day wird eines Tages ein Major gewinnen, hundertprozentig. 2. Golf ist so f%%%% grausam So wie es sicher ist, dass Day seine Karriere nicht ohne Major-Sieg beendet, so sicher ist es auch bei Dustin Johnson. Mein Gott, es war doch alles angerichtet für seinen großen Moment. DJ hatte an der 18 nach einem göttlichen zweiten Schlag einen Eagle-Putt aus 4 Metern zum US-Open-Sieg, links vorbei. Bitter, aber okay, er hatte ja noch einen Birdie-Putt aus 1,20 Meter zum Playoff. Aber er lochte auch den nicht, wieder links. Der ultimative Schocker. Sein erster Dreiputt aus der Entfernung im gesamten Jahr. Wenn man denkt, man hat alles gesehen... Es war wie für die Bayern 1999 im Camp Nou. Eagle-Putt nix = 1:1 Sheringham. BirdiePutt nix = 1:2 Solskjaer. Mal wieder stellen wir fest: Nichts ist so unfassbar und so unfassbar grausam wie Golf. Wenn wir uns in DJs Kopf setzen, könnten wir auch sagen: Das ist doch alles so zum Kotzen, ich spiele nie wieder Golf. Johnson war verständlicherweise so fertig mit der Welt, dass er seine Medaille für Platz zwei nicht mehr abholen wollte. Zuschauen, wie Spieth die Trophy küsst? Nah, muss nicht sein. Aber wie Johnson mit der erneuten Niederlage umging, war groß. „Ich halte meinen kleinen Sohn Tatum im Arm, er ist meine Trophäe“, sagte Johnson am Vatertag in den USA. Am Montag wird DJ 31 Jahre alt. Er könnte ohne Probleme jetzt schon vier Majors gewonnen haben, stattdessen steht er immer noch bei null. 2010 schoss er sich bei der US Open mit einer 82 am Finaltag raus, bei der PGA Championship im gleichen Jahr öffnete seine 2-Stroke-Penalty die Tür für Martin Kaymer. Auch 2011 bei der Open Championship war Johnson bis zur 14 der Finalrunde im Titelkampf dabei. Bis auf das Masters hat er jedes Major fast gewonnen. Aber fast ist halt so uneträglich. Aber wer so Golf spielt wie DJ, wer den Ball so weit drischt und dabei zu 80 Prozent das Fairway trifft wie in Chambers Bay, der muss bald eines gewinnen, das geht gar nicht anders. Eigentlich. 1. Jordan-Slam 2015? Jüngster US-Open-Champ seit Bobby Jones 1923. Check. Jüngster mit zwei Major-Titeln auf dem Konto seit Gene Sarazen 1922. Check. Der Erste seit Bobby Jones 1926, der mit einem Birdie am 72. Loch die US Open gewinnt. Check. Und der sechste Spieler in der Historie, der nach dem Masters im selben Jahr auch die US Open gewinnt. Check. Vor ihm war das zuletzt Arnold Palmer (1960), Jack Nicklaus (1972) und Tiger Woods (2002) gelungen. Keiner von ihnen triumphierte im Anschluss auch bei der Open Championship. Kann es Spieth schaffen? Hat er vielleicht sogar den Grand Slam in sich? Die vernünftige Antwort lautet: nein. Ein Grand Slam ist im Tennis schon unmöglich, obwohl da die Anzahl an Siegkandidaten pro Major viel geringer ist. Einen Grand Slam im Golf zu schaffen, ist normalerweise außerhalb jeder Vorstellungskraft. Aber: Wenn es einer drauf hat, dann dieser Jordan Spieth. Dieser Spieth kann nicht nur gewinnen, wenn er wie in Augusta in überragender Form ist und niemand gegen ihn eine Chance hatte. Dieser Spieth kann auch gewinnen, wenn er gar nicht mal so gut spielt, sich von Bunker zu Bunker und Düne zu Düne hangelt und an der 17 am Finaltag sogar einen 3-Schläge-Vorsprung wegschmeißt. Klar, Johnson hat ihm geholfen, aber Spieth hat etwas, das man nicht lernen kann. Er ist kein Bomber, er ist sicher nicht der beste Eisenspieler und er puttet ja echt die langen Dinger viel besser als die kurzen. Seine größte Qualität ist sein Kopf. Die Wahrscheinlichkeit mag minimal sein, aber das Par-10 würde auf keinen Fall gegen einen Jordan-Slam wetten wollen. 