Desperately Seeking Madonna

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Desperately Seeking Madonna
„Desperately Seeking Madonna“:
wechselnde Weiblichkeitsinszenierungen
als mediale Konstruktion eines Popstars
Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten
Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe II
mit Zusatzprüfung für die Sekundarstufe I, dem
Staatlichen Prüfungsamt für Lehrämter an Schulen in Köln
vorgelegt von:
Friedrike Mimberg
29. September 2005
Prof. Michael Rappe
Hochschule für Musik Köln
4
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
0. Einleitung
4
1. Die Macht der Bilder
8
1.1
Videoclipgeschichte: Historische und wirtschaftliche Hintergründe
8
1.1.1 Die
und
8
1.1.2 Musiktechnologische und popkulturelle Entwicklungen als
10
Vorläufer
des
Clips:
Zwischen
Werbefilm
Synästhesie-Experiment
Katalysator
für
die
Entwicklung
des
Videoclips
als
Ausdrucksform der Popkultur
1.1.3 Die Krise der Musikindustrie als Geburtshelfer des Videoclips
11
1.2
Die Gründung von MTV oder: Videoclips erobern das Fernsehen
12
1.3
Der Videoclip: Zur ästhetischen und moralischen Debatte
15
1.3.1 Clipästhetik
16
1.3.2 Das Zusammenspiel von Bild, Musik und Starinszenierung
17
1.4
Rezeption und Verstehen von Videoclips
18
1.5
Der
Videoclip
als
audiovisuelles
Medium:
„BilderHören
und
21
MusikSehen“ oder „Bilderwelt der Klänge – Klangwelt der Bilder“
1.6
Methodisches Vorgehen dieser Arbeit
2. Die Macht der Imagewechsel
2.1
23
24
Burning up (1983)
24
2.1.1 Das New York der 1970er / 1980er Jahre: Von der Tänzerin
25
zur Musikerin – Clubszene – erster Plattenvertrag
2.2
2.3
2.1.2 Image
29
2.1.3 Clipanalyse
30
Express Yourself (1989)
38
2.2.1 Image
41
2.2.2 Daten zum Clip
43
2.2.3 Clipanalyse
45
Frozen (1998)
58
2.3.1 Image
60
5
2.4
2.3.2 Clipanalyse
61
What It Feels Like For A Girl (2001)
68
2.4.1 Image
69
2.4.2 Clipanalyse
70
2.4.2.1 Clipbeschreibung
71
2.4.2.2 Das Zusammenspiel von Bild, Ton und Musik
84
2.4.2.3 Cover
86
2.4.2.4 Interpretation
87
3. Madonnas Macht über die Bilder
93
4. Ausblick und Schlusswort
100
5. Quellenverzeichnis
102
Clipliste
104
Anhang
Anhang I: Abbildungsverzeichnis
Anhang II: Songtexte
Madonna-Clips (DVD)
6
0.
EINLEITUNG
I’ve had so many lives
Since I was a child
And I realise
How many times I’ve died
[…]
Nobody knows me
[…] 1
Das Einzigartige an dem Popstar Madonna ist, dass es ihr gelungen ist, seit
mehr als zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf sich zu
ziehen, alle Medienskandale zu überleben und mit ihrer Musik immer aktuell zu
bleiben. Sie ist omnipräsent wie kaum ein anderer Popstar: Kein Tag vergeht, an
dem es nichts von der Künstlerin zu sehen oder zu hören gibt, im Radio, Internet,
Fernsehen, oder der Tages- und Boulevardpresse. Nach Angabe des Guiness-Buch
der Rekorde ist Madonna mit 250 Millionen verkauften Tonträgern die international
erfolgreichste Sängerin unserer Zeit und gehört mit einem geschätzten Vermögen
von 600 Millionen US-Dollar zu den reichsten Frauen der Welt. Seit fast einem
viertel
Jahrhundert
vermarktet
sich
die
Tänzerin,
Sängerin,
Schauspielerin,
Kinderbuchautorin und Geschäftsfrau mit beispielhafter Effizienz.
Madonna hat sich im Laufe ihrer langen Karriere immer wieder neu
erfunden, sich weibliche und männliche Gesten und Posen bestimmter celebrities
angeeignet, sie nach dem Prinzip der bricolage zusammengesetzt und für ihre
eigenen Aussagen umfunktionalisiert. Durch die ständigen Umwandlungen, das
Tragen und Austauschen von Masken, den permanenten Imagewechsel, der zu
ihrem Markenzeichen geworden ist, ist es ihr gelungen, der Abnutzung der Bilder,
die mit ihrer medialen Omnipräsenz einhergeht, entgegenzuwirken; denn Pop muss
sich
pausenlos
erneuern,
um
weiterleben
zu
können.
Das
chamäleonhafte
„Switchen“ von einem Image zum nächsten wird im Popgeschäft von niemandem
mit einer solchen Professionalität beherrscht wie von Madonna: Ob „Girlie“ oder
Marilyn Monroe, Domina, Dietrich, Dita Parlo, Mystikern, Auftragskillerin oder Mrs.
Ritchie, in allen Rollen ist sie überzeugend und führt auf diese Weise vor, dass sie
den Imagewechsel als Spiel betreibt. Madonna, die Meisterin der artifiziellen
Authentizität, legt sich dabei auf keines ihrer Images fest, was ihr die Möglichkeit
einräumt, sich immer wieder neu und als eine ganz Andere zu erfinden. Auf diese
1
Madonna in ihrem Song „Nobody Knows Me“ vom Album „American Life“, 2003.
7
Weise ist es ihr möglich, ein möglichst breites Publikum anzusprechen auch noch
nach über zwei Jahrzehnten an der Spitze des Popbusiness zu stehen. Jede dieser
Rollen, so behauptet sie selbst, ist eine Facette von ihr, die sie nacheinander
künstlerisch auslebt. Doch keine davon zeigt die „wahre“ Madonna, der Biografen
unermüdlich auf der Spur sind, „desperately seeking...“. 2
Der permanente Imagewechsel ist folglich das, was Madonna unter anderem
zu ihrem heutigen Status als Popikone verholfen hat. So scheint der Wechsel bei
allen Veränderungen eine Konstante in ihrem Werk darzustellen. Im Wechsel liegt
Madonnas Kontinuität. So lässt sich die erste These, der in dieser Arbeit
nachgegangen werden soll, folgendermaßen formulieren: Trotz der Imagewechsel
lässt sich eine Kontinuität ausmachen. Oder anders formuliert: Die Kontinuität des
Medienstars Madonna liegt gerade in der Veränderung, in den wechselnden
Weiblichkeitsinszenierungen: „Changing her image is her image.“ 3
Ein weiteres Madonna-Merkmal ist es, dass keines der Images eine jeweils
komplette Neuerfindung darstellt. In all ihren alter egos, die sie im letzten
Vierteljahrhundert entworfen hat, präsentiert sie ein Bild von Weiblichkeit, das sie
von Anfang an für ihre Fans so anziehend gemacht hat: Es ist das Bild einer
unabhängigen, selbstbewussten Frau mit sozialer Macht und finanziellem Erfolg. In
einer Gesellschaft, in der Gesundheit, Körperkult und ein hohes Konsumniveau von
großer Bedeutung sind, ist es nicht verwunderlich, dass Madonna für Mädchen und
junge
Frauen
ein
Selbstbewusstsein
Rollenideal
und
darstellt.
Selbstbestimmung
Die
ist
Artikulation
ein
Aspekt,
von
der
weiblichem
sich
ebenso
kontinuierlich durch ihr Werk zieht. Dies erreicht sie dadurch, dass sie sich selbst
von Anfang an als eigenständige Künstlerin und unabhängige, selbstbewusste Frau
mit sozialer Macht und finanziellem Erfolg definiert und darstellt.
Die Themen, die sie behandelt, sind ebenfalls seit Beginn ihrer Karriere die
gleichen: Die Beziehung zwischen den Geschlechtern, der geschlechtliche Zwiespalt,
weibliche sexuelle Autonomie in einer von weißen Männern dominierten Welt.
Madonna verkörpert für weibliche Fans einen Zugang zu Privilegien, die traditionell
nur Männern zugesprochen werden: Der Anspruch auf (sexuelles) Vergnügen, Geld
2
Der Titel dieser Arbeit bezieht sich auf den Spielfilm mit dem Titel „Desperately Seeking Susan“ (Regie:
Susan Seidelman, 1985), in dem Madonna die Rolle der Susan spielt. Dieser Film hat erheblich dazu
beigetragen, Madonnas „Girlie-Look“ der Anfangsjahre populär zu machen.
3
Watts, Mark: „Electrifying Fragments: Madonna And Postmodern Performance (1996)“, in: Benson,
Carol/Metz, Allan (Hrsg.): The Madonna Companion. Two Decades Of Commentary, New York 1999, S.
297.
8
und Autorität. Dies führt zur zweiten These: In all ihren Inszenierungen geht es um
das Aushandeln von Macht und Kontrolle, das Infragestellen der Zuschreibung
traditioneller
Geschlechterrollen
und
deren
konventioneller
Darstellung
im
Patriarchat, alles im Dienste der Artikulation von weiblicher Selbstbestimmung.
Madonna ist ohne Bilder nicht denkbar. Erst mit der visuellen Vermarktung
Madonnas kam der Erfolg. Ihre Musik allein hätte sie nicht zu der gemacht, die sie
heute ist. Mit jedem Album, fast mit jedem Videoclip, liefert die Künstlerin ein
neues Image und ein neues Design mit, die Kritiker wie Fans mitunter mehr zu
interessieren scheinen als der Inhalt ihrer Werke. Bei Madonna sind es im
wesentlichen die visuellen Eindrücke, die im Gedächtnis bleiben.
Das Musikvideo erweist sich als das für Madonnas Intentionen am meisten
geeignete Medium. Ohne Musikvideos, die, ausgestrahlt von MTV, schnell für eine
flächendeckende Verbreitung ihres Images sorgten, wäre sie vermutlich eines der
One-Hit-Wonder der Popmusik geblieben, wie es ihr Kritiker in den 1980er
vorhergesagt hatten. So profitierte Madonna zu Beginn der 1980 Jahre von der
Entstehung von MTV wie kaum ein anderer Popstar. Mehr als jeder andere erkannte
sie im Medium des Musikvideos eine Möglichkeit, die eigene Popularität aufzubauen
und für Songs zu werben. Darüber hinaus erkannte sie in den Clips von Anfang an
ein Forum, in dem sich ihr Image als Virtuosin der Verwandlung formulieren und
manifestieren
ließ. 4
Die
meisten
Kontroversen
in
Presse
und
Wissenschaft
entstanden weniger um ihre Songs als um die dazugehörigen Videobilder; denn
nicht selten erhalten die Songs erst durch den Clip ihre eigentliche Bedeutung. So
scheint es gerechtfertigt, Madonna als vornehmlich visuelles Phänomen zu
begreifen.
Madonna ist ohne Videobilder nicht denkbar, die „Macht der Bilder“ und ihre
Präsenz auf MTV haben ihren weltweiten „Siegeszug“ erst möglich gemacht. Der
Videoclip ist das Genre Madonnas, das sie ― im Gegensatz zum Film 5 ―, perfekt
beherrscht; denn in den Clips ist es ihr möglich, geschlechtliche Identitäten als
Maskeraden
durchzuspielen
oder
die
Grenzen
zwischen
Männlichkeit
und
Weiblichkeit aufzulösen. Somit kommen wir zur dritten These: Madonnas Erfolg
4
So behauptet Ramona Curry, dass „die Herstellung und Umwandlung von Madonnas Starimage“ in
erster Linie in ihren Videoclips stattfindet. Vgl. Curry, Ramona: „Madonna von Marylin zu Marlene:
Pastiche oder Parodie?“, in: Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.): Viva MTV! Popmusik im Fernsehen,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 184.
5
Für ihre schauspielerischen Leistungen kassierte sie insgesamt acht Mal den „Golden Raspberry Award“
(Die goldene Himbeere) für die schlechteste schauspielerische Darbietung.
9
steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Möglichkeiten, die das Medium
Video bietet.
Der Aufbau der Arbeit entspricht den aufgestellten Thesen in umgekehrter
Reihenfolge.
Im
Mittelpunkt
dieser
Arbeit
stehen
die
wechselnden
Weiblichkeitsinszenierungen der Kunstfigur Madonna und die Frage, wie sie diese
medial inszeniert. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf ihren Videoclips, die sich
wie kein anderes Medium zur Visualisierung ihrer permanenten „Häutungen“
eignen. Am Anfang dieser Arbeit steht deshalb die Betrachtung des Mediums
„Videoclip“ im Hinblick auf seine historischen, wirtschaftlichen und popkulturellen
Hintergründe, aber auch hinsichtlich seiner Ästhetik und seiner Rezeption. Auch
Gründung und Wirkungsweise des Musiksenders MTVs finden im ersten Teil insofern
Berücksichtigung, als dass er durch die Ausstrahlung von Madonna-Videoclips
wesentlich zur globalen Verbreitung des jeweiligen Madonna-Images beigetragen
hat.
Der Videoclip, betrachtet als ein spezifisch audiovisuelles Medium, stellt
bestimmte Anforderungen an eine Videoclipanalyse und bildet die Voraussetzung
für die methodische Grundlage für das Vorgehen im zweiten Teil dieser Arbeit,
dessen
Gegenstand
Themenstellung
der
die
diachronen
Arbeit,
nämlich
Imagewechsel
das
Aufzeigen
Madonnas
der
sind.
Imagewechsel
Die
als
kontinuierliches Phänomen im Gesamtwerk der Künstlerin, visualisiert in ihren
Clips, erfordert die Berücksichtigung mehrerer Clips, die im Hinblick auf Image und
Themenkontinuität untersucht werden sollen. Zu diesem Zweck wurden vier Clips
der Künstlerin ausgewählt, die jeweils unterschiedlichen Phasen ihrer Karriere ―
markiert von ihrem ersten Album mit dem sprechenden Titel „The First Album“
(1983) und ihrem 2000 erschienen Album „Music“ ― zuzuordnen sind. Der Analyse
eines jeden Clips geht eine Beschreibung der dominanten Konstruktionselemente
des jeweiligen Madonna-Images voraus, wobei auch Alben- und Single-Cover
Berücksichtigung finden.
