Skript System des Sozialrechts Stand September 2014
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Skript System des Sozialrechts Stand September 2014
Schwerpunktbereich 3: Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht Vorlesungsbegleitendes Scriptum Das System des Sozialrechts von Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena Stand: September 2014 - Gliederung Seite §1 Vorsorgeverhältnis 3 §2 Mitgliedschaft in Vorsorgeträgern 5 §3 Die verschiedenen Formen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung 9 §4 Rentenversicherung 15 §5 Versorgungsausgleich 24 §6 Krankenversicherung 27 §7 Pflegeversicherung 33 §8 Unfallversicherung 36 §9 Soziale Entschädigung 45 § 10 Unechte Unfallversicherung 49 § 11 Arbeitsförderung 51 § 12 Ausbildungsförderung 58 § 13 Familienleistungen 60 § 14 Wohngeld 64 § 15 Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen 66 § 16 Sozialhilfe 69 § 17 Jugendhilfe 74 Literaturempfehlungen Zur Einführung: - Baltzer, Einführung in das Sozialrecht, JuS 1982, 247 ff., 566 ff., 651 ff.; 1983, 12 ff., 89 ff., 501 ff., 581 ff.; 1984, 256 ff., 753 ff.; 1985, 432 ff. - Becker/Kingreen/Rixen, Grundlagen des Sozialrechts, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht Bd. 3, 2013, § 75 (S. 853-897). - Kaiser, Sozialrecht und Sozialgerichtsbarkeit im Überblick, JA 2009, 538 ff. - Merten, Sozialrecht. Sozialpolitik, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auflage, 1995, S. 961 ff. - Ruland, Sozialrecht in: Schmidt-Assmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Auflage, 2003 - Schnapp, Sozialversicherungsrecht, in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht Band II, 2. Auflage, 2000, S. 809 ff. - Wollenschläger/Becker, Einführung in das Sozialrecht, JA 1992, 321 f.; JA 1993, 1 ff., 33 ff. Lehrbücher - Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, 9. Auflage, 2007 - Dörr/Francke, Sozialverwaltungsrecht, 3. Auflage 2012 - Eichenhofer, Lehrbuch des Sozialrechts, 8. Auflage, 2012 - Gitter/Schmitt, Sozialrecht, 5. Auflage, 2001 - Igl/Welti, Sozialrecht: ein Studienbuch, 8. Auflage, 2007 - Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. Auflage, 2007 - Muckel/Ogorek, Sozialrecht, 4. Auflage 2011 - Pieters, Social security: an introduction to the basic principles, 2nd ed. 2006 - Waltermann, Raimund, Sozialrecht, 11. Auflage, 2014 (im Erscheinen) Kommentar - Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Loseblattwerk - Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch (SGB) - Gesamtkommentar, Loseblattwerk, 2014 - Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, 34. Ed. 2014 - Eichenhofer/Wenner (Hg.), Kommentar zum Sozialgesetzbuch I, IV, X, Reihe: Wannagat Sozialversicherungsrecht, 2012 - Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, 3. Auflage 2013 - Kreikebohm, SGB IV, 2. Auflage 2014 (im Erscheinen) - Mrozysnki, SGB I, 5. Auflage 2014 - v. Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014 Handbuch - von Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 5. Auflage, 2012 - Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Auflage 2011 - Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 4 Bände, 1994-1997 Fallsammlungen - Eichenhofer/Janda, Klausurenkurs im Sozialrecht, 8. Auflage, 2014 - Felix, Das Sozialrechtsfallbuch, 2012; Das Sozialrechtsfallbuch II, 2014 - Becker/Seewald, Fälle zum Sozialrecht, 2004 Gesetzestexte DTV-Texte: Sozialgesetzbuch (Gesamtausgabe: Bücher I-XII, 43. Aufl., 2014, 16,90 €) Das gesamte Sozialgesetzbuch I bis XII, 18. Aufl., 2014, Walhalla Verlag (19,95 €) Aichberger: Sozialgesetzbuch (Loseblattsammlung) (Grundwerk, 34,00 €) 2 §1 Vorsorgeverhältnis a) Gegenstand, Arten und Inhalte des Vorsorgeverhältnisses aa) Gegenstand Das Vorsorgeverhältnis ist ein höchst komplexes, auf Dauer angelegtes, Pflichten und Rechte umfassendes Rechtsverhältnis, das auf Vermeidung (Prävention) oder Gestaltung des Vorsorgefalles gerichtet ist. Es begründet Beitragspflichten zu einem Träger sozialer Vorsorge, gewährt Mitgliedschaftsrechte im Träger sozialer Vorsorge und begründet Leistungsansprüche bei Eintritt des Versorgungsfalles. Soziale Vorsorgeverhältnisse bestehen auf den Gebieten der Sozialversicherung (= RV, KV, PflegeV, UV und Arbeitslosenversicherung). bb) Arten von Vorsorgeverhältnissen Es sind die der Eigenvorsorge und die der Fremdvorsorge dienenden Verhältnisse zu unterscheiden. Eigenvorsorge liegt vor, wenn der Gesicherte beitragspflichtig ist. Fremdvorsorge liegt vor, wenn Gesicherter und Beitragspflichtiger personenverschieden sind. Die Unfallversicherung beruht auf dem Prinzip der Fremdvorsorge, die Renten-, Kranken-, Pflegeversicherung sowie die Arbeitslosenversicherung beruhen dagegen auf dem Prinzip der Eigenvorsorge. cc) Begründung und Beendigung von Vorsorgeverhältnissen Vorsorgeverhältnisse werden durch Gesetz, Satzung oder Beitritt (Ausübung eines öffentlichrechtlichen Gestaltungsrechts) begründet. Regelmäßig wird das Vorsorgeverhältnis durch Gesetz, nur ausnahmsweise durch Satzung (z.B. § 3 SGB VII) begründet. Das Vorsorgeverhältnis endet mit der Beendigung der abstrakten Gefährdungslage (namentlich Aufgabe einer versicherungspflichtigen Beschäftigung), durch Zweckerreichung (Erreichen der Altersgrenze) oder den Tod des Vorsorgeberechtigten. 3 Einbeziehung in Vorsorgeverhältnisse und Freistellung von Vorsorgeverhältnissen Vorsorgeverhältnis Kraft Norm entsteht entsteht nicht Versicherungspflicht Versicherungsfreiheit Kraft Entscheidung des Be- Versicherungsberechtigung troffenen Versicherungsbefreiung Versicherungspflicht: Sie wird regelmäßig durch das Gesetz, ausnahmsweise durch Satzung begründet. Versicherungsfreiheit: Freistellung von der Versicherungspflicht für Personen, die aufgrund ihres Status anderweitig gesichert sind (z.B. Beamte, Studenten), keinen Vorsorgebedarf haben (z.B. geringfügig Beschäftigte, § 8 SGB IV, in der Krankenversicherung, § 7 SGB V) oder nicht als sozial schutzbedürftig angesehen werden (z.B. § 4 Abs. 3 SGB VII - freiberuflich tätige Selbständige). Versicherungsbefreiung: Freistellung einer Person von der Versicherungspflicht, weil im Einzelfall eine gleichwertige Vorsorge besteht. Versicherungsberechtigung: Unterschieden in zwei Arten - Berechtigung hinsichtlich des „Ob“ (= Pflichtversicherung auf Antrag) oder Berechtigung hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie viel“ (freiwillige Versicherung). b) Pflichtversicherung Eine Pflichtversicherung besteht für - Arbeitnehmer, - sozial schutzbedürftige Selbständige und - Behinderte, zu therapeutischen Zwecken Beschäftigte, Studenten (beschränkt auf KV) und Arbeitslose. 4 §2 Mitgliedschaft in Vorsorgeträgern Das Mitgliedschaftsverhältnis in Vorsorgeträgern begründet Beitragspflichten, Mitwirkungsrechte in der Selbstverwaltung und Leistungsansprüche bei Eintritt des Vorsorgefalles. Während letztere in den diesem Abschnitt nachfolgenden Abschnitten der Darstellung behandelt werden sollen (vgl. §§ 13 ff.), werden im Folgenden die Voraussetzungen der Beitragspflicht (a, b) sowie die Mitwirkungsrechte in der Sozialversicherung (c) skizziert. a) Die Beitragspflicht im allgemeinen Die Beitragspflicht zu den verschiedenen Trägern sozialer Vorsorge sichert, dass die Träger die Leistungen sozialer Vorsorge an die Berechtigten erbringen können. Die Beitragspflicht hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 20 ff. SGB IV für die Erhebung von Beiträgen zu allen Trägern sozialer Vorsorge sowie in §§ 157 ff. SGB VI für die RV, §§ 220 ff. SGB V für die KV, §§ 54 ff. SGB XI für die PflegeV, §§ 150 ff. SGB VII für die UV und §§ 340 ff. SGB III für die Arbeitslosenversicherung. aa) Finanzierung der Leistungen sozialer Vorsorge Beiträge sind mit großem Abstand die wichtigste Grundlage für die Finanzierung der Sozialleistungsträger. Zwar bestimmt § 20 SGB IV, dass die Ausgaben der Sozialversicherung durch Beiträge, staatliche Zuschüsse und sonstige Einnahmen aufgebracht werden. Staatliche Zuschüsse werden jedoch nur an die RV zum Ausgleich der ihr auferlegten Fremdlasten erbracht (§§ 213 f. SGB VI). Sie werden für die Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt geleistet. Der Ertrag stammt aus allgemeinen Steuermitteln. Aufgabe 1: Geben Sie Beispiele für die der RV auferlegten Fremdlasten. „Sonstige Einnahmen“ (§ 20 SGB IV) sind im Wesentlichen Erträge aus dem Vermögen der Vorsorgeträger. Diese Einkünfte sind jedoch im Vergleich zu den Beiträgen gering. Für die Finanzierung der Leistungen sozialer Vorsorge gilt der Grundsatz der Globaläquivalenz: Die Gesamtausgaben der Sozialversicherung müssen durch Einnahmen gedeckt sein; den Trägern sozialer Vorsorge ist also die Verschuldung nicht gestattet. 5 bb) Bestimmungsgröße des Beitrags Der Bezugspunkt für die Höhe des Beitrages ist unterschiedlich bestimmt, je nachdem, ob ein Vorsorgezweig der Eigen- oder der Fremdvorsorge dient. Bezugspunkt der Beitragsbestimmung bei Eigenvorsorge ist das Bruttoeinkommen des zu Sichernden, Grundlage der Beitragsbestimmung bei Fremdvorsorge sind außerdem der Finanzbedarf und die Gefährlichkeit des Unternehmens (§ 153 SGB VII) cc) Beitragsschuldverhältnis Die Beitragspflicht begründet ein Beitragsschuldverhältnis zwischen Abgabenpflichtigem und Träger. Der Anspruch auf Beitragszahlung entsteht kraft Gesetzes. Das Beitragsschuldverhältnis bestimmt Fälligkeit, Säumniszuschlag und Verjährung. b) Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag Die Beiträge zur RV, KV, PflegeV und BA der versicherungspflichtigen Arbeitnehmer werden vom Arbeitgeber als „Gesamtsozialversicherungsbeitrag“ (§ 28d SGB IV) durch die Krankenkassen als Beitragseinzugsstellen erhoben. Diese führen den Ertrag der Beiträge an die RV und BA ab. aa) Gegenstand der Beitragspflicht ist das Bruttoarbeitsentgelt (§§ 28d-28n, 28r SGB IV, 226 SGB V, 341 f. SGB III, 161 f. SGB VI). Der Prozentsatz, mit dem das Einkommen belastet wird, heißt Beitragssatz. Der Beitragssatz zur BA, zur KV und zur Pflegekasse wird gesetzlich (§§ 341 Abs. 2 SGB III, 241 SGB V, 55 SGB XI), zur RV durch Rechtsverordnung (§ 160 SGB VI) und zur UV durch Satzung festgelegt (§§ 150 ff. SGB VII). Das Bruttoarbeitsentgelt wird nur bis zu einer Obergrenze mit Beiträgen belegt (Obergrenze = Beitragsbemessungsgrenze). Die Beitragsbemessungsgrenzen für KV und RV sind unterschiedlich festgelegt. Durch die Beitragsbemessungsgrenze wird erreicht, dass sich auch das Leistungsniveau auf die Sicherung des elementar Notwendigen beschränkt. 6 bb) Lohnabzugsverfahren Während Selbständige, Studenten und freiwillig Versicherte ihre Beiträge an den entsprechenden Vorsorgeträger selbst abzuführen haben, hat bei pflichtversicherten Arbeitnehmern der Arbeitgeber die Beiträge vom Lohn des versicherungspflichtigen Arbeitnehmers einzubehalten und an die Einzugsstelle abzuführen (der Beitragseinzug erfolgt im „Lohnabzugsverfahren“ (§§ 28d ff. SGB IV)). Dies bedeutet im Einzelnen: - der Arbeitgeber zieht vom Arbeitseinkommen die Arbeitnehmerbeiträge ab, - leitet diese mit den Arbeitgeberanteilen an die Einzugsstelle weiter, - hat der Arbeitgeber den Abzug versäumt, ist der Abzug nur binnen einer Frist von 3 Monaten statthaft. cc) Leistungsrechtliche Folgen fehlerhafter oder unterbliebener Beitragszahlung Der Versicherungsschutz für den gesicherten Arbeitnehmer hängt nicht von der Korrektheit der Beitragszahlung ab. Wurde der Arbeitnehmeranteil vom Lohn einbehalten, besteht für den versicherten Arbeitnehmer selbst dann Versicherungsschutz in der RV, wenn der Arbeitgeber den Beitrag nicht abgeführt hat (§ 203 Abs. 2 SGB VI). Für Geldleistungen der KV (§ 47 SGB V) und nach dem SGB III (§ 149 SGB III) ist das bezogene Arbeitsentgelt Ausgangspunkt für die Bestimmung der Leistung. c) Selbstverwaltung (§§ 29 ff. SGB IV) Die Sozialversicherungsträger (RV: Deutsche Rentenversicherung Bund, Deutsche Rentenversicherung Knappschaft – Bahn – See und Regionalträger; UV: BG, Unfallkassen; KV und PflegeV: AOK, IKK, BKK, Ersatzkassen) sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat - entgegen § 367 SGB III („Mitgliedern“) - eine anstaltliche Struktur. Für die Sozialversicherungsträger gilt Selbstverwaltung. Dies bedeutet, die Versicherten selbst haben über die Leitung, den Haushalt und die Regeln des Vorsorgeträgers zu bestimmen. Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung beruht auf dem Prinzip der vollen Parität von Versichertenvertretern und Arbeitgebervertretern (vgl. § 44 SGB IV). Auch in der BA herrscht grundsätzlich Selbstverwaltung (§§ 371 ff. SGB III). Diese ist allerdings insoweit eingeschränkt, als dass sich die Selbstverwaltungsorgane drittelparitätisch aus Versichertenvertretern, Arbeitgebervertretern und Regierungsvertretern zusammensetzen (§ 371 Abs. 5 SGB III), welche auf Vorschlag von Koalitionen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie der betroffenen öffentlichen Körperschaften berufen 7 werden (§ 379 SGB III). aa) Befugnisse der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung - Wahl der Geschäftsführung - Wahl der Versichertenältesten - Beschlussfassung über den Haushalt des Vorsorgeträgers und - Erlass der Satzungen. Die Selbstverwaltungsrechte werden ausgeübt von der Vertreterversammlung des Vorsorgeträgers. bb) Sozialwahlen Die Vertreterversammlung geht aus Wahlen hervor. Es gelten die Grundsätze der geheimen Wahl und der Gruppenwahl (§§ 45 f. SGB IV). Wahlberechtigt sind alle versicherungspflichtigen Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, die versicherungspflichtige Arbeitnehmer beschäftigen (§ 50 SGB IV). 8 §3 Die verschiedenen Formen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung a) Spezifische und unspezifische Sicherungen Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung kann durch spezifische wie unspezifische Formen gewährleistet werden. Verfügt jemand über Vermögen, so kann er damit seinen Lebensunterhalt auch bei Alter, Invalidität oder nach dem Tod eines ihm Unterhaltspflichtigen aus dem Ertrag des Vermögens bestreiten. Desgleichen kann der Lebensunterhalt bei Alter, Invalidität oder Hinterbliebenenschaft durch Sozialhilfe gesichert werden. Beide sind unspezifische Formen der Alters, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung, weil sie zwar für den genannten Zweck taugen, sich indessen nicht auf die Erreichung dieses Zweckes beschränken. Vermögen ist unspezifische Sicherung durch Privatrecht, Sozialhilfe ist die unspezifische Sicherung durch öffentliches Recht. Von den unspezifischen sind die spezifischen Formen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung zu unterscheiden. Sie sind darauf angelegt, Sicherungen bei Alter, Invalidität und Hinterbliebenenschaft hervorzubringen und beschränken sich auf diesen Zweck. Diese Sicherungen können systematisch dem öffentlichen oder dem Privatrecht zugeordnet sein. Träger öffentlich Form unspezifisch spezifisch spezifisch unspezifisch Sicherung Sozialhilfe Öffentliche Vor- Private Vorsorge Vermögen privat sorge b) Überblick über die spezifischen Sicherungen Die spezifischen Sicherungen für die Risiken Alter, Invalidität und Hinterbliebenenschaft lassen sich hinsichtlich ihrer Trägerschaft (aa), der gesicherten Personenkreise (bb) und der Sicherungsziele (cc) unterscheiden. 9 aa) Trägerschaft Hinsichtlich der Trägerschaft sind die öffentlich-rechtlichen von den privatrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen zu unterscheiden. Zur öffentlich-rechtlichen Vorsorge gehören: die Rentenversicherung, die Beamtenversorgung und die berufsständische Versorgung. Der privatrechtlichen Vorsorge gehören die betriebliche Altersversorgung und die Lebensversicherungen an. Öffentliche Träger Private Träger Rentenversicherung Betriebliche Altersversorgung Beamtenversorgung Lebensversicherung Berufsständische Versorgung bb) Gesicherter Personenkreis (siehe Abb. 3) 10 Sicherungsformen für einzelne Personengruppen Träger Öffentliche Vorsorge Private Vorsorge Personenkreis Erwerbsgrund Stets statusabhängig Statusabhängig Arbeitnehmer Privatwirtschaft Gesetzl. Rentenversicherung Betriebliche Statusunabhängig Altersversor- gung Arbeitnehmer Öffentl. Dienst Beamte Gesetzl. Rentenversicherung Zusatzversorgung öD Beamtenversorgung Selbständige Gewerbl. Wirtschaft Gesetzl. Rentenversicherung Selbständige Künstlerischer Sektor Künstlersozialversicherung Selbständige Landwirtschaft Alterssicherung d. Landwirte Selbständige Freie Berufe Berufsständische Versorgung Nichterwerbstätige (Prämienzahlung) Abb. 3 11 Lebensversicherung cc) Sicherungsziele Die verschiedenen Einrichtungen unterscheiden sich im Sicherungsziel. Manche vermitteln eine Regelsicherung (dazu bestimmt, den Grundbedarf zu befriedigen), andere eine Zusatzsicherung (dazu bestimmt, die Regelsicherung aufzufüllen). Die Höhe der Sicherung kann vom Einkommen des zu Sichernden oder vom Umfang der gezahlten Prämien abhängig sein. Regelsicherung - Zusatzsicherung Gesetzliche - Rentenversicherung - Beamtenversorgung - Sondersysteme - Selbständige Sicherung Einkommensabhängig Betriebsrente (Gesamtversorgung) - Alterssicherung für Landwirte (außer Alterssicherung für Landwirte) - Lebensversicherung - Betriebsrente (Prozent- oder Festbetragszusage) Prämienabhängig - 12 Lebensversicherung c) Überblick über die einzelnen Sicherungen aa) Die Rentenversicherung dient primär der Sicherung von Arbeitnehmern (zu ihrem Inhalt vgl. § 4). bb) Die Beamtenversorgung steht Beamten, Richtern, Soldaten, Abgeordneten und Ministern zu. Sie ist Teil der Alimentation des Beamten (Art. 33 Abs. 5 GG). Der Beamte hat - im Gegensatz zum Arbeitnehmer - für die Alterssicherung keinen finanziellen Beitrag zu leisten (allerdings wird ein Bruchteil der Bezüge (0,2 %) von dem Vorsorge gewährenden Dienstherrn von der Vergütung einbehalten und angelegt). Die Leistungen werden von dem Dienstherrn (Gemeinde, Land, Bund, sonstige öffentlich-rechtliche Körperschaft oder Anstalt) erbracht. Die Leistungen werden nicht nur bei Alter und Hinterbliebenenschaft, sondern bei jeder Form der Invalidität erbracht, namentlich bei dienstbedingter Invalidität (= Arbeitsunfall und Berufskrankheiten). Das Ruhegehalt hängt von den Dienstbezügen und den Dienstjahren ab. Das höchstmögliche Ruhegehalt beläuft sich auf 71,75 % der Dienstbezüge aus dem Amt, das der Beamte vor Eintritt des Versorgungsfalls mindestens zwei Jahre innehatte. Nach einer Dienstzeit von 5 Jahren erlangt der Beamte eine Mindestsicherung in Höhe von 35 % der Dienstbezüge. Der hinterbliebene Ehegatte erhält 55 %, jeder Vollwaise 20 % und jeder Halbwaise 12 % des Ruhegehalts des Beamten. Scheidet jemand aus dem Beamtenverhältnis aus, wird er vom Dienstherrn in der RV nachversichert. cc) Die soziale Sicherung der Selbständigen ist vielgestaltig. Manche sind Pflichtmitglieder der RV (vgl. § 2 SGB VI oder § 1 KSVG). Des Weiteren kann ein Teil der Selbständigen, die nicht versicherungspflichtig sind, auf Antrag Pflichtmitglied der RV werden (§ 4 Abs. 2 SGB VI). Ferner bestehen Sondersysteme für Landwirte (ALG) – die zum 1.1.2013 in die „Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“ überführt wurde – und freiberuflich Tätige (z.B. Ärzte, Anwälte, Notare). Die Alterssicherung der Landwirte ist eine Zusatzsicherung. Sie baut darauf auf, dass die Grundbedürfnisse des Landwirts (Wohnen und Ernährung) durch den Hofübergabevertrag gesichert sind und die Rente nur den zusätzlichen Geldbedarf zu befriedigen hat. Die berufsständischen Versorgungswerke beruhen auf dem Gedanken der beruflichen Solidarität: Die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung der freiberuflich tätigen Selbständigen wird durch einen Solidarverband der Berufskollegen getragen. 