18-2015 I 22 SPOX eMAG Boris Beckers Wimbledon-Sieg 1985 Und er haut drauf von Stefan Petri Mit 17 Jahren gewinnt Boris Becker am 7. Juli 1985 sensationell Wimbledon und wird zum Idol einer ganzen Generation. Dabei stand der noch unbekannte Deutsche im Laufe des Turniers gleich mehrfach vor dem Aus. Ein Rückblick auf zwei Wochen, die die Tenniswelt verändern sollten. Fast wäre es sein 103. Ass im Turnier geworden, doch Curren bekommt noch den Rahmen an den Ball. Keine Chance! Game, Set and Match nach drei Stunden und 17 Minuten! Becker reißt die Arme hoch, ein Schrei, einfach nur pure Freude. Genau sieben Sekunden bleiben beide Arme hochgereckt, zu Fäusten geballt, während der Applaus auf ihn niederprasselt. Er blickt in den Himmel, er schaut in seine Box, dann auf den Boden, bevor es zum Handshake ans Netz geht. Wimbledon-Sieger. Mit 17. Ein Junge, der sich die Haare selbst schneidet und von seiner Mutter Zahnpasta nach England geschickt bekommt, ist plötzlich ganz oben. Schwiegermutters Liebling. Popstar. Sportler des Jahres. Werbemillionär. Wie konnte es soweit kommen? „An diesem Tag waren Kräfte mit im Spiel, die darüber hinausgingen: Ein Instinkt, der mich im entscheidenden Moment das Richtige tun lässt. Ein Herz, das eine Niederlage nicht zulässt, obgleich ich nicht immer gewinnen kann. Und eine Seele, die unerschütterlich ist, auch wenn der Körper manchmal schwach ist.“ (Boris Becker in: Augenblick, verweile doch...) „Als ich Boris zum ersten Mal sah, spielte er Tennis.“ So erinnert sich Trainer/Vertrauter/Mädchen für alles Günther Bosch in seinem Buch Boris an die erste Begegnung mit dem damals neunjährigen Jungen. „Er spielte ein seltsames Tennis, er gebrauchte seine Beine nicht. Dafür warf er sich wie ein Torwart den Bällen entgegen und brüllte vor Wut, wenn er sie nicht bekam.“ Der zweite deutsche Bundestrainer erkennt etwas Besonderes: „Wenn ich heute an den tollpatschigen Jungen zurückdenke, dann sehe ich seine Augen. Er guckte anders als die übrigen Kinder. Jedem ankommenden Ball sah er so konzentriert entgegen, dass ich dachte: So etwas ist bei einem Kind doch nicht möglich. Wie kann ein Kind den Ball so konzentriert ansehen?“ Leichtes Übergewicht? Formlose, undefinierte Beine? Egal. Sechs 18-2015 I 24 Jahre später, Boris ist fast 15, wird Bosch sein Trainer. „Den Boris wollen Sie? Mit dem halten sie es keine zwei Tage aus“, warnt der Verbandstrainer. Von Blau-Weiß Leimen um die Welt. Es dauert fast zwei Jahre, bis sich das Gespann aneinander gewöhnt hat, dann klicken sie, der Trainer mit dem rumänischen Wurzeln und der emotionale, aber unheimlich ehrgeizige Rotschopf. Zusammen mit Manager Ion Tiriac, dem legendären, bauernschlauen Geschäftsmann, entsteht ein Erfolgstrio sondergleichen. Becker wird Profi, erreicht in seinem ersten Grand Slam bei den Australian Open, damals noch auf Rasen, direkt das Viertelfinale. Heute wäre das bereits eine Sensation, damals noch kein großer Aufreger - Down Under ist schließlich nicht Wimbledon. Auf dem Heiligen Rasen tritt er im gleichen Jahr ebenfalls an, schafft die Qualifikation, reißt sich in der dritten Runde gegen Bill Scanlon dann bitter die Bänder im Knöchel. Auf einem Bein hüpft er zum Handshake ans Netz, bevor es auf einer Trage in die Kabine geht.