Der dritte Teil dieser Arbeit soll im Hinblick auf die Ergebnisse des zweiten
Teils noch einmal der Frage nachgehen, inwieweit Madonna sich die Welt der Bilder
für ihre Imagekonstruktionen nutzbar macht, bevor der vierte Teil mit einem
Ausblick auf die „neue“ Madonna, die sich für das Ende diesen Jahres mit einem
neuen Album angekündigt hat, schließt.
10
1.
DIE MACHT DER BILDER
1.1
Videoclipgeschichte:
Historische
und
wirtschaftliche
Hintergründe
1.1.1 Die Vorläufer des Clips: Zwischen Werbefilm und SynästhesieExperiment
Videoclips sind in der Regel drei- bis fünfminütige Kurzfilme, die der
bildlichen Untermalung eines Musiktitels dienen. Die Geburtsstunde des Videoclips
ist in der Literatur umstritten. Fernsehauftritte der Rock ’n’ Roller wie Elvis Presley
Mitte der 1950er Jahre im US-Fernsehen können schon als Vorläufer des Clips
betrachtet werden: Die Rockstars wurden singend und musizierend gezeigt in der
Absicht, den Schallplattenverkauf zu fördern. Die Plattenfirmen erhofften sich,
durch die visuelle Abbildung im Fernsehen die Stars ihren Fans näher zu bringen,
als es durch das reine Hör-Erlebnis, die Schallplatte, möglich war. Darüber hinaus
bot sich auf diese Weise die Möglichkeit, ein größeres Publikum anzusprechen, als
man allein durch das Radio erreichen konnte. Da es bis zu der Gründung MTVs
Anfang der 1980er Jahre noch keine Fernseh-Musiksender gab, beschränkte sich
die
Präsentation
von
entsprechenden
Programmen öffentlich rechtlicher Sender.
„Kurzfilmen“
auf
TV-Shows
in
den
6
Von Vorteil gegenüber dem Radio sollte sich außerdem die Tatsache
erweisen, dass die Ausstrahlung eines aktuellen Musiktitels über das landesweite
Fernsehen geographisch ein größeres Publikum erreichen konnte als dieselbe
Sendezeit bei einer lokalen Radiostation.
Üblicherweise
handelte
es
sich
hierbei
um
Auftritte
vor
einem
Studiopublikum mit dokumentarischem Charakter, wenigen Kameras und ohne
große Effekte, da die Videotechnik noch nicht weit entwickelt war. Gesendet wurde
regulär live, um die Kosten für die Produktion auf chemischem Film so niedrig wie
möglich zu halten. Für die Fernsehsender waren diese Sendeformen wegen der
geringen Produktionskosten bei gleichzeitigen hohen Einschaltquoten besonders
6
Zur Übersicht von Rock- und Popmusik im Fernsehen vor der Gründung von MTV und MTV Europe seien
hier einige Daten genannt: 1951 Bandstand, tägliche TV-Sendung (auf Philadelphia beschränkt). – Bis
1989 als American Bandstand US-weite Ausstrahlung durch den Sender ABC. – 1963-1966: Ready,
Steady, Go! in Großbritannien. – 1.01.1964: Erste Ausstrahlung von Top of the Pops in GB. – 19651972: Radio Bremen produziert 83 Folgen Beat-Club und verkauft sie weltweit. – 1984: In der BRD
wurden Formel 1 (ARD) und Tele 5 die Sendungen für Videoclips. – Vgl. Maas, Georg: „Videoclips.
Gegenwartskunst oder Gefahr für die Jugend?“, in: Musik und Unterricht 51/1998, S. 9.
11
attraktiv. Das, was im Fernseher zu sehen war, zeigte sich deshalb sehr uniform
und war den Vorstellungen des jeweiligen Senders unterworfen.
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre änderte sich die Situation mit dem
von den „Beatles“ in eigener Regie gedrehten Film zu ihrem Song „Strawberry
Fields Forever“ (1967). Alle vier Musiker sind hier zu sehen, allerdings nicht mit
ihren Instrumenten. Die Musik fungiert hier erstmals nur als Untermalung der
Handlung und Zuspielung zur Bilder. Obwohl es sich um einen chemischen Film
handelt und nicht um einen magnetisch aufgezeichneten ― also ein Video ― wird
das Werk der „Beatles“ oftmals als Urform aller Videoclips bezeichnet 7 ; denn hier
wird im Gegensatz zu den damals üblichen Fernsehsendungen mit den technischen
Möglichkeiten des Films gespielt, wie etwa Zeitlupe, rückwärtslaufenden Sequenzen
oder dem Einsetzen von Bildnegativen zur Unterstützung des surrealen Charakters
des Songs. So steht der Film eher in der Tradition experimenteller Musikfilme wie
jenen von Len Lye, Oskar Fischinger, Walther Ruttmann oder Walt Disney, und
nicht in der Reihe der bis dahin zu Demonstrations- und Werbezwecken
produzierten Filme von Rockmusikern, die in erster Linie der Selbstdarstellung des
jeweiligen Künstlers dienten. Den Liverpoolern ging es um das Erschaffen
neuartiger Verbindungen zwischen filmischen und musikalischen Abläufen, und dies
im Sinne audiovisueller Synästhesie. 8
Doch zunächst blieb der „Beatles“-Film ein experimentelles Einzelwerk. Erst
Mitte
der
1970er
Jahre
begann
man
unter
dem
Eindruck
rückgängiger
Schallplattenverkäufe mit der systematischen Herstellung von Videoclips. 9 Somit ist
die Entwicklung des Musikvideos sehr eng mit den Absatzschwierigkeiten der
Tonträgerindustrie und den Maßnahmen zu deren Überwindung verknüpft. Die Ende
der
1970er
Jahre
einsetzenden,
musiktechnologischen
und
popkulturellen
Umwälzungen schafften den Nährboden für diese Entwicklung.
7
So argumentiert auch Michael Fink: „In 1967 the Beatles introduced a new song, ‘Strawberry Fields
Forever’, which what was probably the first modern music video. The clip made liberal use of editing
techniques and humorous optical tricks for which the Beatles’ films had become famous, but ‘Strawberry
Fields Forever’ projected a distinctive image, a unique mood that perfectly complimented the psychedelic
nature of the song.” Fink, Michael: Inside the Music Business, New York 1989, S. 163.
8
Siehe hierzu Kap. 1.5 dieser Arbeit, das den Videoclip als spezifisch audiovisuelles Medium darstellt.
9
Als Prototyp der damaligen Clips wurde der 1975 zu dem Song „Bohemian Rhapsody“ der Gruppe
„Queen“ produzierte Film betrachtet. Vgl. Maas 1998, S. 6. Oftmals wird auch dieses „Queen“-Video als
das erste Musikvideo der Geschichte bezeichnet.
12
1.1.2 Musiktechnologische
und
popkulturelle
Entwicklungen
als
Katalysator für die Entwicklung des Videoclips als Ausdrucksform
der Popkultur
Die Ende der 1970er Jahre einsetzende Revolutionierung der Produktionsund Reproduktionstechnologien in der Musikbranche ermöglichte die Erzeugung
völlig neuer Sounds: Mit Drumcomputern, Synthesizern und Sequenzern war es nun
möglich, künstliche Sounds zu kreieren, die abgespeichert und beliebig oft
reproduziert werden konnten. Das Computer-Sampling machte es möglich, Stücke
zu schreiben, ohne die jeweiligen Instrumente spielen zu können.
Diese Umwälzungen im Produktionsbereich veränderten folglich auch die
traditionelle Live-Performance: So hielten die Reproduktionstechnologien Einzug in
die „Live-Acts“ der Popmusik, weil es nicht mehr möglich war, die technisch
aufwendig
produzierten
aufzuführen.
10
Songs
in
einer
konventionellen
Live-Präsentation
In den frühen 1980er Jahren veränderte sich die Live-Performance
dahingehend, dass die erzeugte Musik den unterschiedlichsten Quellen entnommen
wurde und dass die Band, die live zu sehen war, nicht unbedingt im herkömmlichen
Sinne live spielte. Auf diese Weise fand eine „Grenzauflösung zwischen künstlicher
und
Live-Darbietung“ 11
statt,
verbunden
mit
einem
„displacement
of
the
12
musician“ , wodurch sich die auditive Qualität der Musik relativierte, während die
visuelle in den Vordergrund rückte. Live-Auftritte waren so immer seltener
Präsentationen musikalischen Könnens als vielmehr perfekt inszenierte Shows, die
auf das Image des jeweiligen Stars zugeschnitten wurden. So wie sich im Laufe der
1980er Jahre Popmusik immer mehr zu einem visuellen Gesamtkunstwerk
entwickelte, wurde auch der Musiker immer mehr zum Performer. Wie sehr
Madonna ein „Kind ihrer Zeit“ ist, zeigen schon die Mitschnitte ihrer ersten, als
Gesamtkunstwerk angelegten Konzerte Mitte der 1980er Jahre, in denen sie sich
selbst als Mittelpunkt der Show inszeniert, die weit mehr war als die Darbietung von
Musikstücken. Die visuellen Effekte drängten in Madonnas Shows die auditiven
Aspekte von Anfang an in den Hintergrund. So nannte die Künstlerin selbst ihre
10
Die Produktion des oben angeführten Films der „Beatles“ fand schon Mitte der sechziger Jahre u.a. vor
dem Hintergrund dieser neuen Entwicklungen statt: Seit August 1966 trat die Band u.a. nicht mehr
öffentlich auf, weil ihnen ihre in den Studios aufwendig produzierte Musik auf der Bühne nicht mehr
reproduzierbar erschien. So wurde der Film u.a. auch gedreht, um dennoch in den TV-Sendungen wie
etwa Top of the Pops in Erscheinung treten zu können. Vgl. Maas 1998, S. 6.
11
Schmidt, Axel: „Sound and Vision Go MTV ― die Geschichte des Musiksenders bis heute”, in:
Neumann-Braun/Schmidt 1999, S. 96.
12
Goodwin, A.: Dancing in the Distraction Factory. Music Television and Popular Culture, London 1992,
S. 32.
13
90minütige Show der „Who’s That Girl“-Tour (1987) ein „theatralisches MultimediaSpektakel”. 13
So begann, hervorgerufen durch die technologischen Neuerungen jener Zeit,
die Live-Ideologie als Authentizitätsprädikat des traditionellen Rocks zu schwinden
und eine Welle der Artifizialisierung die Werte der Rock- und Popwelt zu erfassen.
[...] Lippensynchrones Singen und die Selbstpräsentation zur Musik wurden zum
integralen Bestandteil der Pop-Performance und bereiteten damit den Boden für den
Videoclip als der popkulturellen Ausdrucksform der kommenden Jahre. 14
Den in Folge dieser Entwicklung entstandenen Popclips fehlte es nun an
geeigneten Foren, die ihnen mit der Gründung des Musikfernsehens geboten
wurden.
1.1.3 Die Krise der Musikindustrie als Geburtshelfer des Videoclips
Ende der 1970er Jahre suchte die Musikindustrie wegen Umsatzeinbußen
nach effektiveren Formen der Produktwerbung, denn Konzerttourneen und das
Radio ― damals die einzigen Foren, in denen Pop-Künstler Promotion für sich und
ihre Werke machen konnten ― erwiesen sich als zu kostenintensiv, konservativ und
in der Reichweite als zu begrenzt. In Verbindung mit den oben bereits erwähnten,
popkulturellen Wandlungsprozessen zeigte sich der Videoclip als ein sehr viel
effektiveres Werbemedium. So knüpft der Clip zwar an die Idee der LivePerformance an, stilisiert und artifizialisiert jedoch den Auftritt des Künstlers zu
Werbezwecken: Die Inszenierung des Künstlers im Clip ist „performance-aspromotion“ 15 , also Auftritt und Werbung gleichermaßen. Auf diese Weise wird das
Produkt Popmusik ― synästhetisch erweitert ― in noch größerem Umfang
reproduzierbar und distribuierbar. Im Vergleich zu Tourneen erwies sich der Clip als
eine kostengünstige, durch die Verbreitung durch das Fernsehen als eine globale
und
kontrollierbare
Form
der
Werbung
von
Popmusik.
Die
Gründung
der
Musiksender machten diese Art der Promotion erst möglich, so dass MTV „zum
Retter der angeschlagenen Tonträgerindustrie“ avancierte und sich darüber hinaus
als ein Medium erwies, „das mit den Tendenzen des Strukturwandels innerhalb
einer wiedererstarkenden Musikindustrie perfekt harmonierte.“ 16
13
14
15
16
Madonna zit.n.: Morton, Andrew: Madonna, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2002, S. 257.
Schmidt 1999, S. 96.
Goodwin 1992, S. 25.
Schmidt 1999, S. 99.
14
1.2
Die
Gründung
von
MTV
oder:
Videoclips
erobern
das
Fernsehen
Erst mit dem Aufkommen des Kabel- und Satellitenfernsehens in den USA
Ende der 1970er Jahre wurde es möglich, Spartenkanäle zu schaffen und damit
einen
Sender
wie
MTV
zu
gründen,
der
sich
bei
spezialisiertem
(jugendspezifischem) Programmangebot an ein globales Publikum richtete und
ausschließlich dazu geschaffen wurde, als Übertragungsmedium für Videoclips zu
fungieren.
Die Gründung des amerikanischen Senders MTV (Music Television) im Jahr
1981
17
und seine seit August 1987 bestehende westeuropäische Dependance in
London radikalisierten das Konzept der Fernsehsender (s. Kap. 1.1.1), indem sie
ein Rund-um-die-Uhr-Fernsehprogramm, bestehend aus Werbung und Musik, 18
lieferten, das äußert kostengünstig produziert werden konnte: Der Sender stellt den
Sendeplatz zur Verfügung, die Musikbranche beschafft das Programm, und das
kostenlos. Sehr schnell zeigte sich, wie attraktiv und profitabel die kleinen Filme
waren. Das Publikum schien die neue Darbietungsform von Rock- und Popmusik zu
akzeptieren
und
zu
nutzen.