13 dd) Die betriebliche Altersversorgung beruht auf freiwilligen Zusagen des Arbeitgebers oder auf einzel- oder tarifvertraglichen Verpflichtungen. Die betriebliche Altersversorgung kann in Höhe eines bestimmten Betrages, eines bestimmten Prozentsatzes des Einkommens oder in Höhe eines Gesamtversorgungsniveaus definiert sein. Die Leistungen können durch den Arbeitgeber selbst, eine von ihm unabhängige Unterstützungskasse oder eine private Versicherung erbracht werden. Der Empfänger eines Betriebsrentenversprechens wird durch das Gesetz über die BetrAVG gegen Verfallbarkeit der Anwartschaft, Auszehrung des Anspruchs, das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers und vor Kaufkraftverlust geschützt. ee) Die Lebensversicherung (§§ 150 - 171 VVG) ist das klassische Instrument der Vorsorge durch Privatrecht. Sie beruht auf privatrechtlichem Vertrag. Zu unterscheiden sind Versicherungen auf den Erlebens- und den Todesfall, Risikoversicherungen und Kapitallebensversicherungen. Hinsichtlich des Inhaltes der Leistung kann ein bestimmter Geldbetrag bei Eintritt des Versicherungsfalles oder eine periodisch wiederkehrende Rente bis zum Tod des Berechtigten (Leibrente) geschuldet sein. ff) Durch die seit 2002 bestehende im AVermG niedergelegte Regelung fördert der Staat durch Zulagen oder Steuervorteile die ergänzende betriebliche und private Altersvorsorge. Erstere wird vom Arbeitgeber bei einem von ihm unabhängigen privaten Vorsorgeträger begründet; letztere wird durch Vertrag für ein den gesetzlichen Anforderungen genügendes (zertifiziertes) Vorsorge„Produkt“ mit der Bank oder Versicherung (Finanzdienstler) begründet. 14 §4 a) aa) Rentenversicherung Träger und Sicherungsziel Die RV wird seit dem 1.1.1992 im SGB VI geregelt. Diese Vorschriften sind an die Stelle der vormals in unterschiedlichen Gesetzen zur Regelung der RV der Arbeiter (§§ 1227 ff. RVO a.F.), Angestellten (§§ 1 ff. AVG a.F.) und der Bergleute (RKG) getreten. bb) Obgleich die RV nunmehr auf einer Rechtsgrundlage beruhte, bestand kein einheitlicher Träger der RV. Vielmehr unterschied man Träger für die RV der Arbeiter, der Angestellten, der knappschaftlichen RV für Bergleute, Seeleute und für die RV Arbeitnehmer der Deutschen Bahn AG. Mit der Organisationsreform zum 1. Oktober 2005 fusionierten mehrere Träger mit dem Ziel der Effizienzsteigerung. Auf Bundesebene gab es zwei Zusammenschlüsse: Zum einen verschmolzen der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zur Deutschen Rentenversicherung Bund, zum anderen Bundesknappschaft, Bahnversicherungsanstalt und Seekasse zur Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Gleichzeitig fusionierten einige Landesversicherungsanstalten zu deutlich größeren Regionalträgern. Statt bisher 26 Rentenversicherungsträgern gibt es nur noch 16. Weitere Fusionen auf regionaler Ebene sind angedacht. Alle Rentner und nahezu alle Beitragszahler bleiben jeweils bei dem Träger, der bisher für sie das Konto geführt oder die Rente ausgezahlt hat. Nur ein sehr kleiner Teil der Versicherten wird im Rahmen eines so genannten Ausgleichsverfahrens in einem Zeitraum von 15 Jahren einem anderen Versicherungsträger zugeordnet. cc) Die RV war zunächst darauf angelegt, dem Beschäftigten nach 45-jähriger Beschäftigung (knappschaftliche RV: 30-jähriger Beschäftigung) eine Rente in Höhe von 68 % des durchschnittlichen während der Versicherungszeit erzielten Netto-Arbeitseinkommens zu gewähren. Hierbei wird das Arbeitseinkommen durch die Rentenformel so bewertet, als ob es im Jahr des Rentenbezuges bezogen wäre. Basis sind 40 - 45 % des Bruttoeinkommens. Denn der Rentner ist von der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen an den Rentenversicherungsträger und an die Bundesanstalt für Arbeit freigestellt. Außerdem wird die Rente nicht zum Nominalwert, sondern zu dem deutlich unter dem Nominalwert liegenden Ertragsanteil besteuert. 15 Durch die Rentenreform 2000/2001 wurde dieser Anteil auf 64% bis zum Jahre 2009 abgesenkt. Weiter werden mit der Einführung einer Nachhaltigkeitsfaktors die zukünftigen Rentenanpassungen das Verhältnis der Beschäftigten zu den Leistungsempfängern berücksichtigen. Langfristig darf das Sicherungsniveau der Rente nicht unter 43% sinken. Diese so entstehenden Sicherungslücken können durch Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge sowie private Zusatzversicherungen geschlossen werden. Aufgabe 2: Beschreiben Sie Anlässe, Gründe und Formen für Zusatzsicherungen. b) Risiken Die RV gewährt Leistungen bei verminderter Erwerbsfähigkeit (aa), Alter (bb) und Hinterbliebenenschaft (cc). aa) verminderte Erwerbsfähigkeit Ist der Versicherte nur eingeschränkt oder gar nicht mehr erwerbsfähig, so wird sein Einkommen durch die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gesichert. Diese Rente ersetzt die bis zum 31.12.2000 bestehenden Renten wegen Erwerbs- und wegen Berufsunfähigkeit. Das alte Recht bleibt auf Versicherte anwendbar, die ihre Rente bereits am 31.12.2000 bezogen. Teilweise erwerbsgemindert ist, wer aus gesundheitlichen Gründen (Krankheit, Behinderung) nur noch in der Lage ist, zwar mindestens drei, aber weniger als sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert ist, wer gesundheitsbedingt nur noch weniger als drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung wird in Höhe einer Altersrente gezahlt, teilweise Erwerbsgeminderte erhalten die Hälfte einer Altersrente. Rente wegen Erwerbsminderung kann beanspruchen, wer das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erwerbsgemindert ist, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt hat und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit von 5 Versicherungsjahren (§ 50 SGB VI) zurückgelegt hat (§ 43 I SGB VI). 16 Die bis zum 31.12.2000 bestehende Rente wegen Berufsunfähigkeit vermittelte dem Versicherten einen Berufsschutz. Dies bedeutet, dem Versicherten, der eine gehobene Tätigkeit ausgeübt hat, wurde ein krankheitsbedingter sozialer Abstieg nur eingeschränkt zugemutet. Vermochte der Versicherte wegen seiner Erkrankung nur eine gegenüber seiner bisherigen Tätigkeit deutlich geringere Tätigkeit auszuüben, so stand ihm ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zu. Dieser Berufsschutz ist mit der Rentenreform zum 1. Januar 2001 aber nicht übergangslos entfallen. Vielmehr haben Versicherte, die bei Inkrafttreten der Reform das 40. Lebensjahr vollendet hatten, die also vor dem 2. Januar 1961 geboren wurden, weiterhin einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Sie erhalten eine halbe Erwerbsminderungsrente, wenn sie berufsunfähig sind, d.h. in ihrem oder einem zumutbaren anderen Beruf nur noch weniger als sechs Stunden täglich arbeiten können (§ 240 SGB VI). bb) Alter Der Versicherungsfall des Alters ist gegenwärtig hochgradig differenziert geregelt (vgl. §§ 35 - 40 SGB VI). Die Regelaltersrente wird nach Vollendung des 67. Lebensjahres bei Erfüllung der allgemeinen Wartezeit gewährt (§ 35 SGB VI). Die Altersrente für langjährig Versicherte wird nach einer Wartezeit von 35 Jahren ab Vollendung des 63. Lebensjahres gewährt (§ 36 SGB VI). Für Schwerbehinderte wird nach einer Wartezeit von 35 Jahren die Altersrente ab Vollendung des 62. Lebensjahres gewährt (§ 37 SGB VI). Desgleichen sieht § 40 SGB VI eine Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute ab Vollendung des 62. Lebensjahres vor. Seit dem Jahre 2012 wird bis 2029 das gesetzliche Rentenalter schrittweise auf das 67. Lebensjahr erhöht. cc) Hinterbliebenenschaft Im Falle des Todes steht dem überlebenden Ehegatten eine Witwen- oder Witwerrente zu (§ 46 SGB VI). Für geschiedene Ehegatten besteht unter den Voraussetzungen des § 47 SGB VI ein Anspruch auf Erziehungsrente. Für Kinder des Versicherten werden unter den Voraussetzungen des § 48 SGB VI Waisenrenten gewährt. 17 c) Leistungen Den Versicherten steht bei Erwerbsminderung, Alter und bei Hinterbliebenenschaft ein Anspruch auf Rente zu. Rentner sind ferner kraft Gesetzes Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung oder ihnen steht ein Recht auf Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung zu. An erwerbsgeminderte Versicherte, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, können als Ermessensleistungen statt Renten Leistungen zur Rehabilitation (gerichtet auf Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit) bewilligt werden - vgl. §§ 9 ff., 15 f. SGB VI. d) Grundbegriffe der Rentenberechnung: Für die Ermittlung des Rentenanspruchs ist zunächst zu prüfen, ob der Versicherte die Wartezeit erfüllt hat (aa). Zu diesem Zweck sowie für die Ermittlung der Rentenhöhe sind die rentenrechtlichen Zeiten zu bestimmen (bb). Schließlich ist für die Ermittlung der Rentenhöhe und für die Anpassung von Rentenleistungen der Wert der einzelnen Rentenanwartschaft zu ermitteln (cc). aa) Die Wartezeit entscheidet über die Entstehung des Anspruchs. Wer die Wartezeit erfüllt hat, vermag einen Rentenanspruch zu erwerben; wer die Wartezeit nicht erfüllt hat, dem steht ein Rentenanspruch nicht zu. Für die einzelnen Rentenarten gelten unterschiedliche Wartezeiten (vgl. § 50 SGB VI). Für die kurzbemessenen Wartezeiten zählen grundsätzlich nur Beitragszeiten (§ 51 SGB VI). Beitragszeiten sind Pflichtbeitragszeiten und Zeiten, für die freiwillige Beiträge bezahlt werden (§ 55 SGB VI). Bei den Kindererziehungszeiten (§ 56 SGB VI) handelt es sich ebenfalls um Pflichtbeitragszeiten (vgl. §§ 3 Nr. 1, 177 Abs. 1 SGB VI). Auf die Wartezeit von 35 Jahren werden sämtliche rentenrechtlichen Zeiten angerechnet. Wartezeiten können auch durch den Versorgungsausgleich (§ 52 SGB VI) erworben werden. Versicherte, die die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren aus nicht zurechenbaren Gründen nicht erfüllt haben, werden behandelt, als wenn sie die Wartezeit erfüllt hätten (§ 53 SGB VI). bb) Rentenrechtliche Zeiten: Die rentenrechtlichen Zeiten sind wichtig, um die Rentenhöhe zu ermitteln (vgl. cc). 18 Für die Ermittlung der rentenrechtlichen Zeiten sind zu unterscheiden: die Beitragszeiten (§ 55 SGB VI), die Anrechnungszeiten (§ 58 SGB VI), die Zurechnungszeit (§ 59 SGB VI) und die Berücksichtigungszeiten (§ 57 SGB VI). Die Ersatzzeiten nach §§ 250 f. SGB VI spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Beitragszeiten bezeichnen Zeiträume, für die nach Bundesrecht Pflicht- oder freiwillige Beiträge entrichtet worden sind. Durch die Behandlung der Kindererziehungszeiten als Pflichtbeitragszeiten werden Nachteile in der Alterssicherung von Eltern ausgeglichen, die sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland der Kindererziehung widmen. Die Anrechnungszeiten sind Zeiten, in denen der Versicherte aus unverschuldeten Gründen (Krankheit, Schwangerschaft, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit, Schulbesuch) eine Berufstätigkeit nicht ausüben konnte. Die Zurechnungszeit soll Versicherten und Hinterbliebenen eine Rente in ausreichender Höhe sichern, wenn der Versicherte schon in frühen Jahren erwerbsgemindert geworden bzw. verstorben ist. cc) Die Rentenberechnung bestimmt sich nach folgenden Grundsätzen (§ 63 SGB VI): Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich aus der Multiplikation der „persönlichen Entgeltpunkte“ mit dem „Rentenartfaktor“ und dem „aktuellen Rentenwert“ (§ 64 SGB VI; vgl. Tabelle). Je nach Regelungsziel ergeben sich für die einzelnen Faktoren unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Die persönlichen Entgeltpunkte (EP): § 66 SGB VI Die „persönlichen Entgeltpunkte“ reflektieren das rentenversicherungsrechtlich erhebliche Lebenseinkommen des Versicherten. Im Gegensatz zu den anderen Faktoren, richtet sich die Höhe der „persönlichen Entgeltpunkte“ nach den individuellen Verhältnissen des Versicherten. Ausschlaggebend sind die versicherten Entgelte und Einkommen, sowie das Renteneintrittsalter. Zur Ermittlung der „persönlichen Entgeltpunkte“ ist die „Summe aller Entgeltpunkte“ mit dem „Zugangsfaktor“ zu vervielfältigen (§ 66 Abs. 1 SGB VI). Die „Summe der Entgeltpunkte“ ergibt sich aus der Addition von - Beitragszeiten (§ 70 SGB VI), - beitragsfreien Zeiten (§§ 71-74 SGB VI), - Zuschlägen für beitragsgeminderte Zeiten (§ 71 Abs. 2 SGB VI), - Zuschlägen oder Abschlägen aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich (§§ 76 SGB VI) - Zuschlägen aus der Zahlung von Beiträgen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen 19 Alters (§§ 76a, 187a SGB VI) - Zuschlägen für Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung (§ 76 b SGB VI) und - Arbeitsentgelt aus nicht gemäß einer Vereinbarung über flexible Arbeitszeitregelungen verwendeten Wertguthaben. Die Anzahl der für die einzelnen Zeiten zu Grunde zu legenden EP ergibt sich aus den jeweiligen Einzelregelungen. Hinsichtlich der Beitragszeiten wird die Anzahl der EP mittels der Division der Beitragsbemessungsgrundlage (bei Pflichtversicherten regelmäßig das Arbeitsentgelt, §§ 161 f. SGB VI) durch das Durchschnittsentgelt für dasselbe Jahr bestimmt (§ 70 Abs. 1 SGB VI). Ein durchschnittlich verdienender Versicherungspflichtiger erlangt damit einen EP je Kalenderjahr (vgl. auch § 63 Abs. 2 SGB VI). Beläuft sich das Einkommen auf 120 % des Durchschnittseinkommens, so werden dem Versicherten für das entsprechende Jahr 1,2 EP gutgeschrieben. Die Anzahl der EP für beitragsfreie Zeiten richtet sich danach, in wieweit ihnen Beitragszeiten gegenüberstehen (= Beitragsdichte entscheidend, vgl. §§ 71 ff. SGB VI). Es gilt das Prinzip der Gesamtleistungsbewertung, wonach die Gesamtsumme der EP für Beitragszeiten und Berücksichtigungszeiten durch die Zahl der belegungsfähigen Kalendermonate (§ 72 Abs. 2 SGB VI) zu teilen ist (§ 71 Abs. 1 SGB VI). Die beitragsfreien Zeiten werden also mit einem individuellen Durchschnittswert an EP eingerechnet. Der Zugangsfaktor bewirkt die Berücksichtigung des Renteneintrittsalters. Bei Altersrentenbeginn mit Vollendung des 65. Lebensjahres beträgt der Zugangsfaktor 1. Wird die Rente vorzeitig angetreten, so ist der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat, den der Rentenberechtigte eher die Rente in Anspruch nimmt, um 0,3 % zu verringern. Bei verspätetem Rentenantritt ist der Zugangsfaktor je Kalendermonat um 0,5 % zu erhöhen (§ 77 SGB VI). Beim Regelfall des Rentenantritts mit 65 Jahren (Zugangsfaktors von 1) stimmt damit die „Summe der Entgeltpunkte“ mit den „persönlichen Entgeltpunkten“ überein. Der Rentenartfaktor: § 67 SGB VI Der „Rentenartfaktor“ ermöglicht, dass sich die Bedeutung der Sicherungsziele der Renten auch in der Höhe der Rentenauszahlung ausdrückt. Im Fall von Renten mit voller Lohnersatzfunktion (z. B. Altersrenten, Renten wegen voller Erwerbsminderung) beträgt der „Rentenartfaktor“ 1; bei Renten mit Lohnzuschussfunktion ist der Faktor niedriger (z. B. 0,5 bei der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung). 