“Bumm-Bumm-Boris“? Noch nicht. Doch die Anlagen sind schon da beim mittlerweile 1,90 Meter großen Teenager. Babyface ja, aber gleichzeitig breite Schultern und stämmige Oberschenkel, mit denen er seinen Kanonenaufschlag befeuert: Diese runde, so mühelose Bewegung, die das moderne Puma-Racket - viele Profis spielen noch mit Holzrahmen - hoch in die Luft bringt und den Ball anschließend mit weit über 200 Stundenkilometern über das Netz schießen lässt. Dazu eine weit ausholende, eine Schleuder gleichende Vorhand, mit der er seine Goliaths erlegt. Und die einhändige Rückhand, die kaum einer so durchziehen kann, Slice natürlich auch. „Mitte der 70er war ich ganz vernarrt in Björn Borg, als er Wimbledon dominierte. Ich wollte da eines Tages unbedingt gewinnen“, sagt Becker später. Dass es schon 1985 soweit ist, wird er später bereuen. Es ist die vielleicht größte Sensation der Tennis-Geschichte, völlig unerwartet, aber trotzdem mit leisen, fast unhörbaren Vorzeichen. Schließlich gewinnt der Deutsche schon im Januar 1985 das Turnier in Birmingham, und dann auch das Vorbereitungsturnier in Queen‘s. Das kann etwas heißen (die Sieger der sechs Jahre zuvor hießen John McEnroe und Jimmy Connors), muss aber nicht - in der Vergangenheit haben dort ja auch schon Scott Draper und Sam Querrey gewonnen. An einen Wimbledonsieg der ungesetzten Nummer 20 der Welt glaubt trotzdem niemand. Außer vielleicht Ion Tiriac, mit Dollarzeichen in den Augen. Ein paar Tage frei, ein paar Tage Training, danach geht‘s hinein in das größte und wichtigste Turnier der Welt. Erste Runde gegen den Amerikaner Hank Pfister. Der gewinnt auch Satz eins, geht danach jedoch in vier glatt raus. „Ich hab gedacht, dieser junge Kerl verliert die nächste Runde sowieso“, verrät er der Bild. Tut er aber nicht. Stattdessen muss der nächste Amerikaner dran glauben. 6:0, 6:1, 6:3 gegen Matt Anger. Der spätere Tennistrainer Anger: „Ich hatte ein mulmiges Gefühl und wusste, der Junge kann das Turnier gewinnen.“ Also schon das strahlende Licht der Weltöffentlichkeit auf dem 17-jährigen Leimener? Nein, noch nicht. Nach seinem Drittrundenspiel gegen den Schweden Joakim Nyström flackert es allerdings schon ein wenig. 3:6, 7:6 steht es am Samstag, plötzlich kommt der Regen und mit ihm eine Pause von zwei Tagen. Becker hat leichtes Fieber, ist angeschlagen. „Nyström ist die Nummer Acht in der Welt, es ist keine Schade, als Ungesetzter gegen einen Gesetzten zu verlieren“, sagt ihm Tiriac. Aber Becker verliert nicht. Er muss in der Fortsetzung des Matches in den fünften Durchgang, hat drei Matchbälle gegen sich, bei Aufschlag Nyström. Doch in diesem Moment kommen die größten Stärken des Deutschen zum Tragen. Mut, unbedingter Siegeswille, Härte gegen sich selbst. Die Fähigkeit, tief in sich zu graben und dieses Extraprozent, diese letzte Schippe draufzulegen. Becker beschreibt die Situation später in seiner ersten Autobiographie Augenblick, verweile doch...: „Ich spiele jeden Return volles Risiko. Tiriac brüllt Bosch in die Ohren: ‚Der ist wahnsinnig! Wie kann er so spielen? Dieses Risiko!