Die
soziokulturellen
Rahmenbedingungen
der
beginnenden 1980er Jahre zeigten sich sehr günstig hinsichtlich des Musikkonsums:
Das
träger
und
älter
werdende
Rockpublikum
und
die
Entstehung
einer
Jugendkultur, in deren Zentrum nicht mehr allein die Musik stand, „ebneten den
Weg der widerständigen Rockmusik der Siebziger ins kommerzielle Fernsehen der
Achtziger.“ 19
Es kam zur Neubildung kultureller Nischen, auf die die Werbebranche mit
einem differenzierteren Warenangebot reagierte. Axel Schmidt spricht in diesem
Zusammenhang von einer „zielgruppenorientierte[n] Fragmentierung der populären
Medienkultur“ 20 . Dabei sollte „MTV mehr sein als ein visuelles Radio [...]. Mit dem
17
Erster ausgestrahlter Clip auf MTV: „Video Killed The Radio Star“ von den „Buggles“. Nachdem am
1.08.1987 MTV Europe den Sendebetrieb in London aufgenommen hat, folgt 1991 MTV Asia. Vgl. Maas
1998, S. 9.
18
Eine Nähe zwischen Werbespot und Videoclip besteht nicht nur in der Funktion, nämlich ein Produkt,
im Falle des Clips den Musiker oder die Band zu bewerben, sondern auch in der Ästhetik. Denn seit den
Anfängen des Clips haben sich Clipregisseure an der Ästhetik der Werbefilme orientiert. Das Verhältnis
zwischen Werbespot und Clip hat sich allerdings inzwischen dahingegen verändert, dass nun die
Werbespots die Clipästhetik adaptieren oder diese zitieren: „Die Videocliptechnik von Sendern wie MTV
hat einen wahnsinnigen Einfluss [auf die Gestaltung von Werbung] ausgeübt“, so Konstantin Jacoby,
Gründer der erfolgreichsten deutschen Werbeagentur Springer & Jacoby in Hamburg, zitiert im Stern
2/1998 vom 31.12.1997, S. 100.
19
Schmidt 1999, S. 100.
20
Ebd.
15
Sender sollte ein ungewöhnlicher und neuer kultureller Service etabliert werden.“ 21
Der Inhalt des Senders sah seine Hauptaufgabe darin, die spezifischen Bedürfnisse
seiner Zielgruppe zu befriedigen.
Im Laufe der Jahre gründeten sich die unterschiedlichsten MTV-Ableger ―
MTV Europe, MTV Russia, MTV Africa ―, die dafür sorgten, dass nicht nur die
Popmusik des Westens, sondern auch die Gesichter der Musiker auf der ganzen
Welt verbreitet wurden. 22 Somit ist die Gründung von MTV Anfang der 1980er Jahre
im Zusammenhang mit Madonnas Karriere von entscheidender Bedeutung; denn
auf diese Weise wurde ein Forum geschaffen, in dem die kleinen Werbefilme um
den Globus geschickt werden konnten, was Madonna zu ihrem heutigen Status als
internationaler Megastar verholfen hat.
Inzwischen gibt es kaum mehr einen Haushalt ohne MTV. Musiksender
gelten als Trendsetter bei seinem jugendlichen Publikum und genießen eine heute
kaum zu überbietende Popularität. 23
Aus diesem Grund gibt es auch heute keinen Charthit mehr ohne
Videobilder. Für Promotionzwecke und aus marketingtechnischen Gründen hat sich
der Clip als effizientes Medium bewährt ― vorausgesetzt, das Musikfernsehen
erklärt sich bereit, den jeweiligen Clip auszustrahlen, was von verschiedenen
Faktoren (Qualität, Inhalt, Musikgenre, Label des Künstlers etc.) abhängig ist. Denn
Musiksender bestimmen heute über Popkarrieren und produzieren Stars, ähnlich
wie früher das Radio. Wer heute zu seiner Musik keine Clips produziert oder dessen
21
Ebd., S. 102.
Auch in der BRD wurden seit Anfang der neunziger Jahre Musiksender gegründet und eine
zunehmende Diversifizierung und Spezifizierung des Musikprogramms hinsichtlich der Zielgruppen
vorgenommen. So gesellte sich am 1. Dezember 1993 zu MTV Europe der Kölner Videokanal VIVA. Mit
der Gründung von VIVA 2 am 21. März 1995 wurde speziell die Zielgruppe der jüngeren Erwachsenen
angesprochen, der seit 1995 aus Hamburg sendende deutschsprachige Musikkanal VH-1 richtet sich an
die 25- bis 49-Jährigen. 1996 ging der Dortmunder Videoclipkanal ONYX auf Sendung, der sich mit
einem Programm aus Pop, Jazz, Country, deutschem Schlager, Klassik, Musical und Oldies an die 30- bis
55-Jährigen adressiert. So zeigte sich bis Mitte der neunziger Jahre, ähnlich wie beim Rundfunk, eine
zunehmende Spezialisierung hinsichtlich der Zielgruppe und des Musikgenres sowie eine zunehmende
Nationalisierung bzw. Regionalisierung ab. - Durch die im Sommer 2004 durchgeführte Übernahme der
VIVA Media AG durch den amerikanischen Medienkonzern Viacom ― Muttergesellschaft von MTV ―
zeichnet sich allerdings eine zunehmende Uniformierung und ein Aufheben der Diversität hinsichtlich der
Programmvielfalt ab. Der Videoclip-Anteil macht in den USA ohnehin nur noch einen Anteil von etwa
einem Drittel am MTV-Programm aus. Somit scheint alles, was traditionell unter Musikfernsehen
verstanden
wird,
nicht
mehr
zu
existieren.
Vgl.
http://www.medienmaerkte.de/artikel/free/042406_viva.html;
http://www.medienmaerkte.de/artikel/free/041711_viva_viacom.html;
http://www.medienmaerkte.de/artikel/free/041606_viva.html
23
1992 wurde MTV deshalb auch für Wahlkampfzwecke von Bill Clinton hinsichtlich der
Präsidentschaftswahl genutzt. Vgl. Maas 1998, S. 6.
22
16
Clips nicht ausgestrahlt werden, läuft Gefahr, von einer breiteren Öffentlichkeit
nicht wahrgenommen zu werden.
Ob ein Clip in die sogenannte Playlist bei MTV aufgenommen wird, hängt
unter anderem davon ab, welchem Label der oder die Künstler angehören. Neue
Künstler großer Plattenfirmen erhalten regulär Eingang in die Playlist, 24 die der
Independent Label werden kritischer betrachtet. So hatte Madonna von Anfang an
das Glück, bei einem der größten Musiklabel Amerikas (Warner Brothers, wenn
auch zunächst bei Sire Records, einer kleinen Tochterfirma) unter Vertrag
genommen zu werden, was die Ausstrahlung ihrer Clips garantierte.
1984 etablierte der Musiksender MTV auf politischen Druck hin einen
Ausschuss, dessen Aufgabe es war, anstößige und nicht jugendfreie Inhalte aus den
Clips zu verbannen oder die Ausstrahlung von als gefährdend eingestuften Clips von
vornherein zu unterbinden. Anhand der Kriterien „Anstößiges“ (Sex, Drogen,
Gewalt) und „Schleichwerbung“ wird eine „hochgradig subjektiv[e]“ 25 Entscheidung
gefällt,
ob
ein
Clip
der
Kategorie
„angenommen“,
„abgelehnt“
oder
„Nachbearbeitung erforderlich“ zugeteilt wird:
Der Umfang der Zensuren nahm im Laufe der Zeit zunehmend restriktivere Formen
an: 1989 wurden 10% aller Clips beanstandet, 1994 waren es bereits über 30%. Die
Definitionskämpfe um ‚Erlaubtes’ und ‚Verbotenes’ führte dazu, dass in einigen Fällen
die Clips bis zu sechsmal zwischen MTV und den Plattenfirmen hin- und
hergeschoben wurden. 26
Auch einige Madonna-Clips wurden von MTV mit der Zensur belegt und nicht in die
Playlist
aufgenommen.
So
widersetzte
sich
MTV
aufgrund
vermeintlich
pornographischer Inhalte in den 1990er Jahren der Ausstrahlung ihrer Clips zu den
Songs „Justify My Love“ (1990) und „Erotica“ (1992). 2001 wurde der Clip zu „What
It Feels Like For A Girl“ mit der Begründung abgelehnt, dass er zu viel Gewalt
darstelle. Doch Madonna verstand es schon 1990, die Diskussionen um die geplante
Zensur für sich nutzbar zu machen, indem sie sich in der Talkshow Nightline
entschieden gegen die Zensur erotischer Phantasien aussprach und sich damit den
Ruf einer widerständigen Künstlerin erstritt. Darüber hinaus schlug sie aus dem
Sendeverbot erheblichen finanziellen Profit, indem sie „Justify My Love“ als
Kaufvideo vermarktete und etwa 500 000 Kopien davon absetzte. 27
24
Darüber hinaus verpflichten vertragliche Regelungen zwischen MTV und großen Plattenfirmen den
Musiksender dazu, einen bestimmten Anteil an Clips in die Liste zu übernehmen. Vgl. Schmidt 1999, S.
122.
25
Schmidt 1999, S. 122.
26
Ebd., S. 123. – Auch Songtexte mussten mit eingereicht und einer Prüfung unterzogen werden. Für
Beispiele siehe ebd.
27
Ebd. – Siehe auch Kap. 2.2 dieser Arbeit.
17
1.3
Der Videoclip: Zur ästhetischen und moralischen Debatte
Wegen des enormen Publikumszuspruchs zu MTV kam Mitte der 1980er
Jahre eine Diskussion über moralische Werte von Videoclips auf. Die wesentlichen
Kritikpunkte waren latenter Rassismus, 28 explizite Sexualitätsdarstellung und die
Zurschaustellung von Gewalt. 29
Auf
der
Gegenseite
plädierten
die
Verfechter
einer
eigenen
kunstästhetischen Videoclipkultur für die Clips als einen neuen Kunsttypus, „der die
Gegensätze von Avantgarde und Kommerz aufhebt, indem sich Medienkunst und
Populärkultur zu einer neuen Art der Alltagskunst verbinden.“ 30 Die weltweite
Verleihung von Videopreisen ― Grammies, MTV-Award, Goldene Europa etc. ―
spricht für eine solche Einschätzung.
Dass der Videoclip inzwischen als eigenständige Kunstgattung anerkannt ist,
steht außer Zweifel: In Sonderprogrammen auf Festivals (wie seit 1998 bei den
„Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen“), in Museen oder Galerien (z.B. im
„Deutschen Filmmuseum Frankfurt“, 1993; Kunstverein Köln, 1996) oder im
Fernsehen selbst (wie etwa die sechsteilige Reihe „Fantastic Voyages ― eine
Kosmologie
des
Musikvideos“,
3sat,
2000)
wird
es
ermöglicht,
den
Clip
dekontextualisiert und in einer anderen Programmatik als der des Musikfernsehens
im Hinblick auf seinen ästhetischen Wert, seine bildgebende Macht, Themen und
Rhetoriken
zu
betrachten
und
einen
genauen
Blick
auf
unterschiedliche
Autorensprachen oder nationale Besonderheiten zu werfen.
Auch anhand der in dieser Arbeit analysierten Videoclips lässt sich die
Entwicklung des Mediums ablesen: Innerhalb von weniger als zwanzig Jahren hat
sich der Clip zu einer eigenständigen Kunstgattung entwickelt, wovon gerade der
Clip „Frozen“ ― produziert von Chris Cunningham, einem der renommiertesten
Clipregisseure ― Zeugnis ablegt.
28
Bis zum Erfolg von Michael Jacksons Album „Thriller“ (1982) strahlte MTV keine Clips farbiger Musiker
aus! Schwarze Konkurrenz-Sender hingegen konnten sich wegen geringer Werbeeinnahmen nicht allein
auf Videoclips schwarzer Musiker beschränken. Vgl. Sanjek, Russell: American Popular Music and its
Business: The First Four Hundred Years, vol. 3: From 1900 to 1984, Oxford: Oxford University Press
1988, S. 640 f.
29
Glogauer, Werner: „Sex und Gewalt als auffälligste Inhalte von Videoclips“, in: Musik und Bildung
20/1988, Heft 11, S. 835-840.
30
Bódy, Veruschka/Weibel, Peter (Hrsg.): Clip, Klap, Bum: Von der visuellen Musik zum Musikvideo,
Köln 1987. Zitat aus dem Klappentext.
18
1.3.1 Clipästhetik
Dass Videoclips Werbefilme, 31 sogenannte „Promos“, d.h. Absatzförderer
sind, schließt nicht aus, dass in ihnen auch ein ästhetisches Ideal umgesetzt wird.
So
wurde
die
Technik
des
Verweisens
auf
populäre
Kunstgattungen
wie
Comicstrips, Filme bzw. Filmgenres zu einem Charakteristikum des Clips. Das
folgenlose
Zitieren, wie
in der klassischen Pop-Art, wurde stilprägend für
ambitionierte Clips und macht sie zu typischen Repräsentanten der Postmoderne.
Das im zweiten Teil dieser Arbeit analysierte Musikvideo zu Madonnas Song
„Express Yourself“ kann hier als beispielhaft angeführt werden, denn es lehnt sich
in Kulisse und Personenkonstellation an den Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang
aus dem Jahre 1927 an, womit es sich als ein typischer postmoderner Text erweist.