20 Der aktuelle Rentenwert: § 68 SGB VI Durch den „aktuellen Rentenwert“ wird die anhand der persönlichen EP ausgedrückte relative Rente in einen monatlich zahlbaren Euro-Betrag umgewandelt. Der aktuelle Rentenwert ist für alle Versicherten gleich und wird jährlich zum 1. Juli unter Berücksichtigung des Durchschnittsentgelts und der Belastungsveränderung bei Arbeitsentgelten und Renten angepasst (Nettoanpassung, §§ 68, 65, 63 Abs. 7 SGB VI). Der aktuelle Rentenwert (1.7.2014) beläuft sich auf 28,61 EUR. Bis zur Herstellung einheitlicher Einkommensverhältnisse im Beitrittsgebiet und im alten Bundesgebiet ist in den neuen Bundesländern von speziellen Werten auszugehen (§§ 254b ff. SGB VI). So beträgt der aktuelle Rentenwert (Ost) ab 1.7.2014 26,39 EUR. 21 Grundsätze der Rentenberechnung: Rentenformel persönliche Entgeltpunkte (EP) § 64 SGB VI: § 66 SGB VI Berechnung: (= Summe der EP x § 66 SGB VI Ziel: x Rentenartfaktor § 67 SGB VI § 68 SGB VI = Monatsrente Zugangsfaktor) § 77 SGB VI Berücksichtigung Berücksichtigung Berücksichtigung 1. Umrechnung der in den EP der Höhe der versicherten von vorzeitiger Inan- des Zieles der Si- ausgedrückten Rentenhöhe in Arbeitsentgelte spruchnahme, cherung durch die einen absoluten Euro-Betrag Rente 2. Dynamisierung der Renten und -einkommen des sowie Verzichts auf Renten Grundsatz: x aktueller Rentenwert § 63 I, III SGB VI (vgl. auch § 65 SGB VI) § 63 V SGB VI § 63 IV SGB VI § 63 VII SGB VI § 63 II SGB VI Tabelle: Grundsätze der Rentenberechnung Beispiel: Alters-Monatsrente für ein Jahr Beitragszeit, Wartezeit wird als erfüllt unterstellt, Werte von 2014 Einkommen: 3000,- Euro/Monat, Beitragsbemessungsgrenze: 71.400,- Euro (nicht erreicht), vorl. Durchschnittsentgelt: 34.857,- Euro Berechnung: 3000 € x 12 Monate x 1 x 1 34.857 € x 28,61 Euro = 29,55 Euro (gerundet) 22 e) Die „Riester-Rente“ Durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz - AVmG) vom 26.06.2001 (BGBl. I S. 1310) ergaben sich einige grundlegende Neuerungen: So wird der Aufbau einer zusätzlichen - privaten oder betrieblichen - Altersversorgung ab 2002 staatlich gefördert. Neben das umlagefinanzierte System der gesetzlichen Rentenversicherung wird also der Aufbau einer „zusätzlichen Altersvorsorge“ als zweite Säule des gesetzlichen Rentensystems gestellt. Hintergrund ist die Befürchtung, dass das Rentenniveau aufgrund der demographischen Entwicklung zukünftig weiter absinken und so eine private Zusatzvorsorge für die meisten Menschen unausweichlich werden wird. Allerdings besteht kein Zwang, zusätzlich privat vorzusorgen. Vielmehr erhalten in der RV Versicherte, wenn sie einen bestimmten Teil ihres Einkommens in eine zusätzliche Altersvorsorge investieren, eine staatliche Förderung (diese beträgt 2002: 38 Euro, 2004: 76 Euro, 2006: 114 Euro und seit 2008: 154 Euro). Zusätzlich können die Aufwendungen für die Altersversorgung über einen Sonderausgabenabzug von der Steuer abgesetzt werden (§§ 10 a, 79 – 99 EStG). Gefördert werden aber nicht alle privaten Vorsorgeverträge, sondern nur vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen zertifizierte Anlageformen (vgl. das Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträgen – AltZertG). f) Weitere Sicherungsformen Weiterhin wird dem Arbeitnehmer ab 2002 ein individueller Anspruch auf betriebliche Altersversorgung eingeräumt (§ 1 a des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung). Jeder Arbeitnehmer hat ein Recht auf Entgeltumwandlung (§ 1 II Nr. 3 BetrAVG). Er kann also einen Teil seines Einkommens dazu einsetzen, eine betriebliche Altersversorgung aufzubauen. Grundsätzlich bleiben die umgewandelten Einkommensanteile Arbeitsentgelt i.S.v. § 14 Abs. 1 SGB IV, sind also der Beitragspflicht unterstellt. Lediglich in einer bis zum 31.12.2008 währenden Übergangszeit sind sie - bis zu 4 v.H. der Beitragsbemessungsgrenze (West) der RV - beitragsfrei (§ 115 SGB IV a. F.). Auch diese Form der Zusatzversorgung wird staatlich gefördert. Die seit dem 1.1.2003 bestehende bedarfsorientierte Grundsicherung für Rentner und dauerhaft voll Erwerbsgeminderte wurde zum 1.1.2005 in das SGB XII integriert. Anspruchsberechtigt sind diese Personen, wenn ihre Einkünfte nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten (vgl. §§ 41 ff. SGB XII). Die Grundsicherung tritt also an die Stelle der Sozialhilfe, die aus Scham oftmals nicht in Anspruch genommen wird. Zuständig für die Erbringung der Leistungen sind die Kommunen (§ 3 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGB XII). 23 §5 Versorgungsausgleich Seit dem 1.7.1977 besteht der Versorgungsausgleich. Er lässt bei Ehescheidung den Ehegatten, der während der Ehezeit entweder nicht erwerbstätig war oder ein geringeres Einkommen als der andere Ehegatte verdient hat, an den vom erwerbstätigen oder besser verdienenden Ehegatten während der Ehe erworbenen Anrechten teilhaben. Zum 1. September 2009 wurde das Recht des Versorgungsausgleichs umfassend und von Grund auf neu geregelt. a) Grundsatz Der Versorgungsausgleich ist kraft Gesetzes bei Ehescheidung, Ehenichtigkeit und Eheaufhebung durchzuführen. In ihn sind alle während der Ehezeit durch Arbeit oder Vermögensdisposition erworbenen Anrechte auf Rente bei Alter und Invalidität einzubeziehen. Die Ehezeit beginnt mit dem Monat der Eheschließung und endet mit dem Monat, der dem Monat vorausgeht, in welchem der Antrag auf Auflösung gerichtlich geltend gemacht wird. Auch Zeiten des Getrenntlebens zählen also als Ehezeiten. Auszugleichen sind alle im In- oder Ausland bestehenden Anrechte, insbesondere aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aus anderen Regelsicherungssystemen wie der Beamtenversorgung oder der berufsständischen Versorgung, aus der betrieblichen Altersversorgung oder aus der privaten Alters- und Invaliditätsvorsorge (§ 1587 BGB, § 2 VersAusglG). Der Versorgungsausgleich kann durch notariell beurkundeten Vertrag bei Eheschließung oder im Verlauf der Ehe ausgeschlossen oder abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen geregelt werden (§§ 6 – 8 VersAusglG). Er ist ferner in Härtefällen kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 27 VersAusglG). Liegen diese Einschränkungen nicht vor, so ist derjenige Ehegatte dem anderen zum Versorgungsausgleich verpflichtet, dessen in der Ehe erworbenen Vorsorgerechte den höheren Wert erreichen. Der Umfang des Ausgleichs beläuft sich auf die Hälfte dieses Ausgleichswertes (§ 1 VersAusglG). b) Bewertung der Anrechte Die Durchführung des Versorgungsausgleichs erfordert die Bewertung aller in den Versorgungsausgleich einbezogenen Anrechte. Die Bewertung ist aus verschiedenen Gründen schwierig. In den Versorgungsausgleich sind unterschiedliche Gattungen von Anrechten einzubeziehen, insbesondere Rechte aus der RV, der Beamtenversorgung, der berufsständischen betrieblichen Alterversorgung sowie der privaten Lebensversicherung. Zwischen diesen Sicherungsformen bestehen vielfältige Unterschiede. Einige Anrechte können verfallen, andere dagegen nicht. Einige Anrechte sehen Leis24 tungsansprüche vor, die an Schwankungen der Kaufkraft und der Einkommensentwicklung der aktiv Beschäftigten anzupassen sind, andere dagegen nicht. Bei einigen ist eine kontinuierliche, bei anderen eine diskontinuierliche Entwicklung des Vorsorgewertes vorgesehen. Nicht alle diese Probleme sind durch das Gesetz befriedigend geregelt. Da die Anrechte aus der RV die sozialpolitisch bedeutendsten Anrechte sind, werden alle Anrechte, die nicht der RV unterliegen, so bewertet, als beruhten sie auf Beiträgen zur RV. Diese Umwertung findet jedoch nur statt, soweit die Anrechte unverfallbar sind. Sind die Anrechte verfallbar, kommt eine Gesamtbilanzierung nicht in Frage. c) Durchführung des Versorgungsausgleichs Der Versorgungsausgleich beläuft sich auf die Hälfte der Wertdifferenz der von den Eheleuten während der Ehe erworbenen Vorsorgerechte. Dieser Ausgleich soll vorrangig durch Vereinbarung und erst, wenn eine solche Vereinbarung nicht besteht, durch interne und externe Teilung vorgenommen werden (§§ 10 ff., 14 ff. VersAusglG). Interne Teilung bedeutet, die Begründung eines Teilhaberechts des ausgleichsberechtigten Ehegatten beim Versorgungsträger des ausgleichspflichtigen. Bei der externen Teilung erfolgt eine Übertragung eines Rentenrechts des ausgleichspflichtigen auf einen anderen Versorgungsträger als demjenigen, bei dem das auszugleichende Anrecht besteht (§ 14 Abs. 1 VersAusglG). Die interne Teilung hat die Vereinfachung der Versorgungsanrechte zur Folge. Grundsätzlich ist die interne Teilung durchzuführen. Nur in Ausnahmefällen ist auf die externe Teilung zurückzugreifen (§ 9 Abs. 2, 3 VersAusglG). d) Folgen des Versorgungsausgleichs Für den Ausgleichspflichtigen führt der Versorgungsausgleich zur Verminderung der Anwartschaft. Für den Ausgleichsberechtigten führt der Ausgleich zu einer Begründung oder Erhöhung von Anwartschaften. e) Verfahren Der Versorgungsausgleich ist durch das Familiengericht festzulegen, welches auch über Scheidungsgrund und Scheidungsfolgen befindet. Alle Fragen, die mit der Scheidung zusammenhängen, sollen einheitlich in einem Beschluss entschieden werden (es kommt zum Entscheidungsverbund, § 137 FamFG). Für das Verfahren zur Durchführung des Versorgungsausgleichs gelten die Grund25 sätze der Amtsermittlung und der materiellen Wahrheit (vgl. §§, 26, 27 II, 217 ff. FamFG). Der Richter hat alle wesentlichen Daten von den Versorgungsträgern anzufordern. Diese sind zur Auskunftserteilung verpflichtet. Die Vorsorgeträger sind am Scheidungsverfahren zu beteiligen. 26 §6 a) aa) Krankenversicherung Überblick In Deutschland wird der Schutz bei Krankheit durch die soziale Krankenversicherung (KV), die Beihilfe und die Private Krankenversicherung (PKV) gewährleistet. Die KV beruht auf dem Sachleistungsprinzip, die PKV auf dem Kostenerstattungsprinzip. KV und PKV übertragen die Aufgabe der Sicherung einem selbständigen Träger, die Beihilfe wird dagegen durch den Dienstherrn erbracht. In der KV sind abhängig Beschäftigte gesichert, soweit sie nicht ein weit überdurchschnittliches Einkommen beziehen. In der PKV sind Selbständige und weit überdurchschnittlich verdienende Arbeitnehmer versichert. Die Beihilfe sichert die Beamten. bb) Im Internationalen Vergleich gibt es drei Wege der sozialrechtlichen Krankensicherung: - Nationaler Gesundheitsdienst (z.B. in Großbritannien, Italien, Schweden), - Krankenversicherung nach dem Kostenerstattungsprinzip (z.B. Frankreich) und - Krankenversicherung nach dem Sachleistungsprinzip (z.B. Deutschland). In den nationalen Gesundheitsdiensten kann jeder Einwohner ohne Gegenleistung die Leistungen des nationalen Gesundheitsdienstes (Krankenhäuser, Ärzte) in Anspruch nehmen. Bei der Krankenversicherung mit Kostenerstattung beschafft sich der Erkrankte die Leistungen der Ärzte oder Krankenhäuser auf dem Markt; die Krankenversicherung erstattet die gesamten oder einen Teil der Kosten. Bei der Krankenversicherung nach dem Sachleistungsprinzip erhalten die Versicherten (nicht alle Einwohner) einen Anspruch auf Behandlung ohne Gegenleistung und Übernahme der Kosten. cc) Die KV kennt den Versicherungsfall der Krankheit. Dieser ist allerdings zweigliedrig. Neben einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand müssen Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit treten. Im Falle der Behandlungsbedürftigkeit erhält der Versicherte sämtliche Dienst- und Sachleistungen, die für die Krankenbehandlung notwendig sind. Im Falle der Arbeitsunfähigkeit erhält der beschäftigte Versicherte Einkommensersatz durch die Krankenversicherung. Die KV ist im SGB V geregelt. Die versicherten Personen sind in §§ 5 ff. SGB V aufgeführt. In die KV sind auch Familienangehörige von Berufstätigen - Familienversicherung (§ 10 SGB V) - einbezogen. 27 b) Der Versicherungsfall der Behandlungsbedürftigkeit aa) Voraussetzungen des Anspruchs Der Versicherte kann für die in § 11 SGB V genannten Zwecke (zur Krankheitsverhütung sowie zur Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und bei Schwangerschaftsabbruch, zur Früherkennung von Krankheiten und zur Behandlung von Krankheiten) Leistungen der KV in Anspruch nehmen. Der Inhalt der Leistungen für die einzelnen Leistungszwecke wird in den §§ 20 ff. SGB V näher definiert. Am wichtigsten ist der Anspruch auf Krankenbehandlung (§§ 27 ff. SGB V). Voraussetzung ist eine Krankheit im Sinne der §§ 27 ff. SGB V = ein regelwidriger Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Keine „Krankheit“ sind daher: - Anomalien des äußeren Erscheinungsbildes (Stupsnase, Segelohren), da kein regelwidriger Zustand (zu messen am Normal- nicht Idealbild des Menschen) - Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche) oder Sprachfehler, da zwar behandlungsbedürftig und -fähig, aber nicht ärztlicher Behandlung bedürfend. bb) Inhalt des Anspruchs auf Krankenbehandlung Der Anspruch auf Krankenbehandlung ist in § 27 SGB V vorgesehen. Er ist gerichtet auf ärztliche und zahnärztliche Behandlung, häusliche Krankenpflege, Krankenhausbehandlung, Arzneimittelsowie Heil- und Hilfsmittelversorgung und Leistungen der medizinischen Rehabilitation. cc) Ausgestaltung der Leistungserbringung Erläutert am Beispiel der Erbringung ärztlicher Dienste: Die Krankenversicherungen gelten die Leistungen der Ärzte globaliter ab. Die Ärzte werden durch die Kassenärztliche Vereinigung (KÄV = eine öffentlich-rechtliche Organisation aller zur Behandlung von Kassenpatienten befugten Ärzte) am Ertrag beteiligt. Jeder approbierte Arzt hat Anspruch auf Zulassung zur KÄV (BVerfGE 11, 30). Eine Begrenzung des Zugangs ist nur wegen regionaler Überversorgung zulässig. Die KÄVen sind regional untergliedert; haben sich jedoch auf Bundesebene zusammengeschlossen. Die Bundesvereinigung handelt mit den Verbänden der Krankenkassen den Bundesmanteltarif Arzt/Zahnarzt aus. Hier sind die Prinzipien der Leistungsgewährung, etwa das Prinzip der Höchstpersönlichkeit, der Wirtschaftlichkeit oder der Haftung für Behandlungsfehler statuiert. Die Strukturen der Leistungserbringung sind in beiliegendem Schema dargestellt: 28 Vertragsarztrecht Abschluß der Gesamtverträge (§ 83 I 1 SGB V) Landesverband der Krankenkassen Krankenversicherung öffentlichrechtlich Zahlungsanspruch bezüglich der Gesamtvergütung (§ 85 I SGB V) Kassenärztliche Vereinigung Versicherter Behandlungsverhältnis privatrechtlich = Mitgliedschaft 29 Arzt öffentlichrechtlich Recht zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung (§ 95 III SGB V) und Vergütungsanspruch (§ 85 IV 1 SGB V) Pflicht zur Sicherstellung kassenärztlicher Versorgung (§ 75 I SGB V) Pflicht zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung Beitragspflicht (§§ 223 I, 249 I, 250 SGB V) öffentlichrechtlich Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung (§ 27 I 1, 2 Nr. 1 i.V.m. § 19 SGB V) Gesamtverträge (§ 83 I S. 1 SGB V) Ähnlich sind die Strukturen bei der Krankenhausbehandlung. Die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen schließen mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land Rahmenverträge ab (§ 112 SGB V), welche die Art und den Umfang der Krankenhausbehandlung an die Anforderungen des SGB V anpassen sollen. Diese Verträge werden durch Vereinbarungen nach § 115 SGB V, bei denen die Kassenärztliche Vereinigung zusätzlich einzubeziehen ist, ergänzt. Die Rahmenverträge sind jeweils für die Krankenkassen und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich (§§ 112 Abs. 2 S. 2, 115 Abs. 2 S. 2 SGB V). An der Versorgung nehmen nur die zugelassenen Krankenhäuser teil (§ 108 SGB V). Das sind diejenigen Krankenhäuser, die entweder mit dem Landesverband der Krankenkassen einen Versorgungsvertrag abgeschlossen haben (§§ 108 Nr. 3, 109 Abs. 1 S. 1 SGB V) oder deren Versorgungsvertrag gesetzlich fingiert wird (§§ 108 Nr. 1, 2, 109 Abs. 1 S. 2 SGB V). Ein Anspruch der Krankenhausträger auf Abschluss eines Versorgungsvertrages besteht nicht (§ 109 Abs. 2 S. 1 SGB V). Der Versorgungsvertrag bedarf der Genehmigung der zuständigen Landesbehörde (§ 109 Abs. 3 S. 2 SGB V). Das Krankenhaus ist im Rahmen des sich aus dem Versorgungsvertrag ergebenden Versorgungsauftrages zur Krankenhausbehandlung verpflichtet (§ 109 Abs. 4 S. 2 SGB V). Andererseits erlangt der Krankenhausträger das Recht auf eine Vergütung, welche nach einer mit der Krankenkasse abzuschließenden Pflegesatzvereinbarung zu bestimmen ist (vgl. § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V). Leistungen der psychiatrischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Kliniken und Krankenhäuser werden nach Tagessätzen vergütet. Alle anderen Krankenhäuser erhalten eine krankheits- und behandlungsbezogene Vergütung, die so genannte Fallpauschale (DRG = diagnosis related groups). Im Rahmen der Krankenhausversorgung ergibt sich damit folgende Darstellung: 30 Die Krankenhausversorgung Abschluß der Rahmenverträge (§ 112 SGB V) Landesverband der Krankenkassen und Verbände der Ersatzkassen Verbindlichkeit der Rahmenverträge (§ 112 II 2 SGB V) Beitragspflicht (§§ 223 I, 249 I, 250 SGB V) öffentlich-rechtlich Anspruch auf Behandlung im Krankenhaus (§§ 27 I 1, 2 Nr. 5, 39 I 2 i.V.m. § 19 SGB V) Krankenversicherung Krankenhausgesellschaft (oder Vereinigung der Krankenhausträger) Vers Gen orgungs ehm v igun ertrag ( g (§ § 109 109 SG III S . 2 S B V), GB V) öff entl ichr ech tlich Pfle gesa tzve rein - Re baru cht/P ng, § f li cht z 109 - An ur T IV S spru beh eiln .3S a ch a GB uf V ndlung, ahme V ergü an d § 10 er K tung 9 IV r anke S. 2 nach S nhau der Pfle GB V sgesa tzve rein baru ng erhältnis Behandlungsv Versicherter ch privat-rechtli = Mitgliedschaft 31 Verbindlichkeit der Rahmenverträge (§ 112 II 2 SGB V) zugelassenes Krankenhaus (Zulassung: kraft Versorgungsvertrag: §§ 108 Nr. 3, 109 IV 1 109 I 1 SGB V) kraft Gesetz: §§ 108 Nr. 1,2, 109 I 2 SGB V, c) aa) Versicherungsfall Arbeitsunfähigkeit Problem: Selbständige und abhängig Beschäftigte bestreiten ihre Erwerbseinkommen durch Erwerbstätigkeit. Wenn ein Selbständiger nicht arbeiten kann, vermag er keine Einkünfte zu erzielen. Dies gilt grundsätzlich auch für Arbeitnehmer (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB). Selbständige haben sich für den Einkommensausfall, der auf Krankheit beruht, privatrechtlich abzusichern. Die Privatversicherungen stellen ihnen eine Krankentagegeldversicherung zur Verfügung. Für Arbeitnehmer ist der Einkommensausfall bei Krankheit durch Regelungen über die Entgeltfortzahlung nach dem EFZG vorgesehen. Danach besteht bei Erkrankung ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % des Entgelts von sechs Wochen. Tarifverträge können über die Entgeltfortzahlungsfristen hinausgehen. bb) Die Sozialversicherung gewährt in Form des Krankengeldes (§§ 44 ff. SGB V) ebenfalls eine Einkommenssicherung. Sie beläuft sich auf 70 % des Durchschnittseinkommens des Versicherten (§ 47 Abs. 1 SGB V). Die Laufzeit beträgt 78 Wochen (§ 48 SGB V). Im Anschluss daran kann Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Anspruch genommen werden. Der Anspruch auf Krankengeld ruht, solange ein Versicherter Entgeltfortzahlung (§ 3 EFZG) beanspruchen kann und erhält (§ 49 SGB V). Kann ein Versicherter Entgeltfortzahlung beanspruchen, erhält er sie jedoch nicht, steht dem Versicherten ein Anspruch auf Krankengeldzahlung zu. Die Krankenkasse erwirbt gemäß § 115 SGB X den bestehenden, jedoch nicht befriedigten Anspruch im Wege der cessio legis. 