‘“ Zweimal schlägt Nyström zum Matchgewinn auf, zweimal breakt Becker. Schließlich vier Asse. 9:7 im fünften Satz. „Es war das beste Rasenspiel meiner Karriere. Und es hat trotzdem nicht gereicht“, muss Nyström anerkennen. Mit 84 Kilogramm geht Becker ins Match. Danach wiegt er noch 81. Nur einen Tag später wartet der an 16 gesetzte Tim Mayotte. Nach seiner Energieleistung gegen Nyström geht Becker mit Fieber und Schüttelfrost ins Bett, wird Bosch schreiben. Aber SPOX eMAG der Jugendliche hat die wunderbare Fähigkeit, sich gesund zu schlafen, unheimlich schnell zu regenerieren. Nur deshalb steht er erneut ein Fünfsatzmatch durch - das beinahe vorzeitig beendet gewesen wäre. Mayotte geht mit 2:1 Sätzen in Führung, gespielt wird auf einem Nebenplatz. 6:5 im vierten Satz. „Dichtes Gedränge. Lärm. Plötzlich knicke ich um. Mein Knöchel schmerzt“, erzählt Becker. „Ich gehe aufs Netz zu, will die Hand ausstrecken.“ Die Erinnerung an die Verletzung von 1984 ist noch zu frisch. Doch dann ist plötzlich die Hölle los. „Bosch, tu was! Sag was! Er soll drei Minuten Auszeit nehmen!“ kreischt Tiriac, und Bosch brüllt: „Es ist nichts. Nimm deine Auszeit. Du spielst weiter!“ Drei Minuten stehen Becker zu, aber der Arzt schafft es in der Zeit nicht durch die Anlage bis auf den Platz. Die Behandlungszeit ist abgelaufen, „Time“ kommt es vom Schiedsrichterstuhl. Den rumänischen Paten hält es längst nicht mehr auf der Tribüne. „Tiriac war alles scheißegal, er ist einfach auf den Platz marschiert“, erinnert sich Mayottes Bruder John in der New York Times. „Tim hat protestiert, aber es war ein Netter-Junge-aus-New- England-Protest.“ Becker protestiert ebenfalls - und bekommt Recht vom Oberschiedsrichter. Also darf er sich den Knöchel noch tapen lassen, kurz durchschnaufen. Während sein Gegner völlig von der Rolle ist. Sieg im Tiebreak, 6:2 im Fünften. Viertelfinale. So langsam glaubt nicht nur Tiriac an Schicksal, sondern auch Bosch und Becker. Und Deutschland findet sich mehr und mehr vor dem Fernseher zusammen. Rund um die Uhr wird der lädierte Knöchel behandelt, am nächsten Nachmittag ist Henri Leconte („Er war einfach zu gut für mich.“) in vier Sätzen chancenlos. Halbfinale gegen Anders Järryd, die Fünf der Welt. Diesmal kriegt Becker wenig auf die Reihe. Kein Gefühl, die Schläge kommen nicht. Dafür kommt ihm ein Gewitter zu Hilfe. Um es mit den Worten des Protagonisten zu sagen: „Wenn das Gewitter am Freitag nicht zur Spielunterbrechung geführt hätte, wäre ich von Järryd vom Platz gefegt worden. Einen Tag danach war er so nervös, da hätte meine Großmutter gegen ihn gewonnen. Nur ein Zufall?“ Zwei lockere Sätze am Samstag, dann ist klar: Becker ist der jüngste Finalist überhaupt, der erste Ungesetzte im Endspiel. 18-2015 I 26 Sein Gegner wird Kevin Curren sein, Weltranglistenachter. Curren hat Edberg, McEnroe und Connors aus dem Weg geräumt, teilweise sogar gedemütigt, jeweils in drei Sätzen. Einer der besten Aufschläger der Welt. Und Becker? „Ich habe von der Herzogin von Kent geträumt. Sie hat mir zum Sieg gratuliert.“ 7. Juli 1985. Wimbledon-Finale der Herren. Elf Millionen Deutsche fiebern vor dem Fernseher mit, als Becker den Court betritt. 17 Jahr, rotblondes Haar. Hochgezogene Socken, kurze Hosen, Ellesse-Tennishemd, darüber der klassische Becker-Pullunder, den er im Laufe des Matches ablegen wird. Eine Handvoll Puma-Schläger dabei, mit denen er an diesem Nachmittag 21 Asse servieren wird. Eine Kette von seiner Mutter um den Hals, an der er ab und zu knabbert. Hinter ihm kommt Curren. 