Regisseure und Produzenten von Musikclips machten sich die Neuerungen
des experimentellen Films, einiger Fernsehshows, populärer Musik des Filmmusicals
und Filmproduktionen von und mit Rockstars wie den „Beatles“ („Sgt. Pepper“),
Frank Zappa („200 Motels“) oder Elvis Presley („Heartbreak Hotel“) zunutze. Die
Techniken
der
Montage
und
Collage
wurden
durch
Trickfilmtechniken
und
Computeranimation erweitert, so dass das Ergebnis eine Vermischung von Stilen
darstellt. So wurde es möglich, die Künstlerin Madonna in „Frozen“ (1998, Chris
Cunningham) mit Hilfe von Computeranimation in einen Hund oder einen Raben zu
verwandeln und sie durch die Wüste schweben zu lassen; und in einem Clip wie
„What It Feels Like For A Girl“ (2001, Guy Ritchie) scheinen sich die Grenzen
zwischen Clip und Spielfilm beinahe aufzulösen.
Aufgrund
der
Nutzung
neuester
Technologien
und
die
durch
den
musikalischen Rhythmus bedingten, schnellen Bildfolgen wurden Produzenten von
Musikvideos aber auch immer wieder mit dem Vorwurf der „Bilderflut“ oder
inkohärenter, traumartiger Gebilde konfrontiert. 32 Gegenstimmen weisen allerdings
darauf hin, dass Detailanalysen von Clips sowohl ein breites Spektrum an
verwendeten Filmtechniken zum Vorschein bringen, als auch über mehr Kohärenz
verfügen, als von den Kritikern behauptet wird. 33
31
Zentrales Anliegen der Clips liegt in der Vermittlung der Personality des Stars: Die Botschaft ist das
Produkt, das der Star ist. Vgl. Daniels, A.: „Die Genesis eines Popvideos“, in: Bódy, V./Weibel, P.
(Hrsg.): Clip, Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, Köln 1987, S. 182-195.
32
Vgl. Kaplan, E.A.: Rocking Around the Clock. Music Television, Postmodernism and Consumer Culture,
London 1987. Vgl. auch Neumann-Braun/Schmidt 1999, S.13 f.
33
Dennoch ist die Mehrheit der Clips, die in den Musiksendern in der „heavy-rotation“ präsentiert
werden, weit davon entfernt, ambitioniert zu sein und sind vom Selbstverständnis her als Werbefilme
konzipiert: Die visuelle Verpackung erscheint oftmals ohne innere Beziehung zur Musik, aufgeladen mit
Klischees und Metaphern. In diesen Fällen dominiert die verkaufsfördernde Funktion der Clips die
Verwirklichung eines ästhetischen Konzepts.
19
1.3.2 Das Zusammenspiel von Bild, Musik und Starinszenierung
Musikvideos unterscheiden sich unter anderem von Filmmusiken dadurch,
dass sie der Musik folgen, wohingegen Filmmusik der Filmhandlung folgt. Dabei hat
die Musik ― ihre Form, ihr Rhythmus und ihr Sound ― ordnungsstiftende Funktion
innerhalb des Clips.
Zur Musik und ihrem Text können Bilder auf die unterschiedlichste Weise in
Beziehung
gesetzt
werden,
wodurch
sich
komplexe,
synchronisierte
oder
gegenläufige bzw. widersprüchliche Verweisungszusammenhänge zwischen Musik,
Text und Bild ergeben. Die Bilder können allerdings auch von der Musik relativ
unabhängige Wirkungen erzielen: Das Visuelle erzeugt Bedeutungen, die über die
Musik hinausgehen, so dass oftmals auch dem Bild im Clip Vorrang vor der Musik
als ordnungsstiftendendes Element eingeräumt wird. 34
Das Ergebnis aller Möglichkeiten, die sich bieten, ein Musikvideo zu
gestalten, führen zu einer für die Gattung des Musikclips charakteristischen
Polysemie.
So
muss
eine
Clipsanalyse
die
Beziehungen
zwischen
den
unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen: Musik, Bilder und Songtexte, werden sie
als Sprache oder sprachähnliche Gebilde verstanden, erzählen eine je eigene
Geschichte, wobei sich die Geschichten wechselseitig verstärken, hemmen oder
widersprechen können. So wird die Analyse der Madonna-Videoclips verdeutlichen,
dass Musik und Text bei ihr eine eher untergeordnete Rolle spielen und es legitim
erscheint,
Madonna
vor
allen
Dingen
über
ihre
visuelle
Inszenierung
zu
beschreiben.
Zentrales Element der Gattung Videoclip ist allerdings die Starinszenierung,
auf die sich Musik und Bild in den meisten Fällen als ordnungsstiftende Funktionen
beziehen. So ist Madonna in all ihren Videoclips Hauptakteurin, um die herum sich
das Geschehen abspielt.
Clips stehen zwar ― wie oben ausgeführt ― im Dienst der Musik, doch in
avancierten Clipproduktionen einiger renommierter Regisseure ― Julian Temple,
Hype Williams, Spike Jones, Chris Cunningham oder Michel Gondry ― sind
Tendenzen erkennbar, dieses Verhältnis umzukehren. So scheint bei einer Reihe
der oben angeführten Clipregisseure, die oftmals auch in Kinofilmen Regie führen ―
wie etwa Spike Jones, der 1999 „Being John Malkovitch“ drehte ―, die Musik nur
34
Vgl. Sierek, K.: „Monolog und Ekstase ― Zum Bildbau im Musikclip“, in: Faulstich, W./Schäffner, G.
(Hrsg.): Die Rockmusik der 80er Jahre, 4. Lüneburger Kolloquium der Medienwissenschaften, Bordowick
1994, S. 186-197.
20
noch Soundtrack zu sein. 35 In dem am Ende dieser Arbeit analysierten Clip „What It
Feels Like For A Girl“ (Kap. 2.4) von Guy Ritchie wird sehr deutlich, was Olaf Karnik
meint, wenn er von „Picture Pop“ spricht, oder anders gesagt: „Video directors
reprove what good film directors knew all along ― that visuals can also be music.
When executed with élan, an edit becomes a backbeat, a crane shot a solo, a closeup a hook.” 36
1.4
Rezeption und Verstehen von Videoclips
In
Anbetracht
der
in
den Musikvideos
enthaltenen
Komplexität
und
Vieldeutigkeit stellt sich die Frage nach ihrer Rezeption durch ein vor allem
jugendliches Publikum. Untersuchungen hinsichtlich der Rezeption von Musikclips
und der Nutzung von Musikkanalsendern haben bislang ergeben, dass sich der
Rezeptionsprozess vornehmlich an der Musik und weniger an den Bildern orientiert.
Letztere dienen Teenagern eher als Illustrationen zur Musik und weniger als
narrativ strukturierte Szenen einer eigenständigen Filmhandlung.
Ein weiterer Gegenstand der Untersuchung bei der Rezeptionsanalyse stellt
die Untersuchung der Wahrnehmung und Verarbeitung der in den Videoclips
präsentierten Geschlechterrollen dar. Es wird unterschieden zwischen „maleadressed-videos“ und „female-adressed-videos“. 37 So haben Inhaltsanalysen von
Musikclips gezeigt, dass häufig traditionelle Geschlechtsrollenstereotype, Sexismus
und
Aggressivität
präsentiert
werden.
So
wurde
Madonna
oftmals
von
Feministinnen der Vorwurf gemacht, mit der Zurschaustellung ihrer Sexualität
bestehende Geschlechterrollenklischees zu festigen und sich dem männlichen Blick
zu unterwerfen. Die in den Videoclips angelegte Mehrdeutigkeit ermöglicht
andererseits aber auch eine emanzipatorische Lesart. Die Ambivalenz vieler
Madonna-Clips besteht gerade in der Verwendung sexuell aufgeladener Bilder in
Verbindung mit der Proklamation weiblicher Macht, und eben nicht in der Erfüllung
hegemonialer Machtstrukturen, wie die Darstellung der Clips zeigen wird.
Feministische Analysen sprechen dem Phänomen Musikvideo ― wegen ihrer
engen Bindung zum Pop ― ein enormes emanzipatorisches Potential zu, durch das
es möglich wäre, Männlichkeits- und Weiblichkeitsstereotype aufzubrechen, um auf
35
Vgl. Karnik, Olaf: „Musikvideo ― Hybrid im Spannungsfeld von Popmusik und Kurzfilm, Musikindustrie
und Musikfernsehen“, aus: http://www.miz.org/musikforum/mftxt/mufo9414.htm; Zugang: 18.11.2003.
36
Farber, Jim: „The 100 top music videos“, Rolling Stones, October 14/1993, in: Reiss,
Steve/Feinemann, Neil (Hrsg.): Thirty Frames Per Second. The Visionary Art Of The Music Video, New
York: Abrams 2000, S. 24. Vgl. auch Karnik 2003.
37
Lewis, L. A.: Gender Politics and MTV: Voicing the Difference, Philadelphia 1990.
21
diese Weise Kritik an der patriarchalen Gesellschaftsordnung zu üben. Doch um die
idealtypische Dichotomisierung von Rock und Pop und die damit verbundene
stereotype Assoziation mit Männlichkeit und Weiblichkeit zu stützen ― denn auch
auf das Genre Videoclip sei das Konzept des „male-gaze“ der feministischen
Filmtheorie zu übertragen ―, werde auf traditionelle Konstruktionsweisen der
Geschlechterdifferenz
zurückgegriffen
und
das
kulturelle
Zweigeschlechtlichkeit im Musikfernsehen laufend reproduziert.
38
System
der
Gegenstimmen
verweisen gerade auf den symbolischen Machtgewinn des weiblichen Geschlechts,
der dadurch entstehe, dass Frauen in den Clips ihre Sexualität in sonst Männern
vorbehaltener Weise inszenieren, was Madonna in ihrem „Express Yourself“Videoclip exemplarisch demonstriert. 39
Untersuchungen haben in diesem Zusammenhang ergeben, dass Musikclips
je nach Geschlecht, 40 ethnischer Zugehörigkeit, Alter, allgemeiner Medienerfahrung
und
familiär
geprägtem
Umgangsstil
mit
Medien
sehr
unterschiedlich
wahrgenommen und verstanden werden können. Es muss also davon ausgegangen
werden, dass es sich bei den Rezipienten nicht um eine homogene Gruppe handelt
und Videoclips folglich unterschiedliche Wirkungen haben können. So werden auch
Erfahrene im Umgang mit Videoclips manche Bilder ― und ganz besonders Zitate ―
anders entschlüsseln als Unerfahrene. So verwundert es auch nicht, dass MadonnaClips von ihren Fans positiv, von ihren Gegnern kritisch beurteilt werden. Das
Phänomen der Möglichkeit verschiedener Lesarten wird durch die heterogene
Rezipientengruppe hervorgerufen.
Kennzeichnend für den Videoclip ist ein offenes Zeichenangebot, das nicht
nur eine einzig „richtige“ Interpretation erlaubt, sondern mehrere Lesarten, die vom
Betrachter aktiv bei der Rezeption konstruiert werden. Voraussetzung ist hierbei
eine mehrdeutige Adressierung, d.h. die Gewährleistung von Anknüpfungspunkten
für seine Erfahrungen und Vorlieben. Videoclips sind „unfertige“ Texte, was sie zu
einem populären Medium macht, und verlangen einen aktiven, partizipierenden und
produktiven Leser, der aus den Bildern des Clips seine Erzählung konstruiert. 41
38
Vgl. Bechdolf, U.: „Music Video Histories. Geschichte ― Diskurs ― Geschlecht“, in: Hackl, C./Prommer,
E./Scherer, B. (Hrsg.): Models und Machos? Frauen- und Männerbilder in den Medien, Konstanz 1996, S.
277-299. – Weitere Literaturangaben siehe: Neumann-Braun/Schmidt 1999, S. 25.
39
Vgl. Turim, M.: “Gesang der Frauen, Gesten der Frauen”, in: Frauen und Film 58/59 1996, S. 25-43.
40
Vgl. Müller, Renate: „Geschlechtsspezifisches Umgehen mit Videoclips: Erleben Mädchen Videoclips
anders?“, in: Kaiser, Hermann J. (Hrsg.): Geschlechtsspezifische Aspekte des Musiklernens, Essen:
Musikpädagogische Forschung Bd. 17 1996, S. 73-93.
41
Vgl. Fiske, John: Lesarten des Populären. Cultural Studies Bd. 1 (1989), hrsg. von: Lutter,
Christina/Reisenleitner, Markus, Wien: Löcker Verlag 2003.
22
Ramona Curry hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass Inhalte von
Clips und deren Wirkungen auf das Publikum nicht isoliert betrachtet werden
können, sondern in ihrer Intertextualität, d.h. in ihrer multimedialen Einbettung,
interpretiert werden müssen. 42 Intertextualität wird unter Zuhilfenahme des
Konzepts der Transtextualität des Linguisten Gérard Genette definiert, die die
Relation zwischen zwei oder mehreren Texten innerhalb des zu analysierenden
Textes beschreibt. Neue Bedeutungen entstehen dadurch, dass Bekanntes anders
arrangiert und kontextualisiert wird. Die These der Intertextualität bzw. der
Offenheit und Globalität popkultureller Texte zeige sich insbesondere daran, dass
Rezipienten mit kulturell völlig verschiedenen Hintergründen ähnliche Bezüge
herstellen und außerdem in der Lage seien, kulturspezifische Interpretationen zu
erarbeiten. 43
In Bezug auf die Rezeption von Madonna-Videoclips bedeutet dies, dass die
Bedeutung, die ein Rezipient einem Clip zuschreibt, immer auch von der Bedeutung
anderer Texte über Madonna bestimmt wird. Demnach ist die Rezeption eines
Madonna-Clips immer auch in einem Verhältnis zu Madonnas Image zu sehen, das
sich
aus
vielen
verschiedenen
Texten
zusammensetzt
(Radio,
Fernsehen,
Videoclips, Konzertmitschnitte, Presseberichte etc.).