32 §7 a) Pflegeversicherung Gesichertes Risiko ist die Pflegebedürftigkeit = Unvermögen der Selbstbetreuung, Selbst- vornahme der Verrichtungen des täglichen Lebens (Hygiene, Hauswirtschaft, Bewegung etc.; vgl. § 14 SGB XI). Pflegebedürftigkeit kann alters- oder krankheitsbedingt sein. Der Schutz besteht für alle Versicherten (vgl. unten c), er kann auch schon für Kleinkinder bestehen. Sein größtes Anwendungsfeld ist die Pflege älterer Menschen. Der Schutz bei Pflegebedürftigkeit war bis zur Einführung der Pflegeversicherung 1994 unzulänglich geregelt. Ein hinreichender Schutz bestand bislang nur für die Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie die Versorgungsberechtigten. Ein Schutz durch die Krankenversicherung oder die Rentenversicherung bestand nicht, weil Pflegebedürftigkeit weder Krankheit ist, noch die Rentenversicherung jenseits der Rehabilitation (vgl. unten § 25) Dienst- und Sachleistungen erbringt. Viele, ja die meisten Pflegebedürftigen waren deshalb auf Sozialhilfe angewiesen. b) Die im SGB XI geregelte Pflegeversicherung beruht auf den Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherung. Verworfene Alternativen sind: - Pflegeversicherung nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen, - eine allen Bewohnern zugängliche, aus Steuern finanzierte Pflegeleistung, - eine Pflicht privatversicherungsrechtlicher Vorsorge für das Risiko der Pflegebedürftigkeit, jedenfalls für die in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten. Aufgabe 3: Welche Gründe bewogen den Gesetzgeber, die Pflegeversicherung unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung einzurichten und welche Gründe lassen sich zugunsten der vom Gesetzgeber verworfenen Alternativen vorbringen? c) Versicherter Personenkreis: Der sozialen Pflegeversicherung unterliegen die in der gesetzli- chen Krankenversicherung Pflicht- oder freiwillig Versicherten sowie deren nichtversicherungspflichtige Ehegatten und unterhaltsberechtigte Kinder (§§ 20 ff. SGB XI). Der Gesetzgeber ist dem Vorschlag, in die Versicherungspflicht auch Selbständige und Beamte einzubeziehen, nicht gefolgt; wohl aber unterliegen diese einem Versicherungsobligatorium: sie sind also verpflichtet, gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit Vorsorge zu treffen, wenn und soweit sie auch gegen Krankheit versichert sind (§ 23 SGB XI). 33 d) Leistungen werden bei ambulanter und stationärer Pflege erbracht. Es werden primär Pflege- leistungen gewährt, die von den mit den Pflegekassen im Versorgungsvertrag stehenden Pflegediensten (ambulante Pflege) oder Pflegeheimen (stationäre Pflege) erbracht werden. Allerdings ist die Leistung dem Umfang nach begrenzt. Der Umfang der gewährten Leistung hängt vom Grad der Pflegebedürftigkeit des Versicherten ab. Das Gesetz unterscheidet drei Pflegestufen: Pflegebedürftigkeit, Schwerpflegebedürftigkeit und Schwerstpflegebedürftigkeit (§ 15 SGB XI). Wird die Pflege von einer vom Pflegebedürftigen selbst beschafften Pflegeperson (z.B. Familienangehörigen, Freunden, Nachbarn; § 19 SGB XI) unentgeltlich erbracht, gewährt die Pflegekasse der Pflegekraft ein Pflegegeld (§ 37 SGB XI). Dessen Höhe hängt davon ab, in welchem Umfang der Pflegebedürftige der Pflege bedarf und die Pflege erhält. Die unentgeltlich tätigen Pflegepersonen sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Die Beiträge trägt die Pflegekasse. Außerdem besteht Schutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 44 SGB XI). Die hierfür entstehenden Aufwendungen sind von den Gemeinden und Gemeindeverbänden zu tragen (§§ 2 Abs. 1 Nr. 17, 106 Abs. 2, 104 f., 129 Abs. 1 Nr. 7, 185 Abs. 2 SGB VII, 19, 14, 44 Abs. 3 SGB XI). e) Pflegeleistungen werden durch Beiträge finanziert. Sie sind in Höhe von 2,05 % des versiche- rungspflichtigen Einkommens der Versicherten bis zur Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung zu entrichten (§ 55 SGB XI). Für versicherungspflichtige Arbeitnehmer trägt der Arbeitgeber die Hälfte des Beitragsanteils (§ 58 SGB XI). Die damit verbundene Mehrbelastung des Arbeitgebers soll durch Streichung eines Feiertages kompensiert werden. Ob der Arbeitgeber zu Beitragszahlungen herangezogen werden kann, ist verfassungsrechtlich in Zweifel gezogen worden. 34 35 §8 a) Unfallversicherung Überblick Das Recht der sozialen Vorsorge gewährt Leistungen bei Unfällen, die mit der Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Zusammenhang stehen, unabhängig von der Wirksamkeit des der Beschäftigung zugrundeliegenden Vertragsverhältnisses. Es war bis zum 31.12.1996 in §§ 537 ff. RVO, und ist seit dem 1.1.1997 im SGB VII geregelt. Neben der Sicherung der abhängig Beschäftigten werden Leistungen nach den Grundsätzen des Unfallversicherungsrechts gewährt, wenn jemand im Rahmen einer im Interesse der Allgemeinheit liegenden Handlung einen Unfall erleidet (vgl. z.B. § 2 Abs. 1 Nrn. 8 - 13 SGB VII). Dies wird im Gegensatz zur Absicherung der Arbeitnehmer und ihnen Gleichstehender, die als sog. echte Unfallversicherung bezeichnet, unechte Unfallversicherung genannt und ist systematisch dem Recht der sozialen Entschädigung zuzurechnen (dazu vgl. § 9, § 10). Daneben bestehen andere Möglichkeiten des Schutzes bei Unfall. Tritt ein Unfall außerhalb der durch Leistungen der echten und unechten Unfallversicherung (UV) gesicherten Sphäre ein, kann der Verunglückte Leistungen von der gesetzlichen Kranken- oder Rentenversicherung beanspruchen, falls er in diesen Zweigen versichert ist. Tritt der Unfall ohne Drittverschulden ein, sichern Kranken- und Rentenversicherung Krankenbehandlung und Einkommensausgleich. Die Einkommenssicherung reicht jedoch nicht für die Sicherung des Lebensstandards des Verletzten, namentlich wenn das Unfallopfer jung ist. In diesem Falle kann das Risiko eines unfallbedingten Einkommensverlustes durch Privatversicherung gelindert werden. Die Prämien können als Vorsorgeaufwendungen steuermindernd geltend gemacht werden (vgl. § 9 bzw. 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Hat der Geschädigte einen privatrechtlichen Schadensersatzanspruch (z.B. § 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 i.V.m. einem Schutzgesetz oder § 826 BGB) gegen einen die Schädigung auslösenden Dritten, bestimmt § 116 SGB X eine cessio legis der dem Geschädigten zustehenden privatrechtlichen Ersatzansprüche in Höhe der von den Sozialleistungsträgern geschuldeten kongruenten Leistungen auf die leistungspflichtigen Sozialleistungsträger. Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung konkretisiert das Prinzip der Fremdvorsorge. Unfallversicherungsträger sind regelmäßig die Berufsgenossenschaften (§ 114 Abs. 1 Nrn. 1, 2 SGB VII), die sich aus Beiträgen der Unternehmer (§ 150 SGB VII) finanzieren. Die Beitragshöhe bemisst sich nach dem Finanzbedarf, den Arbeitsentgelten und der Gefahrenklasse des Betriebes (§ 153 SGB VII). Die Berufsgenossenschaften haben Unfälle zu verhüten und Unfallfolgen einschließlich der Einkommens- und Unterhaltsverluste auszugleichen. Die Leistungen sind zugeschnitten auf Arbeitnehmer. Ihnen soll durch die UV ein reguläres und stetiges Einkommen gesichert werden. Zu dieser Technik gibt es Alternativen. Eine wird insbesondere im Beamtenversorgungsrecht beschritten. Auch der Beamte ist gegen das Risiko des Unfalls bei Ausübung seiner Diensttätigkeit (= Dienstunfall) gesichert. Im Unterschied zur UV wird das Unfallopfer jedoch durch den Dienstherrn entschädigt (vgl. §§ 30 ff. BeamtVG). Für Nichtversicherte eröffnen die §§ 178 - 191 VVG die Möglichkeit privatrechtlicher Unfallversicherung. b) Personenkreis Der in die UV einbezogene Personenkreis wird in §§ 2 ff. SGB VII bestimmt. Die UV ist nicht auf Arbeitnehmer beschränkt. Selbständige stehen unter dem Schutz der UV kraft Gesetzes (Landwirte, Hausgewerbetreibende, Küstenschiffer und Küstenfischer - § 2 Abs. 1 Nrn. 5, 6, 7 SGB VII) oder wenn dies die Satzung des Unfallversicherungsträgers bestimmt (für Unternehmer und Familienangehörige - § 3 SGB VII). Darüber hinaus steht Selbständigen, die nicht kraft Gesetzes oder Satzung der Unfallversicherung angehören, das Recht zum freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen UV zu (§ 6 SGB VII). Insbesondere sind kraft Gesetzes pflichtversichert Lernende (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII) und Personen, die vorübergehend nicht beschäftigt sind, aber eine Beschäftigung anstreben (so die Personen, die einer Meldepflicht i.S.d. SGB II oder III unterliegen - § 2 Abs. 1 Nr.14 SGB VII). Aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit sind weitere Personen in den Kreis der Versicherten einbezogen, so Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen, Schüler während des Schulbesuchs und Studenten (vgl. § 2 Abs. 1 Nrn. 8a, 8b, 8c SGB VII) und Personen, die bei Tätigkeiten zu Schaden kommen, die im Interesse der Allgemeinheit verrichtet werden (vgl. § 2 Abs. 1 Nrn. 9 – 13; siehe unten zur unechten UV - § 10). Ebenso als schutzwürdig erachtet und in die UV einbezogen wurden Rehabilitanden, Personen, die i.R.d. Selbsthilfe beim Wohnungsbau tätig werden, Pflegepersonen (§ 2 Abs. 1 Nrn. 15 – 17 SGB VII) und Personen, die Bundesfreiwilligendienst ableisten (§ 2 I a SGB VII). 37 Greift keine der Alternativen des § 2 Abs. 1 SGB VII, kann Versicherungsschutz nach dem Auffangtatbestand des § 2 Abs. 2 SGB VII bestehen, wenn der Geschädigte wie ein nach Abs. 1 Versicherter tätig geworden ist. § 12 SGB VII bestimmt schließlich, dass auch die Leibesfrucht einem Versicherten gleichstehen kann, wenn sie durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit der Mutter geschädigt worden ist. Dies stellt einen eigenen Versicherungsfall der Leibesfrucht dar. c) Sicherungsfälle Die UV gewährt Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten (vgl. §§ 7 ff. SGB VII). Unter „Unfall“ ist ein körperlich schädigendes Verhalten zu verstehen. Ein Arbeitsunfall ist ein Unfall, den der Arbeitnehmer in Ausübung einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 8 Abs. 1 SGB VII). Versicherte Tätigkeit ist auch die Zurücklegung des unmittelbaren Weges „nach und von dem Ort der Tätigkeit“ (= Wegeunfall; vgl. § 8 Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGB VII). Ebenso sind Unfälle versichert, die sich im Zusammenhang mit der Verwahrung, Beförderung oder Instandhaltung von Arbeitsgeräten ereignen (= Arbeitsgeräteunfälle; vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII). Eine Berufskrankheit liegt vor, wenn ein Versicherter einen regelwidrigen Körperzustand infolge der Ausübung einer unter Versicherungsschutz stehenden Arbeitnehmertätigkeit erleidet (vg. § 9 SGB VII). Zwischen der versicherten Tätigkeit, der Verletzung und dem Körperschaden muss jeweils Kausalität - zwischen Tätigkeit und Verletzung „haftungsbegründende“ und zwischen Verletzung und Schaden „haftungsausfüllende“ Kausalität - bestehen. Für die Beurteilung der Kausalität gilt im Sozialrecht - im Unterschied zum Straf- und Zivilrecht, wo Äquivalenz- oder Adäquanztheorie gelten - die „Theorie der wesentlichen Bedingung“. Danach lösen nur solche Bedingungen die Entschädigungspflicht des Unfallversicherungsträgers aus, die für die Entstehung der Verletzung oder des Schadens wesentlich sind. Wichtigste Anwendungsfälle dieser Kausalitätslehre sind die Bewältigung von Arbeitsunfällen, die unter Einfluss von Alkohol eingetreten sind, die unfallbedingte Verschlimmerung eines Leidens und schließlich unfallbedingte Todesfälle, wenn der Tod auch ohne den Unfall nicht wesentlich später eingetreten wäre. Die Theorie der wesentlichen Bedingung ist umstritten. Ihre Bedeutung liegt nicht entscheidend darin, dass sie einen unmittelbar anwendbaren Maßstab für die Lösung der praktischen Probleme liefert. Sie bedarf vielmehr der Konkretisierung. Andererseits beschreibt sie global die Richtung, in 38 welcher die Problemlösung zu suchen ist. Die Entscheidungen, die mit der Theorie der wesentlichen Bedingung begründet werden, können auch mit den im allgemeinen Haftungsrecht anerkannten Zurechnungskriterien, etwa dem Gedanken der Übernahme des eigenen Risikos, des Vorteilsausgleichs, der überholenden Kausalität oder der Lehre vom Rechtswidrigkeitszusammenhang erklärt werden. Der Wegeunfall ist zu entschädigen, wenn auf dem unmittelbaren Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ein Unfall eingetreten ist (§ 8 Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGB VII). Der Weg muss um des betrieblichen Zweckes willen zurückgelegt worden sein. Wege, die ausschließlich im privaten Interesse zurückgelegt wurden, stehen nicht unter Unfallversicherungsschutz. Der Arbeitnehmer ist in der Wahl seines Weges sowie seines Verkehrsmittels frei - auch wenn für die verschiedenen Wege und Verkehrsmittel unterschiedliche Unfallrisiken bestehen. Dient der Weg auch privaten Zwecken, ist nur Unfallversicherungsschutz gegeben, wenn der Umweg dazu dient, ein eigenes Kind bei einer Kinderbetreuungseinrichtung unterzubringen oder um die Verpflichtungen aus einer Fahrgemeinschaft zu erfüllen (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII). Besorgt der Versicherte auf dem Wege von oder zur Arbeitsstätte private Angelegenheiten, steht die private Verrichtung nicht unter Unfallversicherungsschutz. Nach deren Beendigung lebt der Unfallversicherungsschutz für die Zurücklegung des Weges wieder auf, wenn und soweit die private Verrichtung den Arbeitsweg lediglich unterbricht. Eine Unterbrechung liegt vor, wenn die private Verrichtung nicht länger als zwei Stunden dauert. Aufgabe 4: Besteht Unfallversicherungsschutz auf dem Weg von der Betriebsstätte bei alkoholbedingter relativer Fahruntüchtigkeit (vgl.: BSG NZA 1985, 37 ff.) bzw. im Falle einer den Straßenverkehr vorsätzlich gefährdenden Fahrweise (vgl. BSG SGb 2002, 745 ff.)? Eine Berufskrankheit begründet Unfallversicherungsschutz, falls die Krankheit in einer eigenen Liste als Berufskrankheit anerkannt ist. Gegenwärtig gilt die Berufskrankheitenverordnung (BKV) vom 31.10.1997. Eine Krankheit kann aber auch als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn sie nicht in diese Liste aufgenommen worden ist, falls „neue Erkenntnisse“ bestehen, die eine Aufnahme der Krankheit als Berufskrankheit rechtfertigen (§ 9 Abs. 2 SGB VII). 