27 Jahre alt, groß, drahtig, Nummer Acht der Welt, Favorit. Auch in seiner Heimat Südafrika bangt man vor den Bildschirmen. „Wenn Becker gegen Curren antritt, wird der Youngster aus Westdeutschland gegen einen Mann kämpfen, der mythische Ausmaße angenommen hat, er lässt es Asse und Service Winner regnen, als schleudere Zeus Blitze aus dem Olymp hinab“, tönte die amerikanische Zeitung The Day. Curren nimmt den noch aufsteigenden Ball beim Service extrem früh, spielt giftige Winkel, ist kaum zu lesen. Einmal hatten er und Becker schon miteinander trainiert, im März 1985. Gesprochen wurde in den 90 Minuten kaum. „Als ich auf den Platz ging, war es sehr heiß. Die Bälle werden schnell fliegen, dachte ich. Becker habe ich kaum angesehen. Mir fiel nur einmal mehr auf, wie groß und muskulös er ist“, sagt Curren später der Welt. Becker legt es seinerseits darauf an, gesehen zu werden. Er setzt auf psychologische Kriegsführung - und sei es nur, um sich selbst zu pushen. „Man sieht hier, ich überhole Curren beim Gang auf den Platz, das war mir wichtig, da schon Entschlossenheit zu zeigen, vor meinem Gegner den Platz zu betreten“, erklärt er, als er sich das Finale 2010 zusammen mit Benjamin von Stuckrad-Barre noch einmal anschaut. „Kevin Curren hat die Wahl gewonnen, und ich habe mir noch gedacht, warum wählt denn der damals weltbeste Aufschlagspieler Rückschlag - was für‘n Schwächling!“ Um 14:09 Uhr geht es los. Becker spielt seine Spielchen, geht beim Seitenwechsel demonstrativ auf Konfrontationskurs, unterbricht beim Aufschlag des Gegners. Etikette? Da wird gejammert und gemosert, nicht so publikumswirksam wie ein McEnroe, aber eben doch hörbar. Da fliegt er auch schon mal mit seinem patentierten Becker-Hecht in den Dreck und trägt den Staub des ausgetretenen Centre Courts wie ein Ehrenabzeichen. „Ich bin ins Match gegangen und dachte: Er ist 17. Wenn ich mein Spiel spiele, dann wird er sich selbst zerstören. In diesem Alter wird er den Druck spüren und sein Level nicht für vier Stunden halten können.“ Curren ist sich seiner Sache sicher. Schließlich hatte Becker in der Trainingsstunde mindestens so viele dämliche Fehler ausgepackt wie gute Schläge. Dazu kommt es aber nicht. „Angst spüre ich keine“, so Becker. „Ich fühle mich eher wie ein Rennpferd in der Startmaschine.“ Der Aufschlag kommt, wie „Raketen der Wehrmacht“ (danke, englische Presse!). 6:3 geht der erste Satz an Becker. Nicht mehr weit bis zur persönlichen Mondlandung. Doch die 13.118 Zuschauer - in Boschs Buch sind es 14.433 - auf den Sitzen müssen noch ein paar Stunden ausharren - kampflos gibt sich sein Gegner nicht geschlagen. 4:2 führt Becker schon im Tiebreak des zweiten Durchgangs, dann legt Curren fünf Punkte in Folge auf. Rückhand-Return cross auf die Linie, bei Satzball die glatte Rückhand als Passierball die Kreide runter. Alles wieder offen. Zu diesem Zeitpunkt ist sich Curren sicher: Ich habe ihn! Becker kämpft in Satz drei mit seinem Spiel. Er schreit, schmeißt den Schläger, beleidigt sich selbst als „Dummkopf“ und „Vollidiot“. Auf der Tribüne raucht Tiriac Kette. Drei Schachteln Zigaretten werden es am Ende sein. Doch Curren kann die sich ihm bietende Chance nicht nutzen. „Auf dem Weg ins Finale habe ich furchtlos gespielt, so wie Becker gegen mich. Aber im Finale spielte ich mit ein bisschen Furcht - damit meine ich defensiver als sonst“, lamentiert er rückblickend. Bei Break vor für ihn im dritten Satz ist er am Netz nicht zwingend genug, verschlägt einen Smash. Becker kommt zurück: Starker Return, danach die Rückhandpeitsche! 