Das
in
verschiedener
diesem
Kapitel
Lesarten
eines
angesprochene
Videoclips
Phänomen
spielt
im
der
Hinblick
Möglichkeit
auf
den
Gültigkeitsanspruch einer Clip-Interpretation eine entscheidende Rolle; denn als ein
synästhetisches Phänomen spricht der Videoclip gleichzeitig die auditive und
visuelle Wahrnehmung an, und ruft bei jedem einzelnen Rezipienten jeweils
unterschiedliche Assoziationen, sowohl auf visueller als auch auf auditiver Ebene,
hervor. Allgemeingültigkeit für eine Videoclipanalyse zu erheben ist vor dem
Hintergrund der Betrachtung des Videoclips als audiovisuelles Medium nicht
möglich.
42
Curry 1999, S. 175-204.
Diese Schlussfolgerungen erinnern an Äußerungen, die in der Bildersprache eine Möglichkeit sehen,
grenzüberschreitend, kulturunabhängig und weltweit Kommunikation gewährleisten zu können:
„Während die geschriebenen Sprachen die Menschen innerhalb ihrer eigenen kulturellen Monaden
einschlossen, wird die Sprache des technologischen Menschen, indem sie sich aller Kulturen dieser Welt
bedient, zwangläufig jene Medien bevorzugen, die am wenigsten national sind. Deshalb steht die
Bildersprache wie ein unbenutztes Esperanto zur Verfügung. Diese [Bildersprachen] überschreiten
mühelos die Länderbarrieren so leicht wie Chaplin oder Disney und scheinen konkurrenzlos als kulturelle
Grundlage des kosmischen Menschen.“ Mc Luhan, Marshall: „Das Medium ist die Message“, in: Baltes,
Martin/Höltschl, Rainer (Hrsg.): Absolute Marshall Mc Luhan, Freiburg: orange press 2002, S. 106.
43
23
1.5
Der Videoclip als audiovisuelles Medium: „BilderHören und
MusikSehen“ oder „Bilderwelt der Klänge ― Klangwelt der
Bilder“ 44
Der Videoclip als eine Synthese von Musik und Bild ist nicht neu: Die
Verschmelzung von Ton und Bild kann auf eine lange kulturhistorische Tradition
zurückblicken und basiert auf der Tatsache, dass menschliche Wahrnehmung
generell auf der Komplementarität von Auge und Ohr beruht, d.h. intermodal
angelegt ist. Als Beispiele für intermodale Wahrnehmung kann auf „archaische
Kulturen mit ihren ganzheitlichen Lebensformen und die direkte Verknüpfung von
Musik und Kult verwiesen [werden]“ 45 , auf das alte China und dessen Zuordnung
von Tönen und Jahren zu Jahreszeiten, auf die griechische Antike mit ihrem „Prinzip
der
kosmischen
Weltordnung
und
der
Kongruenz
von
Zahlenverhältnissen,
Intervallen, Zusammenklängen mit der Harmonie der Sphären.“ 46 Um 350 v.Chr.
wies Aristoteles bereits darauf hin, dass der Mensch über einen übergeordneten
Sinn verfüge, der die Wahrnehmung der einzelnen Sinne koordiniere. 47
Diese
in
der
Antike
entstandenen,
universalästhetisch-philosophischen
Konzeptionen hatten bis in das europäische Mittelalter und die beginnende Neuzeit
Bestand, was sich z.B. in dem 1650 vorgenommenen Versuch widerspiegelt, „die
Identität von Licht und Schall auf der Grundlage von übereinstimmenden
Zahlenverhältnissen bzw. Intervallen zu erklären“, 48 oder auch in den Bemühungen
Isaac Newtons (1704), die Zusammenhänge zwischen den sieben Spektralfarben
und den sieben Tönen der diatonischen Skala darzustellen, was Louis-Bertrand
Castel dazu veranlasste, ein Farbenklavier zu konstruieren (1725). 49
Sehen und Hören sind folglich von jeher auf das engste miteinander
verknüpft und aufeinander bezogen. Die audiovisuelle Konzeption des Videoclips
macht sich die Deutungsvielfalt zu eigen, die das Hören von Musik bei jedem
44
Mit dieser Kapitelüberschrift und in den folgenden Ausführungen beziehe ich mich im Wesentlichen
auf: Geuen, Heinz: „BilderHören und MusikSehen: Musikverstehen im Medienkontext“, unveröffentlichter
Vortrag im Rahmen der Arbeitstagung „Jugend, Kultur und Kreativität. Suche nach neuen Praktiken des
Lernens und Lehrens“ vom 18.-20. Juli 2005 an der Musikhochschule Köln. Außerdem: Rösing, Helmut:
„Bilderwelt der Klänge, Klangwelt der Bilder. Beobachtungen zur Konvergenz der Sinne“, in: Helms,
Dietrich/Phleps, Thomas (Hrsg.): Clipped Differences. Geschlechterrepräsentationen im Musikvideo,
Beiträge zur Popularmusikforschung 31, Bielefeld: transcript 2003, S. 9-25.
45
Rösing 2003, S. 10.
46
Ebd.
47
Vgl. Hurte, Michael: Musik, Bild, Bewegung. Theorie und Praxis auditiv-visueller Konvergenzen, Bonn:
Verlag für Systematische Musikwissenschaft 1982. Zit.n. Ebd.
48
Ebd., S. 19.
49
Vgl. Ebd., S. 10 f.
24
Einzelnen hervorruft. Denn alle musikalischen Schallereignisse, die ein Hörer in
einer bestimmten Situation aufnimmt, stehen, so Helmut Rösing, in einer
„Wechselbeziehung mit dem bisherigen Musikkonzept und mit dem allgemeinen
Erfahrungsinventar
einer
Person,
Schemata und Prototypen“.
50
mit
emotionalen,
assoziativen,
kognitiven
Wie ein erklingendes Musikstück bewertet bzw.
verstanden und in den eigenen Erfahrungshorizont integriert wird, hängt von der
jeweiligen Sozialisation ― mit den Variablen Alter, Geschlecht, Familie, Ausbildung,
soziales Milieu, Medien etc. ― ab. In einem Videoclip als spezifisch audiovisuelles
Medium illustrieren die Bilder nicht einfach die Musik oder den Text, sondern
beeinflussen ihrerseits durch ihre Bedeutungen und die durch sie ausgelösten
Assoziationen die Musik und den Rezipienten. 51
Je
nach
Schwerpunktsetzung
der
Aufmerksamkeit
gegenüber
dem
audiovisuellen Gesamtgeschehen ändert sich die Wahrnehmung des Rezipienten: Je
nach Aufmerksamkeitszuwendung beeinflusst Musik die Bildwahrnehmung oder
aber die Bilder die Musikwahrnehmung. Durch die Musik z.B. fokussiert der
Rezipient seine Aufmerksamkeit, was dazu führen kann, dass er aus dem gesamten
visuellen
Informationsangebot
nur
einen
bestimmten
Ausschnitt
bewusst
wahrnimmt. Somit beeinflusst die erklingende Musik die Wahrnehmung des
visuellen Geschehens. Das gleiche ist natürlich auch im umgekehrten Falle denkbar:
Dadurch, dass sich der Rezipient bewusst auf ein visuelles Geschehen fokussiert,
wird auch nur ein Teil der Musik und ihrer Strukturen wahrgenommen und in Bezug
zum Bild interpretiert. Damit beeinflusst das filmische Geschehen die Bedeutung
der Musik.
Somit ist die Struktur eines multimedialen Produktes wie dem Videoclip
durch eine Informationsdichte gekennzeichnet, die den Rezipienten zu einer
Aufmerksamkeitsfokussierung zwingt. Jeder Rezipient nimmt demnach anders wahr
und verfügt über eigene Assoziationen. Eine vorgenommene Interpretation kann
50
Ebd., S. 13.
Heinz Geuen bemängelt in seinem Vortrag die nur sehr zurückhaltende Bereitschaft der
musikwissenschaftlichen Forschung, sich mit der doch so offenkundigen Bildgeprägtheit der
musikalischen Wahrnehmung, den Aspekten der Medialität und Performanz zu befassen und sich nur
zögerlich für kulturwissenschaftliche Diskurse und neue methodische Anätze zu öffnen. Als
richtungsweisend bezüglich einer Bild-Musik-Forschung betrachtet er die Habilitationsschrift
„BilderMusik“ des Bonner Musikwissenschaftlers Anno Mungen aus dem Jahre 2001, der „das die
Kunstmusik des 18. und 19. Jahrhunderts bestimmende Paradigma absoluter Musik deutlich relativiert.“
Denn die „Verknüpfung von Instrumentalmusik mit medialen Inszenierungen [...] entsprach spätestens
seit Beginn des 19. Jahrhunderts einem offensichtlich starken Bedürfnis, ‚semantische Leerstellen’ zu
füllen und die Aufführung von Musik auratisch zu stärken.“ Diese Arbeit sei deshalb ein wichtiger Impuls,
weil sie aufzeigt, dass Musik – entgegen dem überlieferten Paradigma der absoluten Hörkunst – immer
auch eine Medienkunst war. Eine musikwissenschaftlich verortete Auseinadersetzung mit dem
Gegenstand Videoclip befindet sich deshalb erst in den Anfängen. Vgl. Geuen 2005.
51
25
und darf demnach nicht zu einer Verabsolutierung führen. Sie kann immer nur ein
Interpretationsangebot darstellen, das mitunter auch zeitgeschichtlich bedingt ist.
Im Videoclip, der sich durch das Zusammenspiel von Musik, Sprache und
bewegten
Bildern
Unschärferelation“
52
auszeichnet,
um
Wahrnehmungsobjekt
ein
enthält,
erhöht
Vielfaches.
umso
sich
Denn
vielfältiger
je
sind
die
„interpretatorische
mehr
Dimensionen
ein
die
Assoziations-
und
Verknüpfungsmöglichkeiten, bei denen sowohl intra- als auch intersubjektive
Erfahrungen berücksichtigt werden.
1.6
Methodisches Vorgehen in dieser Arbeit
Bei den im folgenden Kapitel vorgenommenen Videoclipanalysen liegt die
Schwerpunktsetzung der Aufmerksamkeit auf dem visuellen Geschehen; denn Ziel
dieser
Arbeit
ist
die
Darstellung
von
Madonnas
wechselnden
Weiblichkeitsinszenierungen auf visueller Ebene. Die analytische Ebene der Musik
tritt hierbei in den Hintergrund, obgleich sie in allen hier analysierten Clips narrativstrukturierende Funktion hat und in ihrem jeweiligen Ausdruck die Aussage der
Bilder unterstreicht.
Unter
Berücksichtigung
der
angeführten
Hinweise
Ramona
Currys
hinsichtlich der Intertextualität postmoderner Texte wird davon ausgegangen, dass
Textbedeutungen nicht allein durch die Erfahrung eines Lesers ― im Falle von
Videoclips des Zuschauers und -hörers ― beim Lesen eines einzelnen, in sich
geschlossenen
Textes
entstehen.
Die
Bedeutungen
eines
Videoclips,
als
postmoderner Text betrachtet, werden hingegen von dem Leser aus seiner
diskursiven Rezeption im Zusammenhang mit mehreren Texten, die mit diesem in
Verbindung stehen, erschlossen. Im Fall von Madonna bedeutet dies, dass das
Verständnis eines Clips nie unabhängig von Madonnas Image als Star zu sehen ist.
Ein „Starimage“ ― auf der Grundlage der Analyse der Entstehung und Aufnahme
von Starimages nach Richard Dyer 53 ― setzt sich aus vielen verschiedenen Texten
zusammen: Madonnas Starimage entsteht aus ihren Auftritten in verschiedenen
Medienformen ― Schallplatten (CD), Radio, Videoclips, Konzerten und deren
Mitschnitten, aus Filmen und öffentlichen Auftritten in Talkshows und Werbespots,
sowie der ständigen Kommentierung von Madonnas Aktivitäten und Auftritten in der
Tages- und Boulevardpresse.
52
Rösing 2003, S. 22.
Vgl. Dyer, Richard: Stars, London 1979, insbesondere S. 38-72; vgl. auch: Ders.: Heavenly Bodies:
Film Stars and Society, New York 1986.
53
26
Aus diesem Grund wird dem jeweiligen Clip, der im Zentrum der Analyse
steht, eine Skizzierung des jeweiligen Madonna-Images vorangestellt. Wie sich
zeigen wird, gibt das jeweilige Cover des Albums bereits aufschlussreiche
Informationen über die jeweils dominanten Konstruktionselemente des MadonnaImages der jeweiligen Phase.
2.
DIE MACHT DER IMAGEWECHSEL
2.1
BURNING UP (1983)
Bei dem 1983 entstandenen Musik-Video zu „Burning Up“ handelt es sich um
den ersten Videoclip zu einem Madonna-Song, der von MTV gesendet wurde.
Gleichzeitig fällt seine Entstehung in die Phase vor dem künstlerischen Durchbruch
der Sängerin in die Top Ten der Charts, der ihr allerdings noch im selben Jahr mit
„Holiday“, der vierten Singleauskopplung aus ihrem Debütalbum, gelang.
Schon 1978 ging Madonna ― nach abgebrochenem Tanzstudium in
Michigan 54 ― nach New York, wo sie ― finanziert durch Gelegenheitsjobs 55 ―
darum bemüht war, ihre Karriere voranzutreiben. Mit der Unterstützung der
Tanzclub-DJs Mark Kamins und Jellybean Benitez gelang es ihr 1982 schließlich,
ihren ersten kleinen Plattenvertrag bei Sire Records abzuschließen, „wo Warner
Brothers die Leute [unterbrachten], von denen sie nicht glauben, daß sie sich
verkaufen werden“ 56 . Der Vertrag bezog sich zunächst nur auf die beiden Singles
„Ain’t No Big Deal“ und „Everybody“. Nachdem „Everybody“, zu dem man allerdings
lediglich einen firmeninternen Promotion-Clip herstellte, ein Erfolg in den DanceCharts wurde, entschloss man sich, auch die zweite Single, „Burning Up“, zu
produzieren.