39 d) Leistungen In der UV sind drei Leistungsgattungen zu unterscheiden: Wiederherstellung der Gesundheit, Ausgleich bleibender Schäden und Ausgleich todesbedingten Unterhaltsverlustes. Die Wiederherstellung der Gesundheit hat Vorrang vor dem Ausgleich der bleibenden Schäden. „Rehabilitation vor Rente“ (§ 26 Abs. 3 SGB VII, vgl. auch § 8 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Dieser Grundsatz entspricht einem allgemeinen Prinzip des Schadensrechts: Naturalrestitution geht vor Schadensausgleich durch Geldleistung (vgl. §§ 249, 251 BGB). aa) Wiederherstellung der Gesundheit Ist ein Versicherter Opfer eines Unfalls, hat er Anspruch auf Heilbehandlung (§§ 27 ff. SGB VII). Gemäß § 11 Abs. 5 SGB V geht der unfallversicherungsrechtliche Anspruch einem krankenversicherungsrechtlichen Anspruch vor. Trägt die Krankenkasse die Behandlungskosten, hat der Unfallversicherungsträger der Krankenkasse die entstehenden Kosten zu ersetzen (§ 105 SGB X). Im Streitfall können unter den Voraussetzungen des § 43 SGB I vorläufige Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung erwirkt werden. Außerdem hat der Verunglückte Ansprüche auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation sowie auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben: Wiedereingliederung in den bisherigen Beruf oder Umschulungsmaßnahmen (vgl. § 35 SGB VII). Während der Zeit der Behandlung erhält der Verunglückte nach Ablauf der Entgeltfortzahlungsfrist Verletztengeld, wenn die Behandlung durch den Unfallversicherungsträger durchgeführt wird (§§ 45 ff. SGB VII). Nimmt der Verunglückte an Maßnahmen der Rehabilitation teil, so steht ihm ein Übergangsgeld zu (§§ 49 ff. SGB VII). Das Verletztengeld beträgt 80 % des Durchschnittseinkommens des Versicherten, das Übergangsgeld beläuft sich auf Beträge zwischen 68 % und 75 % des Verletztengeldes. bb) Ausgleich bleibender Schäden Zum Ausgleich bleibender Schäden ist eine Verletztenrente zu zahlen. Sie wird nach den Grundsätzen der abstrakten Schadensberechnung bemessen, d.h. die Minderung der Erwerbsfähigkeit, die in Graden der Erwerbsminderung – MdE – ausgedrückt wird, wird unabhängig von konkreten Lohneinbußen bestimmt. Grundlage des Ausgleichs ist der vom Verunglückten vor Eintritt des Arbeitsunfalls bezogene Jahresarbeitsverdienst. Ein Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente 40 besteht, sofern eine MdE um mindestens 20 % besteht und diese über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert. Die Verletztenrente beträgt bei einer Erwerbsminderung von 100 % 2/3 des Jahresarbeitsverdienstes (§ 56 Abs. 3 SGB VII); bei geringeren Graden der Erwerbsminderung ist eine Teilrente entsprechend dem jeweiligen Erwerbsminderungsgrad zu zahlen. Die Verletztenrente kann auf Zeit oder auf Dauer gewährt werden. Eine Übergangsrente (Rente auf Zeit) (§ 62 SGB VII) wird gewährt, wenn die Entwicklung des Schadens nicht absehbar ist. Steht die dauerhafte Schädigung fest, wird Dauerrente geleistet (vgl. §§ 56 ff. SGB VII). Auf Antrag des Verunglückten kann eine Übergangs- oder Dauerrente bis zu einem Erwerbsminderungsgrad von weniger als 40 % durch Kapitalzahlung abgefunden werden (§§ 75 ff. SGB VII). Bei Dauerrenten mit höherer Erwerbsminderung ist eine Abfindung nur möglich, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit wesentlich sinkt (§ 78 SGB VII). cc) Leistungen bei Unfalltod Hat der Arbeitsunfall zum Tod des Versicherten geführt, so sind die durch Tod entstandenen Aufwendungen (Sterbegeld und Überführungskosten) vom Unfallversicherungsträger zu tragen (§§ 63 f. SGB VII). Ferner haben Ehegatten, minderjährige Kinder sowie die in Ausbildung befindlichen volljährigen Kinder, ausnahmsweise die geschiedenen Ehegatten, Eltern oder auch Enkel und Geschwister einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung (§§ 65 ff. SGB VII). Die Witwen/ Witwerrente (§ 65 Abs. 2 SGB VII) beträgt für die ersten drei Monate 2/3 des Jahreseinkommens, nach Ablauf des dritten Monates 30 % des Jahreseinkommens des Verunglückten (sog. Kleine Witwen/ Witwerrente) und erhöht sich auf 40 % (§ 65 Abs. 2 Nr. 3, sog. Große Witwen/Witwerrente) abhängig davon, ob der Ehegatte zumutbar auf eine eigene Erwerbstätigkeit verwiesen werden kann oder nicht. Die Zumutbarkeit einer Verweisung hängt vom Lebensalter, der Erwerbsfähigkeit oder den Erziehungspflichten des Hinterbliebenen ab (§ 65 Abs. 2 SGB VII). Eigenes Erwerbseinkommen wird auf die Rente angerechnet (§ 65 Abs. 3, 4 SGB VII). Der Anspruch auf Witwen/ Witwerrente besteht bis zum Tod oder bis zur Wiederverheiratung des Hinterbliebenen. Seit 1.1.2002 besteht der Anspruch auf die sog. Kleine Witwenrente längstens für 24 Kalendermonate nach Ablauf des Monats, in dem der Ehegatte verstorben ist. Bei Halbwaisen errechnet sich die Waisenrente aus 20 %, bei Vollwaisen aus 30 % des Jahresarbeitsverdienstes des Verunglückten (§ 68 SGB VII). Die Rente wird bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (§ 67 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII) und bei Kindern in Ausbildung bis zu deren Abschluss, jedoch nicht über das 27. Lebensjahr hinaus bezahlt (§ 67 Abs. 3 Nr. 2 SGB VII). Ehegatten- und Waisenrenten aus einem Unfall dürfen den Höchstsatz von 80 % des Jahresarbeitsverdienstes nicht überschreiten (§ 70 SGB VII). 41 Aufwendungen der GUV in Mrd EUR 2005 2006 2007 2010 2011 2012 7,56 8,27 8,26 8,17 8,86 8,92 9,00 2,58 2,55 2,77 2,82 2,81 3,33 3,44 3,50 Finanzielle Kompensation 5,03 5,01 5,49 5,44 5,36 5,53 5,48 5,50 Verwaltung und Verfahren 1,12 1,09 2003 2004 Prävention 0,73 0,73 Entschädigungsleistungen 7,61 darunter: Rehabilitation Quelle: www.dguv.de Rentenbestand Renten an 2000 2005 2010 2011 2012 Versicherte 847.884 806.707 758.374 747.685 737.860 Witwer/Witwen 123.530 115.977 109.023 107.698 105.514 Waisen 20.292 18.236 13.837 12.894 12.364 Sonstige Berechtigte 127 87 34 31 33 Quelle: www.dguv.de e) Verhältnis der UV zur Haftpflicht von Arbeitgeber und Arbeitskollegen sowie Regress der Berufsgenossenschaft Ein Arbeitsunfall kann zugleich ein Haftpflichtfall sein, soweit er Folge eines vom Unternehmer oder von Arbeitskollegen zu verantwortenden Delikts- oder Gefährdungshaftungstatbestandes ist. Dann fragt sich: Wie ist das wechselseitige Verhältnis von gesetzlicher Unfallversicherung und Haftpflichtrecht zu bestimmen? Könnte der Verunglückte Leistungen der UV sowie Leistungen nach der Delikts- und Gefährdungshaftung beanspruchen, würde er doppelt entschädigt. Umgekehrt wäre der Unternehmer doppelt belastet: Denn einmal hätte er die Beiträge zur gesetzlichen UV aufzubringen, andererseits müsste er dem verunglückten Arbeitnehmer Schadensersatz leisten. Um dies zu vermeiden, sehen die § 104 ff. SGB VII vor, dass Leistungen der gesetzlichen UV die Haftpflicht von Unternehmern und Arbeitskollegen verdrängen, wenn und soweit diese nicht den Unfall vorsätzlich herbeigeführt haben. 42 aa) Haftungsfreistellung des Unternehmers Die Haftungsfreistellung des Unternehmers (§ 104 SGB VII) gegenüber dem Arbeitnehmer bei unvorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfällen rechtfertigt sich aus zwei Gedanken: - Der Unternehmer hat die Leistungen der Unfallversicherung durch eigene Beiträge finanziert und - das öffentlich-rechtliche System der Entschädigung vermeidet Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber über die Entstehung des Arbeitsunfalls. Die Verdrängung des Haftpflichtrechts durch das Unfallversicherungsrecht ist rechtlich nicht unbedenklich, weil Haftpflichtrecht im Gegensatz zum Unfallversicherungsrecht auch einen Ausgleich für immaterielle Schäden vorsieht (vgl. § 253 Abs. 2 BGB). Aufgabe 5: Ist der gesetzliche Ausschluss von Schmerzensgeldansprüchen des Arbeitnehmers gegenüber dem Unternehmer bei einem von diesem fahrlässig herbeigeführten Arbeitsunfall verfassungsrechtlich hinnehmbar (vgl. BVerfGE 34, 118)? bb) Haftungsfreistellung des Arbeitskollegen Für die Haftungsfreistellung des Arbeitskollegen (§ 105 SGB VII) sprechen zwei Gesichtspunkte: - Der Gedanke des Betriebsfriedens und - der allgemeine Gedanke der Haftungsbeschränkung des Arbeitnehmers bei Wahrnehmung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen. cc) Regress gegen die Freigestellten Trotz Freistellung von Unternehmer und Arbeitskollegen von privatrechtlicher Haftung gegenüber dem Verletzten haben die Freigestellten gegenüber der Berufsgenossenschaft für eigene Versäumnisse einzustehen, soweit diese zumindest grob fahrlässig sind (§§ 110 ff. SGB VII). Danach steht der Berufsgenossenschaft als Trägerin der UV ein originärer Anspruch auf Schadensersatz gegen die von privatrechtlicher Haftung freigestellten Unternehmer und Arbeitskollegen zu. Diese Haftung erklärt sich daraus, dass der Unternehmer oder Arbeitskollege die gegenüber der Berufsgenossenschaft bestehende Pflicht zur Vermeidung von Unfällen grob fahrlässig verletzt hat. Diese Überlegung geböte es, den Ersatzanspruch als Sanktionierung für die Verletzung sozialversicherungsrechtlicher Pflichten zu begreifen und demgemäß auch die Sozialgerichte für die zuständigen Gerichte 43 anzusehen. Die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sieht jedoch eine zivilrechtliche Haftung vor; der Ersatzanspruch in der Einstandspflicht ist demgemäß vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen. Der Sozialversicherungsträger kann nach billigem Ermessen auf den Anspruch verzichten, insbesondere wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers dies gebieten (§ 110 Abs. 2 SGB VII). 44 §9 a) Soziale Entschädigung Soziale Entschädigung §§ 5, 24 SGB I setzten das Recht der sozialen Entschädigung voraus. Dieses dient der Abgeltung von Personenschäden, die sich als Sonderopfer für die staatliche Gemeinschaft darstellen. Es umfasst im Wesentlichen Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit und/oder auf angemessene wirtschaftliche Versorgung. Der Begriff „soziale Entschädigung“ ist neu; er entspricht dem, was (mit Ausnahme der „Beamtenversorgung“) früher „Versorgung“ genannt wurde. Die Kriegsopferversorgung reicht bis in das 17. Jahrhundert zurück. Im Übrigen gründet der Gedanke der sozialen Entschädigung im Prinzip der Aufopferung. Dieses war in § 75 EinlALR niedergelegt, wonach „der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohl des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten“ ist. Das derzeit geltende System sozialer Entschädigung beruht auf zwei rechtlichen Institutionen, zum einen der Entschädigung nach versorgungsrechtlichen, zum anderen der Entschädigung nach unfallversicherungsrechtlichen Grundsätzen. Dies erklärt sich daraus, dass dem Gebiet der sozialen Entschädigung nicht nur die Entschädigung für Kriegsopfer, Soldaten, Verbrechensopfer und Impfgeschädigte zuzurechnen ist, sondern auch die „unechte Unfallversicherung“ (vgl. § 10). Dementsprechend gibt es mehrere Gesetze, die Tatbestände und Rechtsfolgen sozialer Entschädigung regeln. Das wichtigste Gesetz ist das Bundesversorgungsgesetz (BVG), das die Kriegsopferversorgung regelt. Die soziale Entschädigung für Verbrechensopfer, die Opfer von Impfschäden sowie die Entschädigung von Wehr- und Zivildienstbeschädigten orientiert sich weitgehend am BVG. Die Entschädigung von Unfallopfern durch die verschiedenen Tatbestände der unechten Unfallversicherung richtet sich dagegen nach den Vorschriften des Unfallversicherungsrechts (§§ 26 ff. SGB VII). Träger der Entschädigung ist jedoch stets ein Träger öffentlicher Gewalt, nämlich Gemeindeunfallversicherungsverbände, das Land oder der Bund. b) Die wichtigsten Entschädigungstatbestände aa) Kriegsopferversorgung Leistungen auf Kriegsopferversorgung erhält gemäß § 1 BVG, wer durch „eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung der militärischen 45 oder des militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat“. Diesen Tatbeständen stehen Ereignisse gleich, die auf unmittelbare Kriegseinwirkung (vgl. § 5 BVG) zurückgehen, in der Kriegsgefangenschaft, einer Internierung außerhalb Deutschlands wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder einer offensichtlich unrechtmäßigen Strafhaft oder sonstigen Zwangsmaßnahme erlitten wurden (vgl. § 1 Abs. 2 BVG). Zwischen den in § 1 BVG genannten Ereignissen und der Schädigung muss Ursächlichkeit bestehen. Ein ursächlicher Sachzusammenhang besteht, wenn die zur Entschädigungspflicht führenden Ereignisse wesentliche Bedingung für die Personenschädigung waren. Für den Nachweis der Ursächlichkeit reicht Wahrscheinlichkeit aus. Bei Ungewissheit über den medizinischen Verlauf einer Krankheit kann auch ohne Nachweis der Ursächlichkeit mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit Entschädigung gewährt werden, wenn der Nachweis mangels gesicherten medizinischen Wissens nicht erbracht werden kann (vgl. § 1 Abs. 3 BVG). Entschädigungsberechtigt ist grundsätzlich nur der unmittelbar Geschädigte. Als unmittelbare Schädigung gilt jedoch auch der Schockschaden. bb) Opferentschädigung Entschädigung für Verbrechensopfer wird gewährt, wenn jemand unmittelbar Opfer eines tätlichen oder gegen die Person gerichteten Angriffs geworden ist (§ 1 OEG). Der Begriff des „tätlichen Angriffs“ ist aus den §§ 113, 121 StGB in das OEG übernommen worden „Tätlicher Angriff“ ist jede unmittelbar gegen Lebensgüter des Opfers gerichtete und die Schädigung des Opfers bezweckende vorsätzliche rechtswidrige Tat; auf das Verschulden kommt es nicht an. Aufgabe 6: Liegt eine Entschädigungspflicht in folgenden Fällen vor? Jemand erleidet durch die Nachricht von der vorsätzlichen rechtswidrigen Tötung des eigenen Kindes einen Schock, der zur dauerhaften Beeinträchtigung der Gesundheit führt (vgl. BSGE 49, 98). Der Eigentümer eines Hauses verlässt aus Furcht vor einem Einbruch auf gefährlichem Weg das Haus; dabei kommt er zu Schaden (vgl. BSGE 56, 234). Bei einem Volksfest wirft ein Mann ein Mädchen in die Höhe, dieses verliert das Gleichgewicht und verletzt sich deshalb (vgl. BSGE 59, 46). Ein Kind wird Opfer eines Sexualdelikts ohne Opferbewusstsein (vgl. BSGE 77, 7). Der Anspruch auf Entschädigung ist nach § 2 OEG ausgeschlossen, falls der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Ob Mitverantwortung des Geschädigten besteht, beurteilt sich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. 46 Aufgabe 7: Liegt Mitverantwortung des Opfers in folgenden Fällen vor? Eine Frau erschießt ihren „Freund“, weil er ihr untreu geworden ist; hat das Opfer die eigene Tötung mitverursacht (vgl. BSGE 49, 104)? Ein Wachmann wird in Ausübung seines Berufes von Räubern angeschossen; hat er seine Schädigung mitverursacht, weil er als Wachmann ein höheres Berufsrisiko trägt (vgl. BSGE 52, 281)? Das Opfer hat eine Schlägerei angezettelt, hierbei wurde es verletzt (vgl. BSGE 50, 95). In den Fällen der Opferentschädigung hat das Opfer regelmäßig einen konkurrierenden deliktischen Anspruch gegen den Täter. Im Verhältnis zu diesem bestimmt § 5 OEG, dass auf den Kostenträger der Opferentschädigung (vgl. § 4 OEG) der deliktische Schadensersatzanspruch gegen den Täter in Höhe der Entschädigungsleistung gemäß § 81 a BVG übergeht. cc) Impfschäden Entschädigung bei Impfschäden (Begriffsbestimmung s. § 2 Nr. 11 IfSG) wird geleistet, wenn die Impfung gesetzlich vorgeschrieben, aufgrund eines Gesetzes angeordnet, von einer zuständigen Behörde empfohlen oder gemäß internationalen Gesundheitsvorschriften ausgeführt worden ist und hieraus eine über die normale Impfreaktion hinausgehende Personenschädigung eingetreten ist (§§ 60 f. IfSG; vormals geregelt in §§ 51 f. BSeuchG). dd) Wehr- und Zivildienstbeschädigung Bei der Wehr- (§ 80 SVG) oder Zivildienstbeschädigung (§ 47 ZDG) wird Entschädigung gleichfalls nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen gewährt (Zivildienst zur Zeit ausgesetzt nach § 1 a ZDG). Die Entschädigungspflicht des Staates besteht, falls i.S.d. Theorie der wesentlichen Bedingung zwischen dem geleisteten Dienst und der erlittenen Schädigung ein innerer Zusammenhang besteht. Im Gegensatz zum Zivildienst unterfällt der Bundesfreiwilligendienst der echten Unfallversicherung (§ 2 Abs. 1a SGB VII). c) Leistungen Besteht Entschädigungspflicht, hat der Beschädigte zwei Gattungen von Leistungsansprüchen: Einmal einen Anspruch auf Heilbehandlung nebst Rehabilitation (§§ 10 ff. BVG); zum anderen einen Anspruch auf Ausgleich seiner wirtschaftlichen Einbußen (§§ 29 ff. BVG sowie Sonderbereich der Kriegsopferfürsorge §§ 25 ff. BVG). 47 aa) Heilbehandlung Der Anspruch auf Heilbehandlung ist darauf gerichtet, die körperliche Integrität des Geschädigten wiederherzustellen. Die geschuldeten Leistungen werden regelmäßig durch die Krankenversicherung erbracht (vgl. §§ 18 c ff. BVG). Der Träger der Krankenversicherung erhält hierfür Erstattung seiner Aufwendungen durch die Versorgungsverwaltung (§§ 19 ff. BVG). Vermag der Geschädigte wegen seiner Erkrankung nicht zu arbeiten oder erleidet er deshalb einen Einkommensausfall, so steht ihm das Versorgungskrankengeld (§ 16 BVG) in Höhe von 80 % des schädigungsbedingt entgangenen Regellohns (§ 16 a BVG) zu. Daneben können den Geschädigten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt werden (§ 26 BVG). bb) Ausgleich der wirtschaftlichen Einbußen Zum Zwecke des Ausgleichs wirtschaftlicher Nachteile bestehen drei Gattungen von Ansprüchen: Die Grundrente, der Berufsschadensausgleich und die Ausgleichsrente. - Die Grundrente hat zwei Funktionen: Ausgleich des immateriellen Schadens und Pauschalabgeltung des schädigungsbedingt gesteigerten Zusatzbedarfs. Sie hängt ab von dem Grade der Erwerbsminderung (vgl. § 30 BVG). Sie beruht auf dem Prinzip der abstrakten Schadensberechnung. - Der Berufsschadensausgleich dient dem Ausgleich desjenigen Schadens, der dem Geschädigten im beruflichen Fortkommen entstanden ist (vgl. § 30 Abs. 3 BVG). - Die Ausgleichsrente wird gezahlt, wenn der Geschädigte schädigungsbedingt nachweisbare Einkommensausfälle hat (konkrete Schadensberechnung). Neben diesen, dem Ausgleich des Fortkommens- und des Erwerbsschadens dienenden Leistungen bestehen außerdem noch zugunsten der nach dem BVG Leistungsberechtigten Ansprüche auf Leistungen der Kriegsopferfürsorge. Sie werden bei Bedürftigkeit erbracht (vgl. §§ 25 ff. BVG). 