4:4! Da kommt es wieder, das Tippeln, die Becker-Faust, die „Becker-Säge“. Er vergibt Satzbälle gegen Currens Aufschlag, der mittlerweile nach Fehlern auch lautstark vor sich hinflucht. Wirft sich gar SPOX eMAG an der Grundlinie nach den Volleys seines Gegenspielers. Es hilft nichts. Tiebreak. Die komplette rechte hintere Seite des Shirts von Becker ist braun von Schmutz, er ist eins mit dem Centre Court. Und so spielt er auch. Brutale Aufschläge, enorme Laufleistung in der Defensive. Und plötzlich wirkt Curren unbeholfen am Netz, macht leichte Fehler. Sechs Satzbälle Becker. Er vergibt gleich drei, schließlich die Vorhand vor die Füße des heranrückenden Curren. 7:6! „Ja!“ schreit der sonst so zurückhaltende Kommentator Gerd Szepanski ins Mikrofon. „Was hat der Junge doch für Nerven!“ Und diese Nerven hat Curren nicht. Seine stärkste Waffe, sein Aufschlag, verlässt ihn. Zu nur 48 Prozent kommt das Service beim ersten Versuch, dazu acht Doppelfehler und 21 Fehler am Netz. „Curren konnte keinen Druck machen“, weiß DTB-Teamchef Niki Pilic. Beckers Aufschlag steht über das gesamte Match bei 61 Prozent. Er verzeichnet mehr Passierschläge, mehr Smashes, mehr Return-Winner. Frühes Break zum 1:0 im vierten Satz - das Match ist entschieden. sich der spätere Sieger. Nur beim Stand von 5:4, 40:15 wird es noch einmal spannend. Doppelfehler! Nerven! Die Herzogin von Kent schlägt die Hände vors Gesicht, liebe Güte, Mutter Elvira packt den Fotoapparat noch einmal weg. Boris: „Ich habe einfach nur gebetet: Gott, gib mir den ersten Aufschlag.“ Also noch einmal konzentrieren. Ball und Schläger vor dem Körper angelegt, ein langer Blick über das Netz zum Gegner, die Zunge spielt leicht um die Lippen, unbewusst. Die wippende, schaukelartige Bewegung kommt erst später dazu. Dann der runde Ballwurf mit der linken Hand, die goldene Uhr am Handgelenk blitzend. Oben ist der weiße Ball - gelb werden die Filzkugeln erst 1986 - der Oberkörper überstreckt, Brust raus, es hat etwas Majestätisches. Und dann der Moment, der ihn unsterblich machte. „Ich haue einfach drauf.“ „Ich konnte jetzt in der Schlussphase seine stärkste Waffe, den Aufschlag, lesen“, erinnert 18-2015 I 28 Impressum Perform Media Deutschland GmbH ADRESSE: AUTOREN: Perform Media Deutschland GmbH Beta-Straße 9a 85774 Unterföhring Deutschland David Kreisl, Andreas Inama, Florian Regelmann, Stefan Petri GRAFIK: Helena Leitner Telefon: +49 (89) 200014 - 3290 allgemeine eMail-Adresse: [email protected] Registergericht: Amtsgericht München Handelsregisternummer: München HRB 167683 Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE254496447 Steuer-Nr: 143/170/10800 Vertretungsberechtigte Geschäftsführer: Dirk Ifsen (Verantwortlich i.S.d. § 5 TMG) REDAKTION: Haruka Gruber (Content Director, verantwortlich für den Inhalt i.S.d. § 55 II RStV) Oliver Wittenburg (Mitglied der Chefredaktion) Benjamin Wahlen Alexander Maack QUELLENHINWEIS: Die Perform Media Deutschland GmbH verwendet Bild und Textmaterial der Agenturen, Nachrichtendienste & Fotoagenturen: SID Sport-Informations-Dienst GmbH & Co. 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