Ein kurzer Einblick in das New York der späten 1970er und beginnenden
1980er Jahre soll einen Eindruck von den Hintergründen und der Stimmung
54
Geboren am 16. August 1958 in Bay City, Michigan, als das sechste von acht Kindern, beginnt
Madonna nach der High School mit einem Begabten-Stipendium ein Studium des klassischen und
modernen Tanzes an der University of Michigan Ann Arbor, das sie anderthalb Jahre später, im Juli 1978,
abbricht. Vgl. Bullerjahn, Claudia: „Populäres und Artifizielles in den Musikvideos von Madonna“, in:
Bullerjahn, C./Erwe, H.-J. (Hrsg.): Das Populäre in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesenszüge und
Erscheinungsformen, Hildesheim u.a.: Georg Olms Verlag 2001, S. 209.
55
So tanzte sie am Alvin Ailey Dance Theatre und in der Pearl Lang Dance Company, finanzielle Nöte
zwangen sie zur Annahme von Nebenjobs, etwa die Arbeit als Aktmodell in Kunsthochschulen und für
einzelne Künstler und Fotografen. Vgl. Bullerjahn 2001, S. 209.
56
Countdown Magazin, Special Annual 2/1985, zit. n. Fiske, John: Lesarten des Populären. Cultural
Studies Bd. 1, hrsg. von Lutter, Christina/Reisenleiter, Markus, Wien: Erhard Löcker Verlag 2003, S.
103.
27
vermitteln, die Ausgangspunkt für Madonnas Karriere waren und die ihren Stil und
ihr erstes Image entscheidend geprägt haben.
2.1.1 Das New York der 1970er / 1980er Jahre: Von der Tänzerin zur
Musikerin ― Clubszene ― erster Plattenvertrag
Entscheidend für Madonnas Entwicklung
ist
die
Tatsache,
dass
sich
Manhattan gegen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zum „Dreh- und
Angelpunkt
der
Musikindustrie“ 57
entwickelte.
Die
Tänzerin
Madonna
lernte
Schlagzeug und Gitarre zu spielen, sang ein halbes Jahr als Backgroundsängerin in
der Gruppe von Patrick Hernandez 58 , mit der sie schließlich nach Paris und andere
europäische
Städte
reiste,
während
sie
gleichzeitig
weiterhin
Tanz-
und
Gesangsunterricht nahm. Zurück in New York engagierte sie sich als Schlagzeugerin
und Sängerin in der Band Breakfast Club, die sie allerdings wegen Streitigkeiten
verließ, um ihre eigene Band, Emmy, zu gründen. 59
Die Erfahrungen, die sie als Musikerin und durch kleinere Engagements als
Backgroundsängerin sammelte und die ihr erste Tonstudioerfahrungen einbrachten,
spielten sich in einem New York ab, in dem eine kulturelle Entwicklung ihrem
Höhepunkt zustrebte, die sich „in der zwielichtigen Atmosphäre der AfterhoursKlubs am unteren Ende des Broadway in den schwarzen Schwulendiskos und
Drogenkellern zusammengebraut hatte“ 60 und den Namen „Disco“ trug. Ihre
Quellen waren vielfältig und hatten eine Mischung aus Musik, Mode, Lifestyle, Sex
und Drogen hervorgebracht, die in einem „ekstatischen Tanzkult“ 61 ihren Ausdruck
fand, bei dem der „Selbstgenuss der eigenen Körperlichkeit“ 62 im Vordergrund
stand.
Die
Nachtclubszene
Manhattans,
ein
Melting
Pot
verschiedenster
subkultureller Milieus, wie der der Homosexuellen, Afroamerikaner, Puertoricaner
und anderen Minderheiten, der allerdings auch anderen zugängig war, machte die
Körperkulte der Schwulendiskos „salonfähig“, und trug dazu bei, dass sie sich zur
einer Massenbewegung des Mainstream entwickeln konnten. Das „Studio 54“ etwa
entwickelte sich zu einem jener inzwischen legendären Disco-„Paläste“, in denen
Madonna als Go-Go-Girl, Backgroundsängerin und -tänzerin für Hernandez auftrat,
57
Vgl. Bego, Mark: Madonna. Who’s That Girl? Andrä-Wördern 1992, S. 51-57; zit.n. Bullerjahn 2001, S.
209.
58
Patrick Hernandez, puertoricanischer Sänger und DJ, hatte 1979 mit dem Song „Born to Be Alive“
einen gigantischen Hit gelandet und tourte seitdem um die Welt. Vgl. Wicke, Peter: Von Mozart zu
Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag 1998, S. 274.
59
Vgl. Bullerjahn 2001, S. 209 f.
60
Wicke 1998, S. 269.
61
Ebd.
62
Ebd.
28
bevor sie selbst 1982 mit ihrem bereits erwähnten Solo-Debüt „Everybody“ einen
Dancefloor-Hit landete.
So schien das New York am Ende der 1970er Jahre für Madonna wie
geschaffen zu sein, ihre Extrovertiertheit auszuleben: Als Tänzerin verfügte sie über
ein besonderes Körperbewusstsein, das sie in einer Umgebung, in der die
körperliche Inszenierung im Vordergrund stand, gezielt einsetzen konnte. Sowohl
ihre Ausbildung als Tänzerin als auch der Einfluss dieser New Yorker Anfangszeit, in
der der Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen zu einer Quelle der Inspiration
wurde, haben ihre künstlerische Entwicklung als Sängerin bzw. Performerin stark
beeinflusst, wie in vielen ihrer Videoclips 63 und auch in Mitschnitten ihrer
Konzerttourneen 64 ersichtlich ist.
Anfang der 1980er Jahre gehörte Madonna einer New Yorker Clique an, die
sich aus jungen Künstlern, Sängern und Performern zusammensetzte. 65 Man traf
sich in den Clubs, die als Treffpunkt als auch als gemeinsames „Büro“ fungierten:
Man kam dort zusammen, um zu tanzen, sich zu amüsieren und Beziehungen zu
knüpfen. Die angesagtesten Clubs der 1980er Jahre - ein Sammelbecken für
aufstrebende Künstler und Musiker 66 - waren die „Danceteria“, das „Roxy“ und der
„Mudd Club“. 67 Madonnas Freundeskreis, der ebenfalls in diesen Clubs zuhause
war 68 , lieferte starke künstlerische Impulse und erweiterte darüber hinaus ihr
Interesse an der bildenden Kunst. Niederschlag findet dieser Einfluss zum einen in
zahlreichen Videoclips, in denen sie mit kunst- 69 und filmhistorischen Zitaten 70
arbeitet, zum anderen aber auch in ihrem fortlaufenden ― äußerlichen ―
63
So z.B. in „Borderline“, „Open Your Heart“, „Like A Prayer“, „Vogue“ oder „Secret“, um nur einige zu
nennen.
64
So handelt es sich bei der Mehrheit ihrer Tänzer, die sie auf ihren Konzerttourneen begleiten, um
Homosexuelle, Schwarze und andere nicht-weiße Minderheitengruppen. Siehe z.B. „The Girlie Show“.
65
Vgl. Morton, Andrew: Madonna, Frankfurt a.M.: Krüger Verlag 2002, S. 176 ff.
66
Wie z.B. die Beastie Boys, Grandmaster Flash oder der schwarze Graffiti-Künstler Jean-Michel
Basquiat, mit dem Madonna 1983 ein Verhältnis haben sollte, der 1988 im Alter von 27 Jahren an einer
Überdosis Drogen starb. Vgl. Morton 2002, S. 177 u. 197.
67
So arbeitete die englische Sängerin Sade an der Bar, der Graffiti-Künstler Keith Haring als Garderobier
in der Danceteria.
68
Dazu zählten die schon verstorbenen Künstler Andy Warhol, Keith Haring und Martin Burgoyne, die
Club-Besitzerin Erika Belle, Make-up Künstlerin, inzwischen Hollywoodschauspielerin Debi Mazar oder die
Modehändlerin Maripol. Vgl. Morton 2002, S. 177; siehe auch Bullerjahn 2001, S. 220. - Viele
Freundschaften Madonnas aus der New-York-Anfangszeit bestehen noch immer: So wirkte Debi Mazar in
vielen ihren Videoclips mit, zuletzt in „Music“, außerdem in „Papa Don’t Preach“ oder „True Blue“.
69
In „Open Your Heart“ und „Vogue“ verwendet sie z.B. Bilder der polnischen Malerin Tamara de
Lempicka. Vgl. Bullerjahn 2001, S. 224.
70
Einen Nachweis des „artifiziellen Charakters“ der Madonna-Musikvideos liefert Claudia Bullerjahn in
dem hier schon angeführten Artikel: Bullerjahn 2001, S. 203-268. Dem im Folgenden zu analysierende
Clip, „Express Yourself“ wird durch das Zitieren des Stummfilms „Metropolis“ ein besonders hoher
künstlerischer Wert zugesprochen. Weitere Filmzitate finden sich u.a. im Video zu „Material Girl“
(„Gentlemen Prefer Blondes“), „Oh Father“ (Szenen aus „Citizen Cane“) und „Ray Of Light“ (Zeitrafferund Zeitlupeneffekte aus „Koyaaniqatsi“). Vgl. Ebd., S. 223 ff.
29
Imagewechsel: von der Marilyn-Monroe-Imitation über Anlehnungen an Liza Minelli,
Marlene Dietrich, Rita Hayworth, Greta Garbo und Mae West bis hin zu einzelnen
Gesten Elvis Presleys oder sogar Michael Jacksons.
Die Vermarktung ihrer ersten Single „Eyerybody“ richtete sich an ein
modernes
Großstadtpublikum,
Puertoricanern
das
zusammensetzte.
sich
Aus
größtenteils
diesem
Grund
aus
Schwarzen
entschied
und
Madonnas
Plattenfirma Sire Records, die Single in der Kategorie „schwarze Dancefloor-Musik“
zu veröffentlichen und die Künstlerin selbst ― die sich kurz zuvor die Haare
blondiert hatte ― als schwarze Sängerin zu bewerben. Um das Marketing-Konzept
nicht zu gefährden, wählte man daher für das Cover von „Everybody“ ― im Oktober
1982 erschienen und produziert von Mark Kamins ― nicht etwa eine Fotografie der
Künstlerin selbst, sondern ein Bild von Downtown New York im Stil einer Hip-HopCollage (Anhang I, Abb. 10). 71
Zu Werbezwecken ließ Sire Records ein firmeninternes Video von einem
Auftritt Madonnas im „Paradise Garage“ 72 anfertigen, durch das auch dem Rest des
Werbeteams in ganz Amerika ein Eindruck von Musik und Darstellung der neuen
Künstlerin vermittelt werden sollte. Ed Steinberg, Betreiber der Rock-AmericaVideofirma, erhielt für diesen Auftrag ein Budget von 1500 Dollar ― ein Betrag, der
umso geringer erscheint, wenn man bedenkt, dass zur gleichen Zeit für Michael
Jacksons Videos bereits sechsstellige Summen ausgegeben wurden. 73 Obwohl allein
dieser Umstand zu belegen scheint, dass die Plattenfirma an einer Ausstrahlung des
Clips bei dem Musiksender MTV offensichtlich nicht interessiert war, ist zu
bedenken, das der Sender MTV selbst noch weit am Anfang stand und bis zu
diesem Zeitpunkt keine Tanz-Videos im Stil Madonnas ― einer Mischung aus
Gesang und Tanz ― in sein Programm aufgenommen hatte.
Steinberg hingegen erkannte die visuelle Wirkung Madonnas und verschickte
Exemplare des Videos an Nachtclubs in ganz Amerika. So hielt „Everybody“ im
November 1982 Einzug in die Dance-Charts und Wochen später schaffte es die
Single sogar auf Platz 1. Erst nach dem Erfolg von „Everybody“ schienen die
71
Vgl. Ebd., S. 210. – Die Entscheidung der Plattenfirma spiegelt die Realitäten jener Zeit wieder: Zu
Beginn der achtziger Jahre war die Popmusik in den USA noch in Kategorien unterteilt, die durch die im
Radio und in ein paar Fernsehprogrammen aufgestellten Playlists bestimmt wurden. Noch war die Zeit
nicht da, in der Diskjockeys in Clubs oder MTV im Fernsehen über Aufstieg oder Fall einer Single
entscheiden sollten. Vgl. Morton 2002, S. 189 f.
72
Das „Paradise Garage“, eine Downtown-Schwulendisco und ehemalige LKW-Werkstatt in Lower
Manhattan, hatte sich als subkultureller Gegenpol zum „Studio 54“ etabliert. Vgl. Wicke 1998, S. 274. Die Entscheidung des Regisseurs, das Video dort abzudrehen, hatte vor allen Dingen ökonomische
Gründe, denn dort konnte er kostenlos drehen. Vgl. Ebd., S. 194.
73
Vgl. Ebd., S. 193 f.
30
Plattenfirmen Madonnas Potential zu erkennen und konkurrierten miteinander
darum, die Künstlerin unter Vertrag zu nehmen. 74
So lässt sich feststellen, dass es Madonnas visuelle Präsentation war, die ihr
den ersten Erfolg verschaffte; denn ihre minimale Stimmkraft, ihr geringer
Stimmumfang und der sehr mädchenhafte Charakter ihrer Stimme wurden in den
Anfängen ihrer Karriere immer wieder stark kritisiert. Eine Bezeichnung wie „Minnie
Mouse on helium“ 75 bringt zum Ausdruck, dass das Interesse der Fans und Kritiker
an
Madonna
weniger
der
„Sängerin“
Madonna
galt
als
vielmehr
ihrer
provozierenden, visuell vermittelten „Verpackung“. Dieser Vorwurf prägt bis heute
den Madonna-Diskurs. Madonna, sich ihrer stimmlichen Schwäche und visuellen
Wirksamkeit bewusst, hat im Videoclip das Medium erkannt, das es ihr ermöglicht,
ihre Fähigkeiten gezielt einzusetzen und ihre Botschaften zu vermitteln.