48 § 10 a) Unechte Unfallversicherung Überblick Die unechte Unfallversicherung ist Erscheinungsform der sozialen Entschädigung. Die Rechtsfolgen beurteilen sich jedoch nach den Vorschriften des Unfallversicherungsrechts. Die unechte Unfallversicherung wird wie jede soziale Entschädigung von der öffentlichen Hand getragen. Ihre Tatbestände sind kasuistisch gefasst. Die unechte Unfallversicherung löst Unfallrisiken aus der ausschließlich privaten Verantwortung, falls diese sich bei Tätigkeiten verwirklichen, die im öffentlichen Interesse liegen. Die wichtigsten Tatbestände der unechten Unfallversicherung sind Unfälle, die - in privater Wohlfahrtspflege Tätige (§ 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII), - Lebensretter, Pannenhelfer, Festnehmende gem. § 127 StPO (§ 2 Abs. 1 Nrn. 11, 12, 13 a, c SGB VII), - Blut- oder Organspender (§ 2 Nr. 13 b SGB VIII), - ehrenamtliche Mitglieder in Selbstverwaltungsgremien öffentlicher Körperschaften (§ 2 Abs. 1 Nr. 10 SGB VII) sowie - die vor Gericht auftretenden Zeugen und Sachverständigen (§ 2 Abs. 1 Nr. 11b SGB VII) oder - Kinder in Kindergärten, Schüler in Schulen und Hochschüler in Hochschulen (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 SGB VII) oder - Personen, die in Eigenarbeit öffentlich geförderten Wohnraum errichten (§ 2 Abs. 1 Nr. 16 SGB VII erleiden. b) Probleme der unechten Unfallversicherung - erläutert an der Unfallversicherung für Schüler Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII wird Unfallversicherungsschutz für Schüler gewährt, wenn und soweit sich der Unfall im organisatorischen Zusammenhang mit der Schule ereignet. Hingegen besteht kein Unfallversicherungsschutz, soweit der Unfall der privaten Sphäre des Schülers zuzuordnen ist. Hier stellen sich schwierige Abgrenzungsprobleme (vgl. Aufgabe 8). Der Unfallversicherungsschutz besteht auch für Schüler von Privatschulen, wenn und soweit die Privatschulen allgemeinbildenden Charakter haben. Kein Unfallversicherungsschutz besteht jedoch für Unfälle, die während der Hausaufgabenbetreuung oder auf dem Wege zwischen Wohnung und der Stätte der Hausaufgabenbetreuung eingetreten sind. 49 Aufgabe 8: Besteht Unfallversicherungsschutz, falls ein Unfall eintritt, wenn - ein Schüler Hausaufgaben in einem Raum erledigt, den die Schule bereitgestellt hat (vgl. BSGE 56, 129), - ein Lehrer von den Schülern verlangt, für den Biologieunterricht Tümpelwasser und Heu zu besorgen (vgl. BSGE 51, 257), - Schüler am Nachmittag auf Geheiß der Lehrerin Schulbücher austauschen (vgl. BSGE 57, 260), - sich ein Schüler entgegen einer ausdrücklichen Weisung der Schulleitung vom Schulgelände entfernt, um Lebensmittel in einem Ladengeschäft einzukaufen (vgl. BSGE 55, 139), - der verletzte Schüler in der Wohnung des Freundes sein Mittagessen einnimmt und Hausaufgaben erledigt und auf dem Weg von dort nach Hause einen Unfall erleidet (vgl. BSGE 52, 38)? c) Sonderproblem: Verhältnis der sozialen Entschädigung von Nothelfern (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 SGB VII) und Ansprüchen aus GoA Wer gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII als Nothelfer unter Unfallversicherungsschutz steht - etwa sich selbst als Kraftfahrer aufopfert, um einen schwereren Schaden abzuwenden (vgl. BSGE 54, 190; 44, 22) - erfüllt durch sein Verhalten zugleich die Voraussetzungen der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA). Kraft GoA hat der Nothelfer gegenüber dem Geretteten einen Anspruch auf Ersatz der erlittenen Eigenschäden (§§ 683, 670 BGB). Soweit der Eigenschaden ein Personenschaden ist, steht dem Nothelfer darüber hinaus ein konkurrierender Anspruch gegen den Träger der unechten Unfallversicherung zu (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII). In welchem Verhältnis stehen beide Ansprüche zueinander? Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder Kumulation der Ansprüche oder cessio legis des privatrechtlichen Anspruchs auf den Träger der sozialen Entschädigung oder Vorrang der sozialrechtlichen Einstandspflicht und Verdrängung des privatrechtlichen Anspruchs. Aufgabe 9: Lesen Sie dazu BGHZ 33, 251; RGZ 167, 85 einerseits und BGHZ 92, 270 andererseits. 50 § 11 Arbeitsförderung Der wichtigste Zweig sozialer Förderung ist die Arbeitsförderung. Sie findet ihre Rechtsgrundlage im Sozialgesetzbuch II und III (SGB II und III). Das Recht der Arbeitsförderung wurde umfassend reformiert. Die gesetzlichen Grundlagen der Reform sind die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die auf Empfehlungen der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (sog. Hartz – Kommission) zurückgehen. Während das Erste und Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits zum 01.01.2003 in Kraft traten, wurden „Hartz III“ und „Hartz IV“ beginnend Anfang 2004 umgesetzt. Im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde die Ausgliederung der Regelungen über die Grundsicherung erwerbsfähiger Arbeitsloser (Arbeitslosengeld II) vorgesehen. Diese Bestimmungen sind nunmehr mit Wirkung zum 01.01.2005 im neu geschaffenen SGB II geregelt. 1. Organisation und Finanzierung Trägerin der Arbeitsförderung war bis zum Jahre 2004 die Bundesanstalt für Arbeit, die sich in regionale Behörden (Arbeitsämter/Landesarbeitsämter) untergliederte. Durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde die Bundesanstalt für Arbeit neu strukturiert und in Bundesagentur für Arbeit (BA) umbenannt (§§ 367 ff. SGB III). Die Arbeitsämter (neu: Agenturen für Arbeit) wurden nun als sog. Job-Center eingerichtet, die Arbeitsvermittlung als Serviceleistung anbieten. Die vormaligen Landesarbeitsämter bilden nun sog. Kompetenz-Center zur Koordinierung von arbeitsmarktpolitischen Initiativen und zur Entwicklung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese Trennung von Verwaltungs- von Vermittlungsaufgaben zielte auf Steigerung der Effizienz der Verwaltung und Vermittlung. Die BA nimmt ihre Aufgaben in Selbstverwaltung wahr (§§ 371 ff. SGB III). Die Tätigkeit der BA wird durch private Arbeitsvermittler sowie gewerbliche Arbeitnehmerüberlasser, Träger von Erstausbildungs-, Umschulungs-, Arbeitsbeschaffungs- und Eingliederungsmaßnahmen ergänzt. Die Leistungen der Arbeitsförderung werden nach § 340 SGB III überwiegend durch Beiträge der versicherungspflichtig Beschäftigten, der Arbeitgeber und Dritter (§§ 341 ff. SGB III), ferner durch Umlagen (§§ 354 ff. SGB III), durch Mittel des Bundes (§§ 363 ff. SGB III) und sonstige Einnah51 men finanziert. Der Bund trägt die Kosten der nach § 368 Abs. 2 SGB III der BA übertragenen Aufgaben (§ 363 Abs. 1 SGB III). Auch die Grundsicherung der erwerbsfähigen Arbeitslosen, das Arbeitslosengeld II, wird zukünftig aus dem Steueraufkommen des Bundes finanziert werden (vgl. § 46 SGB II). 2. Leistungen Aktive Arbeitsförderung: Arbeitsvermittlung, Arbeits-, Bildungs- und Berufsförderung (a.) Entgeltersatz: Geldleistungen bei Voll- wie Teilarbeitslosigkeit (b.) Weitere Aufgaben: Statistik, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Berichterstattung, Arbeitsmarktbeobachtung und -kontrolle (c.) a) Aktive Arbeitsförderung aa) Arbeitsvermittlung (§§ 35 ff. SGB III) und Berufs-/ Arbeitsmarktberatung (§§ 29-34 SGB III) Arbeitsvermittlung „umfasst alle Tätigkeiten, die darauf gerichtet sind, [...] Arbeitsuchende mit Arbeitgebern zur Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses zusammenzuführen“; § 35 Abs. 1 S. 2 SGB III. Durch das Job-AQTIV-Gesetz (seit dem 01.01.2002 in Kraft) wurden u. a. die Regelungen zur Beratung und Vermittlung mit dem Ziel der Steigerung der Effizienz der Vermittlung erweitert. Gem. § 37 Abs. 2,3 SGB III hat die Agentur für Arbeit zusammen mit dem Arbeits- oder Ausbildungssuchenden eine Eingliederungsvereinbarung zu treffen, die die aus dem zuvor erfolgten Profiling (= umfassende Ermittlung des Bewerberprofils) abzuleitende Vermittlungsstrategie festlegt. Zur Unterstützung der Arbeitsvermittlung kann die Agentur für Arbeit auch Dritte beauftragen (§ 45 Abs. 3 SGB III) oder Arbeitslosen einen Vermittlungsgutschein geben, durch den die Arbeitsagentur verpflichtet wird, den Anspruch des privaten Arbeitsvermittlers auf die Vermittlungsvergütung zu erfüllen (§ 45 Abs. 4, 7 SGB III). Gemäß § 45 Abs. 5 SGB III ist die Entscheidung diesbezüglich von der Eignung und den persönlichen Verhältnissen des Förderungsberechtigten abhängig. Mit Geltung ab 01.07.2003 wurde durch das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die Einführung von Personal-Service Agenturen (PSA) bestimmt (§ 37 c SGB III a.F.). Seit dem 1. Januar 2006 entfiel diese Verpflichtung und es steht den Agenturen frei, dieses Instrument zu nutzen oder nicht. Die Aufgaben der PSA sind Arbeitnehmerüberlassung zur Vermittlung von Arbeitslosen sowie Weiterbildung und Qualifizierung ihrer Beschäftigten in verleihfreien Zei52 ten. Jede Arbeitsagentur kann ein Zeitarbeitsunternehmen mit dem Betrieb einer Personal-ServiceAgentur beauftragen. Die Anstellung in der PSA vermittelt Arbeitslosen einen Arbeitsvertrag, die Garantie der fairen Entlohnung sowie Schutz der Sozialversicherung. Außerdem soll die Arbeitsvermittlung schon möglichst frühzeitig einsetzen. Daher sind Erwerbstätige, deren Beschäftigungsverhältnis endet, nun verpflichtet, sich unverzüglich bei der Arbeitsagentur als arbeitsuchend zu melden (§ 37 b SGB III a.F.). Bis 1994 hatte die BA ein Arbeitsvermittlungsmonopol. Grundsätzlich konnte kein Privater gewerbsmäßig die Aufgabe der Arbeitsvermittlung betreiben (§ 4 AFG). Ausnahmen von diesem Vermittlungsmonopol bestanden nur für einzelne Berufe und Personen (§ 23 AFG). Seit dem 01.04.1994 ist in Deutschland private Arbeitsvermittlung grundsätzlich zulässig; bislang bedurfte sie allerdings einer staatlichen Erlaubnis, § 291 SGB III a. F. Seit dem 27.03.2002 ist die gesamte private Arbeits- und Ausbildungsvermittlung nicht mehr erlaubnispflichtig. Es bestehen jedoch weiterhin Schutzvorschriften hinsichtlich der Auslandsvermittlung (§ 292 SGB III), der Anforderungen an Vermittlungsverträge (§§ 296, 297 SGB III) der Vergütung von Ausbildungsvermittlung (§ 296 a SGB III) und der Behandlung von Daten (§ 298 SGB III). Besonders hervorzuheben ist, dass auch von den Arbeitssuchenden eine Vermittlungsvergütung verlangt werden darf. Die BA ist zur Berufs- und Arbeitsmarktberatung verpflichtet, § 29 SGB III. Berufsberatung dient der Berufsfindung sowie der Beratung über Entwicklungsmöglichkeiten in einer gefundenen beruflichen Tätigkeit (§ 30 SGB III). Arbeitsmarktberatung dient der Unterstützung des Arbeitgebers bei der Besetzung offener Stellen (§ 34 SGB III). Für die Arbeitgeber besteht keine Meldepflicht für offene Stellen. Die Arbeitsagentur soll die Beratung der Arbeitgeber zur Gewinnung offener Stellen nutzen und zum selben Zweck von sich aus die Verbindung zu den Arbeitgebern suchen (§ 34 Abs. 2 SGB III). bb) Allgemeine Unterstützungs- und Förderungsleistungen Die BA hat eine „aktive Arbeitsmarktpolitik“ zu gestalten. Diese wird wesentlich durch Bildungsund Berufsförderung sowie durch Arbeitsbeschaffung vorgenommen. Diese Leistungen sollen der Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen dienen. Pflichtleistungen sind dagegen die in § 3 Abs. 3 SGB III ausdrücklich aufgeführten Maßnahmen, alle anderen sind Ermessensleistungen. 53 (1) Leistungen zur Unterstützung der Beratung und Vermittlung (§§ 44, 45 SGB III – Übernahme von Bewerbungs- und Reisekosten) (2) Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit, die Arbeitslosigkeit beendet oder vermeidet, durch die Zahlung eines Gründungszuschusses (§§ 93, 94 SGB III) Dieser ersetzt das bisherige Überbrückungsgeld (§ 57 SGB III a.F.) und den Existenzgründerzuschuss (sog. „Ich- oder Familien AG“, § 421 l SGB III a.F.). Die Förderung richtet sich an Arbeitslose, die eine selbständige Tätigkeit aufnehmen. Diese erhalten einen monatlichen Zuschuss in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes zuzüglich 300 EUR. Die Förderdauer beträgt maximal 15 Monate. (3) Eingliederungszuschüsse (§§ 88 ff. SGB III) Diese Zuschüsse zum Arbeitsentgelt werden an den Arbeitgeber gezahlt. Sie betragen im Regelfall bis zu 50 % des Arbeitsentgelts bei einer Förderdauer von 12 Monaten (§ 89 SGB III). Der Eingliederungszuschuss dient dem Ausgleich von Minderleistungen bei Einstellung eines Arbeitsuchenden. (4) Leistungen an Träger, die Maßnahmen der Arbeitsförderung selbst durchführen oder durch Dritte durchführen lassen (§§ 74 ff. SGB III). cc) Förderung der Berufsausbildung (§§ 51-80 SGB III) und der beruflichen Weiterbildung (§§ 81-87 SGB III) Die Berufsausbildungsbeihilfe dient der Bildungsförderung (§ 56 SGB III). Sie wird an diejenigen gewährt, die noch keine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Die Leistungen der Berufsförderung dienen der Umschulung und Fortbildung (§§ 81 ff. SGB III). Mit dem Ersten Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden Vereinfachungen der Weiterbildungsförderung geschaffen. Seit dem 01.01.2003 können Arbeitnehmer einen Bildungsgutschein erhalten, um frei unter zugelassenen Bildungsmaßnahmen und Trägern wählen zu können (§ 81 Abs. 4 SGB III). dd) Förderung der beruflichen Eingliederung Behinderter (§§ 112-129 SGB III) b) Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit Schließlich erbringt die BA Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit. Es sind Leistungen bei Teilarbeitslosigkeit (§ 162 SGB III) (aa) sowie bei Vollarbeitslosigkeit zu unterscheiden. Bei Vollarbeitslosigkeit kommen im Wesentlichen zwei Leistungsgattungen in Betracht: Arbeitslosengeld (bb) und die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II (cc). 54 aa) Leistungen bei Teilarbeitslosigkeit Die wichtigste Leistung bei Teilarbeitslosigkeit ist das Kurzarbeitergeld (§§ 95-111 SGB III). Für diese Leistungen gilt das Lohnausfallprinzip. Mit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden die Instrumente zur Abfederung von Personalabbauprozessen bei betrieblichen Restrukturierungen (Sozialplanmaßnahmen und Struktur-Kurzarbeitergeld) fortentwickelt und systematisch als Transferleistungen zusammengefasst (§§ 110, 134 SGB III). bb) Arbeitslosengeld Anspruch auf Arbeitslosengeld hat (gem. § 137 SGB III): wer arbeitslos ist (1), die Anwartschaftszeit erfüllt (2) und sich bei der Arbeitsagentur arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hat (3). (1) Arbeitslos ist (gem. § 138 Abs. 1 SGB III): wer als Arbeitnehmer vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäf- tigungslosigkeit) und sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühung), den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung steht der Arbeitslosigkeit nicht entgegen; allerdings wird das Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung auf die Leistungen angerechnet (§ 155 Abs. 1 iVm § 138 Abs. 3 SGB III). Auch eine ehrenamtliche Betätigung schließt Arbeitslosigkeit nicht aus, wenn dadurch die berufliche Eingliederung des Arbeitslosen nicht beeinträchtigt wird, § 138 Abs. 2 SGB III. Im Rahmen der Eigenbemühungen sind alle Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung zu nutzen (§ 138 Abs. 4 SGB III): • die Wahrnehmung der Verpflichtungen aus der Eingliederungsvereinbarung, • die Mitwirkung bei der Vermittlung durch Dritte und • die Inanspruchnahme der Selbstinformationseinrichtungen der Agentur für Arbeit. Verfügbar ist (gem. § 138 Abs. 5 SGB III), wer arbeitsfähig und entsprechend seiner Arbeitsfähigkeit arbeitsbereit ist. Arbeitsbereit und arbeitsfähig ist der Arbeitslose auch dann, wenn er bereit und in der Lage ist, zumutbare Beschäftigungen aufzunehmen und auszuüben (§ 138 Abs. 5 SGB III). Einem Arbeitslosen 55 sind alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe nicht entgegenstehen (§ 140 SGB III). Durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden die Zumutbarkeitsregelungen weiter gefasst. Stellen gelten nunmehr auch dann als zumutbar, wenn sie nicht der Qualifikation des Arbeitssuchenden entsprechen. Insbesondere von Ledigen ohne Kinder kann mehr Mobilität verlangt werden. (2) Die Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt, wer innerhalb einer Rahmenfrist von 2 Jahren zumindest 12 Monate versicherungspflichtig beschäftigt war oder die vom Gesetz für gleichwertig erachteten Tätigkeiten erbracht hat (§§ 142 f. SGB III). (3) Seit dem 01.07.2003 besteht die Verpflichtung der frühzeitigen Meldung zur Arbeitssuche. Arbeitsagentur und Arbeitnehmer sollen bereits die Zeitspanne zwischen Kündigung und Eintritt der Arbeitslosigkeit für die Vermittlung nutzen. Bei verspäteter Meldung wird das Arbeitslosengeld bis zu 30 Tage gesperrt (vgl. § 38 SGB III). (4) Anspruchsdauer (§§ 147 SGB III) und Höhe des Arbeitslosengeldes (§§ 149 ff. SGB III) Die Laufzeit des Anspruchs hängt von der Dauer der vor Eintritt der Vollarbeitslosigkeit zurückgelegten Versicherungszeit oder der dieser gleichgestellten Tatbestände sowie dem Alter ab. Sie beträgt mindestens 6 Monate (vgl. im einzelnen § 147 Abs. 2 SGB III). Das Arbeitslosengeld wird auf der Grundlage des Nettoarbeitsentgelts berechnet (vgl. § 149 SGB III). Deshalb beeinflusst der Lohnsteuersatz und somit die Wahl der Steuerklasse das Bemessungsentgelt und damit die Höhe des Arbeitslosengeldes. Das Arbeitslosengeld beläuft sich auf 60 % des Bemessungsentgelts, falls der Arbeitslose kein Kind unterhalten muss, ansonsten auf 67 % des Bemessungsentgelts (= erhöhter Leistungssatz). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ist auf Zeit ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen für eine Sperrzeitverhängung vorliegen (§ 159 SGB III). Die Sperrzeitenregelungen wurden durch das erste Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geändert. Die Beweislast für die Tatsachen, die Sperrzeiten auslösen können, trägt der Arbeitslose. Arbeitslosengeld ist ferner ausgeschlossen, falls die Arbeitslosigkeit durch Arbeitskampfmaßnahmen hervorgerufen worden ist (§ 160 SGB III). Dies ist besonders problematisch in den Fällen der mittelbaren Kampfbetroffenheit. 56 cc) Grundsicherung für Arbeitssuchende (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld) Durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist die Bündelung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe eingeführt worden. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende (Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld) ist im SGB II geregelt. Anspruchsberechtigt sind alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zwischen 15 und 65 Jahren (§ 7 SGB II). Die Bedürftigkeitsprüfung orientiert sich für Vermögen an der bisherigen Arbeitslosenhilfe, für Einkommen am geltenden Sozialhilferecht. Die Leistungen sollen dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen. Träger der Grundsicherung ist die Bundesagentur für Arbeit, die Finanzierung erfolgt durch den Bund. Erwerbsfähige Hilfebedürftige werden verstärkt bei der Eingliederung in Arbeit unterstützt. Dazu soll die Zuordnung eines persönlichen Fallmanagers bei den örtlichen JobCentern dienen, mit dem eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen wird (vgl. § 15 SGB II). Lehnt ein Langzeitarbeitsloser eine ihm angebotene Stelle ab oder zeigt er keine Bemühungen zum Finden einer Stelle, zieht dies Kürzungen beim Arbeitslosengeld II nach sich. Jugendlichen unter 25 Jahren kann das Arbeitslosengeld II vorübergehend bis auf die Gewährung von Unterkunft und Heizung komplett gestrichen werden (§ 31a Abs. 2 SGB II). dd) Soziale Sicherung Arbeitsloser Wenn ein Arbeitsloser Anspruch auf Arbeitslosengeld I oder II/Sozialgeld hat, so stehen ihm nicht nur Leistungen auf Geldzahlung, sondern darüber hinaus auch Rechte innerhalb der Sozialversicherung zu. So ist der Arbeitslose insbesondere gegen das Risiko der Krankheit, gegen die mit seiner Stellung als Empfänger von Leistungen verbundenen Unfallrisiken sowie in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert (vgl. §§ 5 Abs. 1 Nrn. 2, 2a SGB V, 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII, 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 3a SGB VI). c) Statistik, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Berichterstattung, Arbeitsmarktbeobachtung und -kontrolle Um die BA zur sachgerechten Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu befähigen, hat sie die Pflicht zur Erforschung von Arbeitsmarkt und von Berufsbildern (§ 282 SGB III). Des Weiteren nimmt die BA Aufgaben der Statistik und Berichterstattung wahr (§§ 281, 282a, 283 SGB III). 