Nachdem „Burning Up“, der Song für die zweite Single ― produziert von
Reggie Lucas von Warner Brothers ― Anfang 1983 aufgenommen worden war, gab
Sire den Dreh eines Videos in Auftrag, um für die Single zu werben. Dieses
Musikvideo, bei dem Steve Baron Regie führte, 76 „war Amerikas erste Einführung in
Madonnas berechnend sexuelle Präsentation und wurde bei MTV, die inzwischen mit
der Vorführung von Dance-Videos begonnen hatten, zu einem kleinen Hit.“ 77 Wie
die folgende Analyse des Clips zeigen wird, ist die durch die Bilder vermittelte
Botschaft, nämlich als Frau Macht und Kontrolle auszuüben, seit Beginn von
Madonnas Karriere Thema ihrer Videoclips.
Der schnelle Erfolg von „Burning up“ ― im März 1983 erschienen und kurz
danach auf Platz 3 der Dance-Charts ― veranlasste Madonnas Plattenfirma dazu,
die Produktion ihres Debüt-Albums in Auftrag zu geben, das bereits im Juli 1983
veröffentlicht wurde. 78 Die Abbildung des Konterfeis der Künstlerin auf Album- und
Singlecover (Anhang I, Abb. 01 und 11) ― letzteres eine Collage aus verschiedenen
74
Vgl. Ebd., S. 199.
Bullerjahn 2001, S. 211.
76
Steve Baron war durch die Produktion von Michael Jacksons „Billie Jean“-Video bekannt geworden.
77
Der erste „richtige“ Videoclip ― d.h. mit dem Ziel der Ausstrahlung bei MTV ―, erwies sich als eine Art
„Familienproduktion“: Martin Burgoyne entwarf das Cover für die Single, Debi Mazar wurde als
Maskenbildnerin für das Video engagiert, Maripol, die Madonna mit ihrem modischen Markenzeichen, den
Gummiarmbändern, bekannt gemacht hatte, war die Stylistin. Madonnas „Immer-mal-wieder-Lover“ Ken
Compton spielte den männlichen Part im Clip. Vgl. Morton 2002, S. 200 f.
78
Produziert wurde das Album von Reggie Lucas und Jellybean Benitez. Obgleich Madonna sich den
Soundvorstellungen der Plattenfirma zunächst fügte, traf sie schon in dieser frühen Phase ihrer Karriere
die Entscheidung, einige schon fertiggestellte Songs noch einmal abmischen zu lassen, die dann ― nun
ihren Vorstellungen entsprechend ― auf ihrem ersten Album erscheinen. Vgl. Bullerjahn 2001, S. 211.
75
31
Madonna-Portraits im Pop-Art-Stil ― und ihre zunehmende Präsenz auf MTV
machten die Diskussion um ihre Hautfarbe schließlich überflüssig.
2.1.2 Image
Das Image der jungen Madonna in dieser ersten Phase ihrer Karriere ist das
eines frechen, verführerischen, sexy und selbstbewussten Mädchens. Ihr Outfit, in
ihren ersten Videoclips zur Schau getragen und deutlich abzulesen an den Covern
ihrer ersten beiden Alben (Anhang I, Abb. 01 und 02), entwickelt in ihrer „NewYork-Anfangs-Pleite-Zeit“, ist gekennzeichnet durch eingerissene Second-HandKleidung, den freien Bauchnabel, Stofffetzen in auftoupiertem blondierten Haaren,
Leggins aus ihrer Tänzerinnenzeit, Spitzenhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern
und jeder Menge billigem Modeschmuck wie Gummiarmbänder ― ursprünglich
Treibriemen aus elektrischen Schreibmaschinen ―, Rosenkränze und Kruzifixe. Ihr
Stil zeigt sich als eine Mischung aus Hip Hop und Punk. Sie brachte „die
Begleitrituale ihrer strengen katholischen Erziehung auf die Showbühne und
stilisierte sich im Juli 1983 zur Promotion ihrer ersten LP mit Dutzenden von
Kruzifixen [...].“ 79 Ihre ersten Videos ― neben „Burning Up“ vor allem die
populäreren Clips zu „Lucky Star“ (Clip 02) und „Borderline“ ihres Debütalbums ―
und der 1985 in den Kinos laufende Film „Desperately Seeking Susan“ 80 , in dem die
Künstlerin die Hauptrolle spielte, haben die Verbreitung des Madonna-Looks
vorangetrieben, der schließlich weltweit von Mädchen und jungen Frauen kopiert
wurde. Erfolgsrezept für ihren großen Durchbruch 1984 mit ihrem zweiten Album
„Like A Virgin“ war eine provozierende Mischung aus Religion und Sexualität, die sie
in ihren Clips und ihren öffentlichen Auftritten zur Schau stellte: Zur Verleihung der
MTV Awards im September 1984 erschien sie ― wie in ihrem Videoclip zu „Like a
Virgin“ (Clip 03) ― in einem nur auf den ersten Blick bieder erscheinenden Outfit,
einem weißen Brautkleid, dessen Anblick aber durch den inzwischen berühmten
„Boy Toy“-Gürtel, das auftoupierte Haar und die Menge an wertlosem Modeschmuck
sowie großen Kruzifix-Ohrringen um so provozierender wirkte. Darin räkelte sie sich
auf der Bühne und ahmte in ihren Bewegungen unmissverständlich einen
Geschlechtsakt nach, womit sie zwar in erster Linie die anwesenden Kritiker und
das Publikum schockierte, in zweiter Linie aber nicht unwesentlich zur Steigerung
79
Graves, Barry/Schmidt-Joos, Siegfried/Halbscheffel, Bernward: Rock-Lexikon, Bd. 2, Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt Verlag 1998, S. 560.
80
1985, Regie: Susan Seidelman, dt.: „Susan...verzweifelt gesucht“, Madonna in der Rolle der „Susan“
an der Seite von Rosanna Arquette.
32
ihrer Popularität beitrug: „Es war der Auftritt, der ihre Karriere machte. Er zeigte,
dass sie clever genug war, zu wissen, wie sie die Kamera zu ihrem Vorteil nutzen
konnte.“ 81 Dieses Image wurde von ihr in den ersten Jahren ihrer Karriere
weitgehend beibehalten. Erst mit der Veröffentlichung ihres dritten Albums „True
Blue“ im Jahre 1986 vollzog Madonna die erste tiefgreifende Veränderung in ihrem
Auftreten.
2.1.3 Clipanalyse
Schon in Madonnas erstem Videoclip wird die Bedeutung der Bilder für die
Aussage des Songs und die Botschaft der Sängerin deutlich, was folgende
Ausführungen veranschaulichen werden.
Der Videoclip „Burning Up“ (Clip 01) zeigt eine Frau ― Madonna ― in einem
weißen Kleid. Auf einer dunklen, verlassenen Landstraße liegend, singt sie über die
Leidenschaft für einen Mann, der ihre Liebe offensichtlich nicht erwidert, während
sie ― sich auf dem Asphalt windend ― den hilflos leidenden Zustand ihrer
unerwiderten Liebe auch körperlich zum Ausdruck bringt. Den Besungenen sieht
man zur gleichen Zeit am Steuer eines Autos sitzend ― scheinbar auf der gleichen,
verlassenen dunklen Landstrasse ―, offensichtlich mit dem Vorsatz, die auf der
Strasse Liegende zu überfahren. Die unerwiderte Liebe, von der Madonna singt und
die sie in Gebärden der Hilflosigkeit und Unterwürfigkeit zum Ausdruck bringt,
scheint sie zu einem hilflosen Opfer zu machen. Die letzte Einstellung des Clips
allerdings zeigt Madonna selbst am Steuer des Wagens, mit einem wissenden und
verächtlichen Lächeln auf den Lippen. Der Mann, der sie zuvor zu überfahren
drohte, ist nicht mehr zu sehen.
Die Bilder des Clips, die durch die letzte Einstellung den Eindruck weiblicher
Hilflosigkeit
und
Unterlegenheit
zurückweisen,
erweisen
sich
somit
als
Gegenentwurf zum Text (Anhang II). So singt sie „Do you wanna see me down on
my knees? / Or bending over backwards now would you be pleased?”, wobei sie ―
eine aus dem Tierreich entlehnte Geste äußerster Unterwerfung nachahmend ― auf
der Straße kniet, sich nach hinten beugt, den Kopf zurückwirft und dem Betrachter
und ihrem virtuellen Angreifer ihren Hals präsentiert, ein Verhalten, durch das sie
sich zum symbolischen Opfer stilisiert. Der Ton ihrer Stimme und ihr Blick in die
Kamera haben hingegen nichts von dieser Unterwürfigkeit, sondern zeigen Härte
81
Arthur Baker, zit. n. Morton 2002, S. 213. - Die Single „Like A Virgin” sollte bis heute Madonnas
größter Hit werden, mehrere Platin-Schallplatten gewinnen und sich sechs Wochen lang an der Spitze
der Charts halten. Vgl. Ebd., S. 213.
33
und Verachtung, die ihrer Körpersprache zuwiderlaufen. Unter dem Eindruck von
Stimme und Blick wird die oben zitierte Frage so in eine Herausforderung
verwandelt.
Auf textlicher Ebene dient die Feuersymbolik als Ausdruck brennender Liebe
der Frau für den Mann: „I’m on fire“, „I’m burning up for your love“. Sie ist verliebt,
doch die Liebe wird nicht erwidert, weil sie als nicht stark genug empfunden wird:
„Don’t you know that I’m burning up for your love / You’re not convinced that that
is enough“, „And day and night I cry for your love / You’re not convinced that that
is enough“. Sie ist bereit, alles zu tun, damit er sie liebt und schreckt nicht einmal
davor zurück, sich dafür zu erniedrigen: „Unlike the others I’d do anything / I’m not
the same, I have no shame“. Sie ist eben “on fire”, und deshalb bereit, alles zu tun.
Auf textlicher Ebene begibt sie sich demnach in die Rolle der unterwürfigen
Frau, die darauf wartet, dass der Mann, den sie liebt, sie in ihrem Leid wahrnimmt
und sie aus ihrer Opferrolle erlöst. Als Opfer ihrer Gefühle ist sie diesen hilflos
ausgeliefert, womit ihr Verhalten scheinbar der stereotypen Vorstellung von der
verzweifelten, an Eisenbahnschienen gefesselten Frau in vielen Stummfilmen
entspricht. 82 Sie erniedrigt sich vor ihm, weil sie hofft, seine Liebe auf diese Weise
zu gewinnen und sie ist bereit, alles dafür zu tun, damit er die Liebe zulässt, die sie
in ihm erkennt: „I’m not blind and I know / That you want to want me but you can’t
let go.“
Die Sprache der Bilder ist allerdings eine andere. Zwar scheinen auf den
ersten Blick die Art und Weise, in der Madonna das Leiden über die unglückliche
Liebe durch ihre unterwürfige Haltung, das Liegen und Winden auf der Straße, zum
Ausdruck bringt, der stereotypen Vorstellung einer an der Liebe leidenden Frau und
damit der Aussage des Textes zu entsprechen. Ihr Umgang mit der Kamera, ihr
fordernder Blick und die Art und Weise, in der sie singt, unterlaufen allerdings eine
solche Lesart: Sie scheint die Erniedrigung als Lustgewinn zu empfinden,
ausgedrückt durch das fast schon masochistische Spiel mit der Kette um ihren Hals,
das sich insofern als ein Spiel mit der Opferrolle erweist, indem sie es selbst
kontrolliert und zur Förderung ihrer Lust einsetzt. Damit erfüllt sie nicht die passive
Rolle der von der Liebe enttäuschten Frau, denn sie fordert die Liebe ein, sie ist
aktiv, sie ruft auf. Auf diese Weise kann ihre Erniedrigung auch als Stärke
verstanden werden, denn sie verweigert die passive Opferrolle, die ihr durch ihr
82
Vgl. Fiske 2003, S. 115.
34
männliches Gegenüber zugeschrieben wird. Sie artikuliert ihren Schmerz, und dies
auf eine aggressive Art und Weise, was durch Stimme und Musik unterstützt wird.
Der Sound ist reduziert im Gegensatz zum Discosound der 1960er bzw.
1970er Jahre. Madonnas Stimme, die Text und Gesang deutlich artikulierend,
skandierend und bissig hervorbringt, erscheint relativ isoliert über einer Mischung
aus elektronischen Beats und Gitarrenriffs, in der der Einfluss von Punk bzw. New
Wave unüberhörbar ist. Dieser Mix ergibt in einem „kalten“ Sound, der der „kalten“
Szenerie entspricht: der glatt asphaltierten, staubig-grauen und menschenleeren
Straße in der Nacht, ein abweisender, kühler Ort, an dem romantische Liebe
offenbar keinen Platz hat. Auf diese Weise wird die Bedeutung des Textes
hervorgehoben und die fast schon aggressive Grundstimmung zum Ausdruck
gebracht, die der Rolle der Frau als Opfer ihrer unglücklichen Liebe widerspricht.
Diese Stimme fordert, zeigt Stärke und nichts von der Unterwürfigkeit ihrer
Gebärden. Somit entspricht der Soundcharakter auch der visuellen Erscheinung der
Sängerin, die sich in ihrem Outfit sehr punkig zeigt.
Madonna kehrt die konventionelle Mediendarstellung der romantischen Liebe
um: Sie übernimmt den traditionell männlichen Part. Sie ist diejenige, die bereit ist,
für die Liebe zu kämpfen, sie umwirbt den Mann. Im Vergleich zur romantischen
Vorstellung würde sie allerdings nie soweit gehen, sich dafür selbst zu opfern, wie
das Ende des Clips verdeutlicht.