57 § 12 a) Ausbildungsförderung Ziele und Grundsätze Ausbildungsförderung wird nach dem SGB III oder dem BAföG betrieben. Soweit die Ausbildung der Berufsausbildung dient, gilt das SGB III. Soweit die Ausbildung der Vorbereitung für einen akademischen Beruf dient, gilt das BAföG. Schon in Art. 146 Abs. 3 WRV war bestimmt, dass der Staat zugunsten des Schul- und Hochschulbesuches der Kinder aus einkommensschwachen Familien Förderungsmöglichkeiten schaffen solle, um einen Beitrag zur Chancengleichheit zwischen den sozialen Schichten zu leisten und einkommensbedingte Bildungsbarrieren zu überwinden. Erste Ansätze zur Verwirklichung dieses Zieles wurden 1957 durch die Einrichtung der Studienförderung nach dem Honnefer-Modell ergriffen. 1971 ist das BAföG verabschiedet worden, nachdem 1969 Art. 74 Nr. 13 GG dem Bund die Gesetzgebungskompetenz gab. Grundelemente der BAföG-Sicherung sind: es besteht ein Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung, Ausbildungsförderung wird nur bei Bedürftigkeit des Auszubildenden gewährt, die Leistung besteht aus einer Mischung von Darlehen und Zuschuss und der Empfänger ist gehalten, ausbildungsadäquate Leistungsnachweise zu erbringen. b) Einzelregelungen Das BAföG ist gegenüber anderen Formen der Ausbildungsunterstützung nachrangig (§ 1 BAföG). Insbesondere tritt es hinter den Anspruch auf Ausbildungsunterhalt (§§ 1601, 1610 Abs. 2 BGB) zurück. Danach ist der Auszubildende grundsätzlich auf den Unterhaltsanspruch gegen seine Eltern verwiesen. Nur wenn diese ein Einkommen beziehen, welches unter einem gesetzlich festgelegten Grenzwert liegt und deshalb die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit der Eltern zur Finanzierung eines Studiums für die Kinder nicht gegeben ist, besteht ein Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung. Die Leistungen sind so bemessen, dass die unterhaltsrechtliche Bedürftigkeit des Empfängers während der Dauer der Ausbildung beseitigt wird. Gesetzlich festgelegt sind die Bedarfssätze (§§ 12 ff. BAföG) und die Einkommensgrenzen (§§ 21 ff. BAföG). Eine familienunabhängige Förderung besteht nur ausnahmsweise (§ 11 Abs. 3 BAföG). Auszubildende, die gegen ihre Eltern einen Anspruch auf Unterhaltsleistung haben, können jedoch statt des Unterhalts Leistungen nach dem BAföG beanspruchen, wenn ihre Eltern den Unterhalt nicht zahlen (vgl. §§ 36 f. BAföG). In diesem Fall geht der Unterhaltsanspruch auf den Träger der Ausbildungsförderung über, den dieser dann im Regressweg geltend machen kann (§ 37 BAföG). 58 Neben der fehlenden Leistungsfähigkeit der Eltern sind weitere Voraussetzungen für die Entstehung eines Anspruchs nötig: Der Antragsteller darf grundsätzlich das 30. Lebensjahr nicht überschritten haben (§ 10 BAföG, Ausnahmsweise 35 bei postgradualen Studiengängen nach § 7 Abs. 1a BAföG) und muss als geeignet gelten (§ 9 BAföG). Die Eignung ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn der Auszubildende die den jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen entsprechenden Studienfortschritte erkennen lässt. Hierfür ist es erforderlich, dass der Auszubildende die in § 48 BAföG genannten Nachweise erbringt. Schließlich muss er Deutscher oder ihm gleichgestellter EU/EWR-Bürger oder Asylberechtigter sein (§ 8 BAföG). Die Leistungen werden grundsätzlich zur Hälfte als Zuschuss (§ 17 Abs. 1 BAföG), zur anderen Hälfte als Darlehen gewährt. (§ 17 Abs. 2 BAföG). Das Darlehen ist nicht zu verzinsen. Die Rückzahlung beginnt gem. § 18 Abs. 3 S. 3 BAföG erst fünf Jahre nach dem Ende der Förderungshöchstdauer. Möglich ist eine Freistellung von der Verpflichtung zur Rückzahlung, soweit das Einkommen des ehemaligen Förderungsempfängers die in § 18a BAföG aufgeführten Grenzen nicht übersteigt. Ein Teilerlass des Darlehens wird gewährt, wenn der Auszubildende die Abschlussprüfung bis zum 31.12.2012 bestanden hat und zu den besten 30 % aller Prüfungsabsolventen desselben Kalenderjahres gehört, § 18b Abs. 2 BAföG. Wenn der Auszubildende seine Ausbildung 4 Monate bzw. 2 Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer erfolgreich beendet, so werden ihm pauschal 2560 € bzw. 1025 € erlassen, § 18b Abs. 3 BAföG (vgl. aber für den Fall, dass in dem betreffenden Studiengang die gesetzlich festgelegte Mindeststudienzeit weniger als vier Monate vor dem Ende der Förderungshöchstdauer endet: BVerfG v. 21.06.2011 – 1 BvR 2035/07 = SGb 2011, 513). 59 § 13 Familienleistungen In § 6 SGB I ist der Familienleistungsausgleich als eigener sozialrechtlicher Leistungszweig angesprochen. Systematisch betrachtet ist das Recht des Familienleistungsausgleichs Teil des Rechts der sozialen Förderung. Denn er schafft Entfaltungschancen für Familien ganz ebenso wie die Arbeitsund Bildungsförderung Entfaltungschancen für Arbeitslose oder angehende Erwerbstätige schafft. a) Steuerrechtlicher und sozialrechtlicher Familienleistungsausgleich Nach verbreiteter Meinung beruht der Familienleistungsausgleich auf zwei Institutionen, dem Steuerrecht und dem Sozialrecht. Das Steuerrecht berücksichtigt den Umstand, dass ein Steuerpflichtiger Kinder zu unterhalten hat, bei der Bestimmung des zu versteuernden Einkommens. Jeder Steuerpflichtige, der ein Kind unterhält, kann Kinderfreibeträge geltend machen. Sie mindern seine Steuerschuld und ermäßigen damit seine Steuer. Da der Steuersatz in der Einkommensteuer progressiv gestaltet ist - d.h. mit steigendem Einkommen steigt auch der Steuersatz an - entlastet der Kinderfreibetrag den Steuerpflichtigen umso mehr, je höher sein Einkommen ist. Das Sozialrecht sieht dagegen vor, dass grundsätzlich für jedes Kind der Familienaufwand durch Leistungen aus öffentlichen Mitteln in gleicher Höhe gemindert werden soll. Der Umfang der öffentlichen Unterstützung hängt nur von der Kinderzahl, nicht vom Einkommen der Familie ab. Aus diesen gegenläufigen Prinzipien wird gefolgert, es bestehe ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen dem „steuerrechtlichen“ und dem sozialrechtlichen Familienleistungsausgleich. Der sozialrechtliche Familienleistungsausgleich sei egalitär, der „steuerrechtliche“ begünstige dagegen die Reichen und benachteilige die Armen. Aufgabe 10: Diskutieren Sie diese Ansicht. b) Ausgestaltung des Kindergeldes Das Kindergeldrecht findet seit dem 1. Januar 1996 in den §§ 31 f., 62 - 78 EStG seine rechtliche Grundlage. Das BKGG ist nur noch sehr eingeschränkt für Personen anwendbar, die in Deutschland nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind. 60 Das Kindergeldrecht beruht auf den Grundsätzen des Universalitäts-, Wohnsitz-, Unterhalts-, Familien- und Einmaligkeitsprinzips: Nach dem Universalitätsprinzip ist jeder Mensch, der die Elternstellung innehat, leistungsberechtigt, unabhängig von der ausgeübten Erwerbstätigkeit und der Höhe seines Einkommens. Das Wohnsitzprinzip steckt den internationalen Geltungsbereich des deutschen Kindergeldrechts ab: Kindergeld wird i.d.R. nur gezahlt, sofern der Unterhaltleistende und das unterhaltbeziehende Kind ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben. Aus dem Unterhaltsprinzip ergibt sich, dass leistungsberechtigt derjenige sein soll, der tatsächlich das Kind unterhält. Damit können auch Stief- und Großeltern Kindergeld erhalten, wenn und soweit sich die leiblichen Eltern nicht um das Kind kümmern. Die Höhe des Kindergelds hängt von der Familiengröße ab (Familienprinzip). Es steigt absolut wie auch relativ bei größerer Kinderzahl. Das Kindergeld ist der Familie als ganzes und nicht dem jeweiligen Kind zugeordnet. Für ein Kind wird nur einmal Kindergeld oder eine ähnliche Leistung erbracht (Einmaligkeitsprinzip). Kindergeld wird bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes uneingeschränkt geleistet. Darüber hinaus wird es bis zu Vollendung des 25. Lebensjahres gezahlt, wenn sich das Kind in weiterführender Ausbildung befindet, oder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, wenn es ohne Arbeitsplatz oder ohne Ausbildung ist. Seit dem Jahr 2012 wird für jeden Monat Kindergeld nach folgenden Sätzen gezahlt: für das 1. und 2. Kind auf jeweils 184 € für das 3. Kind auf 190 € für jedes weitere Kind auf jeweils 215 €. Kindergeld und Kinderfreibetrag/Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf stehen im Verhältnis der Alternativität. Zunächst wird monatlich das Kindergeld als Steuervergütung gezahlt. Nach Ablauf des Kalenderjahres wird im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung von Amts wegen geprüft, ob die Zahlung des Kindergeldes oder die Gewährung der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG für den Steuerpflichtigen günstiger ist (sog. Günstigerprüfung). Ist der Steuervorteil durch die Gewährung des Kindergeldes größer, dann behält der Steuerpflichtige 61 das Kindergeld und die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG werden nicht gewährt. Ist die Gewährung der Freibeträge für den Steuerpflichtigen günstiger, werden diese abgezogen und das gezahlte Kindergeld durch Hinzurechnung zur festzusetzenden Einkommensteuer angerechnet, § 31 EStG. c) Elterngeld Das Elterngeld ersetzt seit dem 01.01.2007 das bisherige Erziehungsgeld. Das Elterngeld bietet einen Lohnersatz und soll die Erziehung des Kindes in der ersten Lebensphase erleichtern. Es ist im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) geregelt. Es soll den Einkommensverlust ausgleichen, welcher dem Elternteil durch die Inanspruchnahme der Elternzeit entsteht. Die Höhe der Leistung entspricht dem Arbeitslosengeld (§ 2 BEEG). Der Mindestbetrag beträgt 300 EUR monatlich, der Höchstbetrag 1.800 EUR monatlich. Die Bezugsdauer beträgt 12 Monate ab der Geburt des Kindes; sie erhöht sich auf maximal 14 Monate, falls die Leistung für zwei Monate auch von dem anderen Elternteil in Anspruch genommen wird (§ 4 BEEG). Möglich ist auch eine Halbierung des Zahlbetrages bei Verdoppelung der Bezugsdauer. Einkommen des Elterngeldempfängers wird bis auf monatlich 300 EUR angerechnet; ebenso das Mutterschaftsgeld. Das Elterngeld steht im Zusammenhang mit den Regelungen über die Elternzeit. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihr leibliches oder in Adoptivpflege genommenes Kind selbst betreuen und erziehen, haben einen Anspruch auf Elternzeit grundsätzlich bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes. Die Elternzeit kann von jedem Elternteil allein oder von beiden gemeinsam genommen werden; Erwerbstätigkeit, die je Elternteil 30 Stunden wöchentliche Arbeitszeit nicht übersteigt, ist zulässig, § 15 Abs. 3, 4 BEEG. Während der Elternzeit besteht ein Anspruch auf Teilzeitarbeit unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 6, 7 BEEG und Kündigungsschutz, § 18 BEEG. d) Betreuungsgeld Ab dem 15. Lebensmonat besteht für die Eltern die Möglichkeit, Betreuungsgeld in Anspruch zu nehmen, §§ 4a ff. BEEG. Dieses betrug zunächst 100 Euro im Monat, seit 1. August 2014 150 Euro. Das Betreuungsgeld kann bis zu 22 Monate je Kind bezogen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Eltern auf die Inanspruchnahme einer öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtung (auf die seit 1. August 2013 ein Rechtsanspruch besteht, § 24 Abs. 2 SGB VIII) verzichten. 62 e) Unterhaltsvorschuss Eine weitere Familienleistung ist der Unterhaltsvorschuss. Geregelt ist er im Unterhaltsvorschussgesetz (UnterhVG). Er wird den Kindern von Alleinerziehenden dann gewährt, wenn der Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt oder wenn dieser Elternteil verstorben ist, § 1 UnterhVG. Der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Unterhaltsverpflichteten geht kraft Gesetzes auf den zuständigen Sozialleistungsträger über, § 7 UnterhVG. 63 § 14 Wohngeld § 7 SGB I bestimmt: „Wer für eine angemessene Wohnung Aufwendungen erbringen muss, die ihm nicht zugemutet werden können, hat ein Recht auf Zuschuss zur Miete oder zu vergleichbaren Aufwendungen.“ § 26 SGB I ergänzt diese Regelung dahingehend, dass Wohngeld „als Zuschuss zur Miete oder als Zuschuss zu den Aufwendungen für den eigengenutzten Wohnraum in Anspruch genommen werden kann“. Damit regelt das SGB nur einen Teilausschnitt der staatlichen Wohnungspolitik. Diese sucht die angemessene Versorgung der gesamten Bevölkerung mit Wohnraum zu sichern. Zur Erreichung dieses Zieles gibt es die folgenden Regelungsbereiche: die staatliche Regelung der Wohnraumversorgung durch Ausgestaltung des Miet- und Wohnungsrechts (a), die Objektförderung (sozialer Wohnungsbau) (b) und die Subjektförderung (Wohngeld) (c). a) Beeinflussung der Wohnraumversorgung durch das Mietrecht Die wichtigsten Elemente sind der soziale Kündigungsschutz (§§ 573 f. BGB), die Vorschriften über die Gestaltung der Miethöhe (§§ 557 ff. BGB; geregelt bis zum 31.08.2001 im Miethöhegesetz) und der Räumungsschutz (§§ 721, 765 a ZPO). b) Objektförderung Objektförderung (= sozialer Wohnungsbau) bedeutet die öffentliche Erstellung und Vergabe von Wohnraum sowie die öffentliche Förderung privaten Wohnungsbaus durch Vergabe von Zuschüssen, zinsgünstigen Darlehen oder Steuervorteilen. Die Objektförderung sowie die Vergabe von Zuschüssen und Darlehen sind im Wohnraumförderungsgesetz (Sartorius I, Nr. 355) nebst Begleitgesetzgebung geregelt. 64 c) Subjektförderung Die Subjektförderung (= Wohngeld) bezweckt, einkommensschwachen Bevölkerungsschichten den Erwerb einer Wohnung zu Marktbedingungen zu ermöglichen, die aus eigener Kraft hierzu nicht imstande wären. Das Wohngeld ist ein Zuschuss, keine rückzahlbare Leistung. Anspruchsberechtigt ist jeder, der eine Wohnung nutzt, unabhängig davon, ob er Mieter oder Eigentümer ist, § 3 WoGG. Ist er Mieter, wird das Wohngeld als Mietzuschuss, ist er Eigentümer, wird es als Lastenzuschuss gewährt. Voraussetzung ist die eigene Nutzung der Wohnung. Wird die Wohnung durch mehrere Personen genutzt, ist der „Haushaltsvorstand“ antragsberechtigt (§ 3 Abs. 3 WoGG). Keinen Anspruch auf Wohngeld hat, wer aufgrund anderer öffentlich-rechtlicher Regelungen eine Mietbeihilfe erhält (z.B. der durch BAföG geförderte Student gem. § 13 Abs. 2 BAföG, oder der Wehrdienstleistende gem. § 7 a USG). Die Höhe des Wohngelds hängt gemäß § 4 WoGG von der Familiengröße (§§ 5 bis 8 WoGG), von der zu berücksichtigenden Miete (§§ 9 bis 12 WoGG) und dem Gesamteinkommen (§§ 13 bis 18 WoGG) ab. Je größer die Familie und je höher die Belastung durch die zu zahlende Miete, desto höher ist das zu zahlende Wohngeld. Denn Wohngeld soll nur die Beschaffung „angemessenen Wohnraums“ (§ 7 SGB I) ermöglichen. Die Leistungshöhe hängt vom Einkommen des Empfängers ab (vgl. zur Einkommensermittlung §§ 13 bis 18 WoGG). Die Höhe des Wohngelds für die einzelne Familie ist in den Anlagen des WoGG spezifiziert. Bei der Einkommensermittlung darf die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht besser gestellt werden als die Ehe. Gemäß § 24 Abs. 1 WoGG bestimmt das Landesrecht die zuständigen Stellen, die Wohngeld bewilligen. Es sind in der Regel die kreisfreien Städte oder Landkreise. Die Leistungen nach dem WoGG werden zur Hälfte vom Bund getragen (§ 32 WoGG). Gegen ablehnende Entscheidungen ist nach Widerspruch die Klage beim VG statthaft. 65 § 15 a) Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen Grundlagen Seit dem 1. Juli 2001 ist das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in einem einzigen Gesetz, dem SGB IX, zusammenhängend normiert. Leitmotive dieses Gesetzes sind Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, vgl. § 10 SGB I, § 1 SGB IX. Der 1. Teil des SGB IX enthält (allgemeine) Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen. Im 2. Teil ist das Schwerbehindertenrecht (Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen) normiert. Das SGB IX enthält eine neue Definition von Behinderung. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit [...] von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Es gelten die Grundsätze des Vorrangs der Prävention von Behinderung einschließlich chronischer Krankheit, § 3 SGB IX und des Vorrangs von Leistungen zur Teilhabe vor Rentenleistungen, § 8 SGB IX. Neu eingeführt wurde ein Verbandsklagerecht. Verbände, die nach ihrer Satzung behinderte Menschen auf Bundes- oder Landesebene vertreten, haben gem. § 63 SGB IX ein Klagerecht, wenn behinderte Menschen in ihren Rechten aus dem SGB IX verletzt wurden und diese mit der Klage jener einverstanden sind. In § 9 SGB IX ist normiert, dass die Leistungsberechtigten bei der Entscheidung über Teilhabeleistungen Mitspracherechte besitzen (sog. Wunsch- und Wahlrechte). 66 b) Beratung und Organisation der Leistungserbringung aa) Gemeinsame Servicestellen Die Rehabilitationsträger haben die Errichtung gemeinsamer örtlicher Servicestellen sicherzustellen. Diese haben behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen bzw. ihren Vertrauenspersonen/ Personensorgeberechtigten Beratung und Unterstützung anzubieten. Die einzelnen Leistungen sind in § 22 SGB IX aufgeführt. bb) Zuständigkeitsklärung Um zu vermeiden, dass Unklarheiten über die Zuständigkeit eines Leistungsträgers zu Lasten des Leistungsberechtigten gehen, besteht ein Verfahren zur Zuständigkeitserklärung mit rigiden Fristen, Einzelheiten siehe § 14 SGB IX. Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Berechtigte sich die Leistung nach erfolglosem Verstreichen der Fristen des § 14 SGB IX selbst beschaffen und erwirbt einen Kostenerstattungsanspruch gegen den Träger, § 15 SGB IX. 67 c) Leistungen Die Leistungen zur Teilhabe sind in 4 Gruppen unterteilt: aa) Leistungen zur medizinische Rehabilitation (§§ 26 ff. SGB IX), bb) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33 ff. SGB IX), cc) Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (§§ 44 ff. SGB IX) und dd) Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 55 ff. SGB IX). d) Schwerbehindertenrecht. Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen sind in den §§ 68 ff. SGB IX (früher: Schwerbehindertengesetz) normiert. Schwerbehindert im Sinne des SGB IX sind Menschen, deren Grad der Behinderung (GdB) wenigstens 50 beträgt und die ihren Wohnsitz/ gewöhnlichen Aufenthalt oder ihren Arbeitsplatz in Deutschland haben, § 2 Abs. 2 SGB IX. Die Arbeitgeber haben ab einer bestimmten Betriebsgröße die Pflicht, Schwerbehinderte zu beschäftigen (§§ 71 ff. SGB IX). Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, schulden sie eine Ausgleichsabgabe (§§ 77 SGB IX), aus deren Ertrag Beschäftigungsmöglichkeiten für Schwerbehinderte finanziert werden. Schwerbehinderte genießen Kündigungsschutz (§§ 85 ff. SGB IX). Sie haben ein Recht auf eine eigene betriebsverfassungsrechtliche Vertretung (§§ 93 ff. SGB IX) und einen Sonderstatus bei der Arbeitsvermittlung (§§ 81 ff. SGB IX). Soweit die besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben nicht freiwillig von den Arbeitgebern erfüllt werden, werden sie vom Integrationsamt und der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt (§ 101 SGB IX). Integrationsprojekte (§§ 132 ff. SGB IX) und Werkstätten für Behinderte (§§ 136 ff. SGB IX) sind zu fördern. Schwerbehinderte haben einen Anspruch auf unentgeltliche Beförderung durch den öffentlichen Personenverkehr (§§ 145 ff. SGB IX). arbeitslose Schwerbehinderte Arbeitslosenquote in % 2006 197.000 17,7 2007 178.310 15,8 Quelle: Bundesagentur für Arbeit – Arbeitsmarkt 2012 68 2008 165.990 14,7 2009 168.096 14,6 2010 175.356 14,8 2011 180.307 14,8 2012 176.040 14,1 § 16 Sozialhilfe Mit Geltung ab 01.01.2005 ist die Sozialhilfe im SGB XII geregelt. 2003 beschloss der Gesetzgeber im Zuge der Reformen der Arbeitsförderung die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Arbeitsfähige Bedürftige werden künftig nur noch von den Regelungen der Arbeitsförderung (bedürftigkeitsabhängiges Arbeitslosengeld II geregelt in SGB II) erfasst. Das in SGB XII geregelte Sozialhilferecht zielt auf nichtarbeitsfähige Bedürftige (Sozialgeld). § 9 SGB I bestimmt die Aufgabe der Sozialhilfe: „Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert“. Diese Bestimmung wird in § 28 SGB I spezifiziert. Hieraus folgt, dass die Sozialhilfe grundsätzlich zwei Leistungsgattungen kennt: Die Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 8 Nr. 1 SGB XII) und die Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen (vgl. § 8 Nrn. 2-7 SGB XII). Sozialhilfe ist ein umfassendes Netz unter dem sozialen Netz. Sie trägt, wenn die anderen Netze nicht oder nicht mehr tragen (subsidiäres Basissystem). Diese Aufgabenbestimmung prägt die Grundsätze des Sozialhilferechts (a), seine Organisation (b), Leistungen (c) und Finanzierung (d). a) Grundsätze Die Sozialhilfe ist im SGB XII geregelt. Das Gesetz stützt sich auf die Kompetenznorm des Art. 74 Nr. 7 GG. Die tragenden Grundsätze der Sozialhilfe sind in den §§ 1 – 7, 9, 16 ff. SGB XII formuliert. - Ziel der Hilfegewährung ist die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens (§ 1 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Dieser Grundsatz bedeutet mehr als die Sicherung des Existenzminimums, nämlich Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft, schließt es aber andererseits aus, als Maßstab allein auf die herrschenden Lebensgewohnheiten der Bevölkerung zurückzugreifen (vgl. BVerwGE 80, 349). - Die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft gehört zur Zielsetzung des SGB XII (vgl. §§ 53 Abs. 3; 54 Abs. 1 SGB XII S. 1 i. V. m. § 55 SGB IX; 67, 71 Abs. S. 2 SGB XII). - Die Sozialhilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe (§ 1 S. 2 SGB XII). 69 - Die Sozialhilfe ist nachrangig (§ 2 SGB XII). Dieser Nachrang äußert sich in drei Hinsichten: gegenüber dem Empfänger selbst, sodann gegenüber leistungspflichtigen Privaten sowie schließlich gegenüber anderen Sozialleistungsträgern. - Die Hilfe hat sich nach den Umständen des Einzelfalles zu richten (Individualisierung; § 9 SGB XII). Daraus folgt, dass die Sozialhilfe nicht standardisiert werden kann. Es gilt vielmehr das Bedarfsdeckungsprinzip: die Hilfe hat sich den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen weitestgehend anzupassen. Die Hilfe ist mit den Wünschen des Empfängers abzustimmen, soweit sie angemessen sind (§ 9 Abs. 2 SGB XII). - Es besteht ein Rechtsanspruch auf Sozialhilfe, soweit das Gesetz einzelne Tatbestände als Pflichtleistungen ausgestaltet (§ 17 SGB XII) (vgl. grundlegend BVerwGE 1, 159 Anspruch auf Sozialhilfe - Gebot aus der Menschenwürde). Über Form und Maß der Hilfe entscheidet grundsätzlich der Sozialhilfeträger nach eigenem Ermessen (§ 17 Abs. 2 SGB XII). Es gilt das Legalitätsprinzip. - Das Eintreten der Träger der Sozialhilfe ist nicht von einem Antrag abhängig (§ 18 SGB XII). b) Es gilt das Gebot der Familiengerechtigkeit der Hilfe (§ 16 SGB XI). Organisation Die Sozialhilfe wird von örtlichen und überörtlichen Trägern erbracht (§ 3 SGB XII). Örtliche Träger sind die kreisfreien Städte und die Landkreise (§ 3 Abs. 2 S. 1 SGB XII). Wer überörtlicher Träger ist, bestimmt das Landesrecht (§ 3 Abs. 3 SGB XII: vgl. § 2 ThürAG SGB XII). Über die Aufgabenverteilung entscheiden die §§ 97 ff. SGB XII. Danach sind grundsätzlich die örtlichen Träger zuständig (§ 97 SGB XII), es sei denn, einzelne Materien (vgl. § 97 Abs. 3 SGB XII) wurden dem überörtlichen Träger übertragen. Die Aufgabe der Sozialhilfe wird oftmals durch die Arbeit freier Träger ergänzt. § 5 SGB XII regelt das Verhältnis von Sozialhilfeträgern und freien Trägern. Es gelten die Prinzipien der Zusammenarbeit und der Subsidiarität (§ 5 Abs. 2, 4 SGB XII). Zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Agenturen für Arbeit und Trägern der Sozialhilfe soll eine Zusammenarbeit dieser Träger stattfinden, § 4 Abs. 1 SGB XII. c) Leistungen Sozialhilfeleistungen sind zu erbringen, falls ein Sozialhilfeträger von einer Notlage erfährt (§ 18 SGB XII). Bei Bekanntwerden der Notlage hat der Sozialhilfeträger die Beeinträchtigung als Gesamtfall zu erfassen (= alle vom Gesetz vorgesehenen Leistungen zu erbringen). Die Leistungsge70 währung geschieht durch Verwaltungsakt; bei Rechtsstreitigkeiten über die Gewährung der Sozialhilfe ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet, § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG. Es sind zwei Gattungen von Leistungen zu unterscheiden: Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt sichert die Lebensführung, die Hilfe in besonderen Lebenslagen hat Sicherungen für besondere Bedarfslagen zu gewährleisten. Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt ist ein voller Einsatz von Einkommen und Vermögen vorzunehmen, bei der Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen sind Einkommen und Vermögen in abgeschwächter Form heranzuziehen. Leistungen sind sowohl Geld- als auch Sachleistungen. aa) § 19 SGB XII gibt einen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt für den Bedürfti- gen. Der Anspruchs ist auf die Deckung des notwendigen Lebensunterhalts gerichtet (§ 27 SGB XII). Es ist zu unterscheiden, ob die Hilfe laufend oder einmalig sowie innerhalb oder außerhalb von Einrichtungen gewährt wird (§§ 28, 31, 35 SGB XII). Bei laufender Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen ist zu unterscheiden zwischen Regel-, Mehr- und Zusatzbedarf. Regelbedarf ist der Bedarf zur Deckung des üblichen Lebensbedarfes (§ 28 SGB XII). Der Regelbedarf wird durch die Regelsätze bestimmt (§ 28 Abs. 1 S. 1, Abs. 2-5 SGB XII). Sie werden auf der Grundlage einer vom Bund erlassenen Rechtsverordnung von den Ländern festgesetzt. Bei der Festsetzung sind die tatsächlichen Lebensgewohnheiten und örtliche Unterschiede zu berücksichtigen. Für die Festsetzung des Regelsatzes gilt das Lohnabstandsprinzip (= Sozialhilfe darf nicht höher sein als der geringste Lohn). Mehrbedarf resultiert aus besonderen Lebensumständen (§ 30 SGB XII) - z.B. Alter, Erwerbsunfähigkeit, Schwangerschaft, Erziehung. Zusatzbedarf stellt erhöhte Aufwendungen für einzelne Formen der Lebensbedarfsdeckung dar (§ 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII; Musterbeispiel: höhere Wohnungsmiete). Einmalige Leistungen (Beihilfen) werden vor allem zur Befriedigung des Bedarfs an Hausrat oder Kleidung gewährt. bb) Die Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen soll einen besonderen, außerhalb des allgemeinen Lebensunterhalts liegenden Bedarf erfassen (§§ 41 ff. SGB XII). Daneben sieht die Generalklausel des § 73 SGB XII vor, dass auch in atypischen Fällen Hilfe in besonderen Lebenslagen gewährt werden kann. Die wichtigsten Fallgruppen sind die Hilfen zur Gesundheit (§§ 47 ff. SGB XII), die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 ff. SGB XII) und die Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII). Weitere Tatbestände sind die Blindenhilfe (§ 72 SGB XII), Hilfe zur Führung des Haushalts (§ 70 SGB XII), Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 f. SGB XII) sowie Hilfen für alte Menschen (§ 71 SGB XII). 71 d) aa) Finanzierung Sozialhilfe ist grundsätzlich kostenfrei. Kostenersatz wird jedoch in Ausnahmefällen gefor- dert (vgl. §§ 102 ff. SGB XII). bb) Der überwiegende Teil der Sozialhilfe wird von den örtlichen Trägern finanziert. Sie bezie- hen ihre Gesamteinnahmen aus dem kommunalen Finanzausgleich, dem Gemeindeanteil an der Einkommensteuer, den Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer), Gebühren und Beiträgen. Ein geringer Anteil, aus dem im Wesentlichen die Aufwendungen für die Ausgaben der überörtlichen Träger finanziert werden, wird von den Ländern getragen. Der Bund trägt die Sozialhilfe für Deutsche im Ausland und für die Sozialversicherungsbeiträge der in Behindertenwerkstätten Untergebrachten. Quelle: www.destatis.de cc) Der Hilfeempfänger ist grundsätzlich gehalten, eigenes Einkommen, Vermögen und Ar- beitskraft einzusetzen. Maßgeblich für die Bedürftigkeit sind Einkommen und Vermögen des Antragstellers und dessen Familie bzw. gleichgestellter Personen, wie der Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft (Bedarfsgemeinschaft). § 20 SGB XII erweitert die Anrechnungspflicht von Einkommen und Vermögen bei Partnern auch aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Die Vorschrift verbürgt die Gleichbehandlung mit Ehegatten. Zur Einkommensberücksichtigung vgl. §§ 82 ff. SGB XII, zur Berücksichtigung von Vermögen vgl. §§ 90 f. SGB XII. Einkommen ist unbegrenzt einzusetzen mit Ausnahme eines geringen Restes. Vermögen ist ebenfalls grundsätzlich ein72 zusetzen. Ausnahmen gelten für das Schonvermögen. Bei der Bestimmung der Bedürftigkeit sind auch Unterhaltsansprüche zu berücksichtigen. Hat der Sozialhilfeträger eine Leistung erbracht und damit einen Bedarf gedeckt, für den ein anderer Zahlungspflichtiger aufzukommen hätte, folgt aus dem Prinzip der Subsidiarität der Sozialhilfe, dass der vorleistende Sozialhilfeträger bei dem Leistungspflichtigen Rückgriff nehmen kann (vgl. differenzierend nach der Person des Leistungspflichtigen §§ 93 ff. SGB XII bzw. § 104 SGB X, §§ 115 f. SGB X). Quelle: www.destatis.de 73 § 17 a) Jugendhilfe Überblick Jugendhilfe ist der Inbegriff aller Maßnahmen, die ergriffen werden, um die Entwicklung von Jugendlichen zu fördern. Diese sind seit dem 1.1.1991 im KJHG (= SGB VIII) geregelt. Dieses Gesetz hat das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) sowie das JWG (1961) ersetzt. Durch Jugendhilfe soll die Erziehung eines Kindes im Elternhaus gefördert werden, oder es sollen Gemeinde- oder private Wohlfahrtseinrichtungen bei Gefährdung des Kindes im Elternhaus für eine angemessene Erziehung in einer anderen Familie oder in einem Heim sorgen. Wesentliche Regelungsbereiche sind die Jugendarbeit, Kinder- und Jugendschutz, Beratung in Trennungs- und Scheidungsangelegenheiten, Kindertageseinrichtungen und Hilfen zur Erziehung. Stark sozialpädagogisch orientierte Hilfsangebote stehen neben ordnungsrechtlichen Aufgaben. Die verfassungsrechtliche Grundlage findet Jugendhilfe im staatlichen Wächteramt über Familien (Art. 6 Abs. 2 GG), das Jugendhilfe erfüllt und ausfüllt. Elterliches Erziehungsrecht und staatliches Wächteramt sind einander nicht kontradiktorisch entgegengesetzt, sondern konvergieren in der Zielsetzung, sind füreinander je wechselseitig Voraussetzung: Ohne Jugendhilfe bestünde für manches Kind die Gefahr der Verwahrlosung, ohne dass ihm geholfen würde; ohne Elternrecht wäre die staatliche Gemeinschaft selbst und unmittelbar zur Pflege und Erziehung der Kinder aufgerufen - dies widerspräche dem staatlichen Wächteramt. Statt Eingriff und Sanktion für Verstöße gegen die elterliche Erziehungspflicht werden die Maßnahmen der Jugendhilfe als Angebote zur Förderung des Kindes oder Jugendlichen gesehen. Das KJHG beschreibt Handlungsmöglichkeiten für öffentliche und freie Träger der Jugendhilfe. Statt Geldleistungen regelt das KJHG im Wesentlichen sozialrechtliche Dienstleistungen. b) Adressaten Adressat der Leistungen der Jugendhilfe sind Kinder, Jugendliche und junge Menschen (Personen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres – vgl. § 7 SGB VIII). Dem deutschen Jugendhilferecht unterworfen sind alle Jugendliche mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland, unabhängig von ihrer Nationalität (vgl. § 6 SGB VIII). 74 c) Leistungen Die Jugendhilfe soll Beiträge zur Förderung leisten, sie normiert nicht wesentlich Eingriffsbefugnisse des Staates. Das Gesetz unterscheidet „Leistungen“ von „anderen Aufgaben der Jugendhilfe“ (§ 2 SGB VIII). Leistungen (§ 2 Abs. 2 SGB VIII) der Jugendhilfe sind Angebote der Jugendarbeit (vgl. §§ 11 ff. SGB VIII), zur Förderung der Erziehung in der Familie (vgl. §§ 16 ff. SGB VIII), zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege sowie Hilfen zur Erziehung und ergänzende Leistungen. Die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen betrifft die Vorschulerziehung in Kindergarten und Kinderhort (§§ 22 ff. SGB VIII). Für jedes Kind wird der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz begründet (§ 24 SGB VIII). Die Länder und Gemeinden sind gehalten, diesen Rechtsgrundsatz zu verwirklichen. Die Vorschriften über die Hilfe zur Erziehung regeln insbesondere die Voraussetzungen der Erziehung von Kindern in Heimen oder in Pflegefamilien (§§ 27 ff. SGB VIII). Für diese Kinder bestimmt § 37 SGB VIII das Gebot der Zusammenarbeit zwischen Heim- und Pflegeerziehern einerseits und den Eltern andererseits. § 38 SBG VIII modifiziert die Vertretungsmacht und das Recht der Eltern auf Personen- und Vermögenssorge zugunsten derer, die sich dem Kind pflegend annehmen. „Andere Aufgaben der Jugendhilfe“ (§ 2 Abs. 3 SGB VIII) sind in den §§ 42 - 60 SGB VIII geregelt: Fragen der Inobhutnahme von Jugendlichen, des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und Einrichtungen (Pflegeerlaubnis, Heimaufsicht des Jugendamtes), die Stellung des Jugendamtes im vormundschafts-, familien- und jugendgerichtlichen Verfahren, Aufgaben des Jugendamtes im Vormundschaftswesen und seine Stellung als Amtspfleger und Amtsvormund. d) Träger Träger der Jugendhilfe sind öffentliche und freie Träger. Innerhalb der öffentlichen Jugendhilfe ist zwischen den örtlichen und den überörtlichen Trägern zu unterscheiden (§ 69 SGB VIII). Örtliche Träger sind Kreise, kreisfreie Städte und kreisangehörige Gemeinden, soweit das Landesrecht dies zulässt. Überörtlicher Träger ist das Land. Innerhalb der örtlichen Jugendhilfeträger besteht ein Jugendhilfeausschuss als kommunales Vertretungsorgan (§ 70 SGB VIII), in dem jedoch Repräsentanten der freien Träger der Jugendhilfe vertreten sind (§ 71 SGB VIII). Öffentliche und freie Träger teilen sich in die Gesamtverantwortung für die Jugendhilfe. Entsprechend dem Prinzip des Nach75 ranges öffentlicher gegenüber privater Hilfe haben die freien Träger gegenüber den öffentlichen Trägern Vorrang (vgl. § 4 SGB VIII). e) Finanzierung Die mitunter beträchtlichen Kosten der Jugendhilfe sind grundsätzlich von den Trägern aufzubringen. Unterhaltspflichtige Eltern können zu einer Beteiligung an den Kosten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit herangezogen werden (§§ 91 ff. SGB VIII). Kommt ein Unterhaltspflichtiger der Leistung nicht nach, kann der Träger der Jugendhilfe Vorleistungen an Kinder oder Jugendliche erbringen und im Wege der Überleitung den Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Unterhaltspflichtigen geltend machen (§§ 95 f. SGB VIII). Quelle: www.destatis.de 76