Neben dieser emanzipatorischen Lesart des Clips ist es andererseits auch
möglich, Madonna auf die Sexualität ihres Körpers zu reduzieren, die der Clip
auszubeuten scheint, indem er sie in Posen der Unterwerfung zeigt. Die visuelle
Sexualisierung Madonnas befriedigt demnach gleichermaßen den männlichen Blick,
obgleich dieser die letzte Szene ausblenden muss und damit die Aussage des Clips
reduziert. Diese Möglichkeit der verschiedenen Lesarten ist typisch für MadonnaClips und trug erheblich zu ihrer Popularität bei. Die Mehrdeutigkeit ihrer Videos
macht mehrere Lesarten nebeneinander möglich. Es gibt nicht nur eine einzig
richtige Interpretation. Dies wird erreicht durch ein offenes Zeichenangebot und ist,
im Gegensatz zum klassischen Hollywoodfilm, ein typisches Merkmal für die
Gattung Videoclip, wie Claudia Bullerjahn konstatiert:
Eine mehrdeutige Adressierung an den Betrachter, das heißt die Gewährleistung von
Anknüpfungspunkten für seine Erfahrungen und Vorlieben, ermöglicht es jedem
Zuschauer, seine persönliche Interpretation des Musikvideos aktiv bei der Rezeption
zu konstruieren. 83
83
Bullerjahn 2001, S. 219. – Siehe auch Kap. 1.4 und 1.5 dieser Arbeit.
35
So ist es einerseits möglich, dass sich junge Frauen durch diesen Clip angesprochen
fühlen, eine Aufforderung darin sehen, selbstbewusst ihren Weg zu gehen, und dies
unabhängig von konventionellen Vorstellungen, die die hegemoniale Gesellschaft
vorgibt. Andererseits ist es auch möglich, dass ein männlicher Blick Gefallen an der
Präsentation
findet,
zuwiderläuft. Kritiker,
der
der
die in
feministisch-emanzipatorischen
Interpretation
Madonnas Videos eine Festigung bestehender
Rollenklischees erkennen, haben sie deshalb seit Beginn ihrer Karriere beschuldigt,
für Promiskuität bei Teenagern einzutreten, die Gier nach Macht und Materialismus
zu fördern und zum Verfall der Familie beizutragen. Feministinnen beschuldigen sie
des Revisionismus, der Wiederbelebung der manipulierten Frau, die sich mit
Koketterie und Künstlichkeit durchbringt. 84
Bei aller Kritik ist allerdings zu bedenken, dass es sich bei Videoclips intentional um
Werbefilme
handelt,
die
darauf
abzielen,
die
Verkaufszahlen
des
jeweils
angepriesenen Produktes, in diesem Fall der Marke „Madonna“ bzw. ihrer Platten, in
die Höhe zu treiben. „Sex sells“ ist eine Devise, die im 20. Jahrhundert nicht erst in
den 1980er Jahren in den Dienst ökonomischer Interessen gestellt wurde.
Madonna-Clips können also als eine Parodierung des „male-gaze“ aufgefasst
werden. Madonnas Sexualität kann eine Herausforderung oder eine Bedrohung der
vorherrschenden Konventionen von Weiblichkeit und Männlichkeit darstellen. Auf
diese Weise liefert die Sängerin jungen Mädchen und Frauen ein emanzipatorisches
Modell weiblicher Identität, das einen Gegenentwurf zum gültigen, vom männlichen
Blick dominierten, Gesellschaftsbild liefert. 85
Eine besondere Art der Parodie und damit der Macht und Kontrolle über das
eigene Image und die eigene Sexualität liegt nach John Fiske in der wissenden Art,
in der Madonna die Kamera dazu benutzt, sich über konventionelle Darstellungen
weiblicher Sexualität lustig zu machen, während sie sich ihnen gleichzeitig anpasst.
Entscheidendes Machtinstrument Madonnas im Clip zu „Burning Up“ ist der Blick,
der Look, wie Fiske darstellt.
Die Anfangssequenz des Clips zeigt insgesamt 21 Einstellungen, bevor
Madonna singend gezeigt wird, in denen nach Fiske zwei wesentliche Typen von
Bildern eine Rolle spielen: solche des Blickes und solche der Unterwerfung oder
Fesselung. 86
84
85
86
National Times 23./29.8.1985, S. 10, zit.n. Fiske 2003, S. 111.
Vgl. Fiske 2003, S. 106 f.
Vgl. Ebd., S. 116 f.
36
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
weibliches Auge, sich öffnend
weiße Blumen, eine öffnet sich [wird hell angeleuchtet, Anmerkung d.V.]
weiblicher Mund, geschminkt (wahrscheinlich der von Madonna)
ein blaues Auto, die Scheinwerfer gehen an
Madonna in weiß, auf der Straße liegend
männliche griechische Statue mit leeren Augen [Kopf; Anmerkung d.V.]
Goldfisch in einem Glas
Nahaufnahme der männlichen Statue, die Augen leuchten auf
Halbtotale auf die Statue, die Augen werden immer noch beleuchtet
extreme Nahaufnahme auf Auge der Statue, immer noch beleuchtet
Kette um einen Frauenhals, so eng, daß sie in das Fleisch einschneidet
verschwommene Nahaufnahme von Madonna, mit lose baumelnder Kette
Laserstrahl, der heftige Kreise beschreibt und sich kettengleich um weibliches
Handgelenk legt
Laserstrahl auf Goldfisch im Glas
Madonna, die ihre dunklen Brillen [sic!] abnimmt und gerade in die Kamera blickt
Madonna, auf der Straße sitzend
Madonna, die dunklen Brillen [sic!] abnehmend
Madonna, auf ihrem Rücken auf der Straße liegend
die dunklen Brillen [sic!] auf der Straße, ein Auge erscheint in einem der
Brillengläser, grünlich elektronische Effekte verschmelzen zu einem realistischen
Bild des Auges
Madonna auf der Straße sitzend, Gesicht zur Kamera
Nahaufnahme auf Madonna auf der Straße, sie wirft ihren Kopf zurück 87
Traditionellerweise ― darum hier die Augen der griechischen Statue ― wird der
Blick von Männern als Machtinstrument zur Kontrolle der Frauen eingesetzt. Die
daraus
hervorgehende
weibliche
Unterordnung
wird
durch
Madonnas
Unterwerfungsposen auf der Straße zum Ausdruck gebracht. Der im Glas gefangene
Goldfisch, eine ironische Metapher der Frau, wird durch den männlichen Blick
gefangengehalten.
Doch
im
Laserstrahl
erkennt
Fiske
einen
modernen,
unpersönlichen „Blick“, der es der Frau ermögliche, sich von den Ketten, die sie
fesselten, zu befreien. Ebenso vermöge Madonna durch das Singen die Kette um
ihren Hals zu lockern. Wenn sie singt, dass sie sich nach ihrem Liebhaber sehnt und
von ihm wissen möchte, was sie tun soll, um ihn für sich zu gewinnen, zieht sie die
Kette zunächst fester zu, um sie anschließend wieder zu lockern. Es folgt eine
Einstellung, die eine Collage von Männeraugen zeigt, darunter Madonnas singende
Lippen.
So kann nach Fiske der Clip als Veranschaulichung aufgefasst werden, wie
Frauen sich vom männlichen Blick und ihrer Macht befreien können. Die Tatsache,
dass sie die dunkle Brille abnimmt, während sie in die Kamera schaut, also den
87
Ebd., S. 116.
37
Betrachter ansieht, zeige ihre Kontrolle über den Blick, denn wir sähen nur das, was
sie uns gestattete. 88
Der Begriff des Look, über dessen Wirksamkeit Madonna sich bewusst ist, ist
nach Fiske als komplexer Begriff zu verstehen: Zum einen meint er Madonnas Blick
an sich (wie sie andere anschaut, insbesondere die Kamera), zum anderen aber
auch ihren Anblick (Aussehen) und den Blick der anderen auf sie. 89 Traditionell
stand der Blick wie oben bereits erwähnt unter männlicher Kontrolle: So ging Freud
davon aus, dass dies eine „grundsätzliche Art und Weise der Ausübung von
Kontrolle
durch
eine
Ausweitung
des
Voyeurismus“ 90
darstellt.
Madonna
beansprucht diese männliche Kontrolle für sich, denn erst durch die Kontrolle der
Frauen über den Blick ― in jeder der drei oben genannten Weisen ― ist es möglich,
„dass sie die Kontrolle über ihre eigenen Bedeutungen innerhalb des Patriarchats
erlangen.“ 91
Kontrolle
über
den
männlichen
Blick
ist
demnach
eine
Form
der
Machtausübung, die Madonna für sich in Anspruch nimmt und die sie den jungen
Mädchen, die ihre Clips sehen und ihre Musik hören, anbietet.
Ein weitere Form der Machtausübung erreicht Madonna durch die in den
Musikvideos inszenierte Provokation, die sie durch die Vermischung ursprünglich als
antagonistisch oder als unvereinbar empfundener Komponenten erzeugt. So stehen
im Text des Songs „Burning Up“ religiöser und sexueller Diskurs nicht nur
nebeneinander, sondern werden miteinander vermischt. Zwar scheint das Sexuelle
im Vordergrund zu stehen, doch das Singen vom Niederknien („down on my
knees“) und Brennen, ihrem Mangel an Scham („I have no shame“) und dem Teil in
ihrem Herz, der einfach nicht sterben will („And this pounding in my heart just
won’t die“), lassen den religiösen Diskurs als nicht weniger bedeutend erscheinen.
Diese Vermengung von Sexualität und Religion wird von Madonna von
Anfang an als Provokation gewinnbringend vermarktet:
Die reine Jungfrau Maria und die sündige Maria Magdalena als weibliche Stereotype
des Christentums sind Bestandteile der Selbstinszenierung Madonnas als Synthese
einer zuvor als unvereinbar angenommenen Dualität. 92
88
Vgl. Ebd., S. 117. - Auch der Clip zu „Lucky Star“ beginnt und endet mit einer Einstellung, in der
Madonna eine dunkle Sonnenbrille abnimmt und am Ende wieder aufsetzt, während sie ihren Blick
offensiv in die Kamera richtet, den Blick des Betrachters auf diese Weise kontrollierend.
89
Vgl. Ebd.
90
Ebd.
91
Ebd.
92
Bullerjahn 2001, S. 228.
38
Auch die Bilder dieses ersten Clips weisen ― wenn auch mit Blick auf MadonnaClips der folgenden Jahre noch sehr harmlos wirkend ― eine Dualität in der
Inszenierung Madonnas auf: In einem weißen Kleid räkelt sich die Sängerin, die den
Namen einer der höchsten Kirchenheiligen, der Jungfrau Maria, trägt, in deutlichen,
der Erwartungshaltung des Betrachters zuwiderlaufenden, sexuell aufreizenden
Gesten auf der schmutzigen Straße. Auch die von ihr getragenen Accessoires ―
schwarze Kruzifixe als Ohrringe ― erhalten in diesem Zusammenhang den
Charakter eines Sakrilegs: Madonna trägt sie als Modeschmuck. Aus ihrem
ursprünglichen
Kontext
herausgerissen,
verlieren
sie
somit
ihre
eigentliche
Bedeutung, was Fiske ― im Hinblick auf die noch folgenden Madonna-Videoclips ―
folgendermaßen formuliert:
Sie nimmt Gegenstände des urbanen Lebens, reißt sie aus ihrem ursprünglichen
sozialen und daher bedeutungsgebenden Kontext und kombiniert sie auf neue Arten
und in einem neuen Kontext, der ihre ursprünglichen Bedeutungen leugnet. 93
So wird nicht nur das Kruzifix zweckentfremdet, sondern auch das gebleichte
blonde Haar mit bewusst zur Schau gestelltem dunklen Ansatz ist nicht länger das
Merkmal für eine „nuttige Schlampe“. Dieses „Herauswinden der Produkte des
Kapitalismus aus ihrem ursprünglichen Kontext und ihre Wiederverwertung zu
einem neuen Stil“ sei, so Chambers, „eine für die urbane Popularkultur typische
Praxis.“ 94 Die Straße produziert eine bricolage des Stils, wobei die Waren
kapitalistischer
Gesellschaften
nur
noch
als
Signifikanten
bestehen:
Ihre
ideologischen Signifikate werden abgeschüttelt und in ihrem ursprünglichen Kontext
zurückgelassen. Die sinnentlehrten Signifikanten müssen nicht zwangläufig mit
neuer
Bedeutung
aufgeladen
werden,
sie
erwerben
nicht
unbedingt
neue
Signifikate. Der Akt der Befreiung aus ihrem ideologischen Kontext bedeutet für
diejenigen Freiheit, die von ihnen Gebrauch machen: „Er bezeichnet die Macht [...]
der Beherrschten, etwa Kontrolle im kulturellen Prozeß der Bedeutungsherstellung
auszuüben.“ 95
Auf eben diese Weise handelt Madonna dadurch, dass sie die Kruzifixe als
Schmuck trägt, und zwar ohne in ihnen ihre religiöse Bedeutung zu sehen, sondern
einfach, weil sie sie dekorativ findet. 96 Madonna bedient sich an Produkten des
93
Fiske 2003, S. 112. - Der Film „Desperately Seeking Susan“ zeigt deutlich Madonnas Fähigkeit,
Produkte der Bourgeoisie zu verwenden, ihren eigenen Stil zu entwickeln und ihnen damit eine
Bedeutung in ihrem Sinne zu verleihen.
94
Ebd.; vgl. auch Chambers, I.: Popular Culture: The Metropolitan Experience, London 1986.
95
Fiske 2003, S. 113.
96
Dabei ist zu bedenken, dass das Tragen christlicher Symbole bei Madonna sicherlich immer auch als
Provokation zu verstehen ist.
39
Kapitalismus, um einen Stil zu entwickeln, der ihr eigener ist: ein Stil, der
Bedeutung zurückweist und in dieser Zurückweisung seine Macht behauptet, die
darin besteht, sich selbst vom ideologischen Ballast zu befreien, der der Bedeutung
zugrunde liegt. 97 Sie löst den polaren Gegensatz zwischen Jungfrau und Hure auf
und bietet jungen Frauen ein Image, das Sexualität positiv und frauenzentriert
repräsentiert, was durch den ständigen Verweis auf ihre Unabhängigkeit, ihr
„Sieselbst-Sein“ zum Ausdruck gebracht wird. Doch, so stellt Fiske fest, kann eine
solch scheinbar unabhängige, selbstdefinierende Sexualität nur innerhalb und
gegen eine bestehende patriarchale Ideologie wirksam werden. Die Bedeutungen,
vom Patriarchat geliefert, müssen also da sein, damit überhaupt Widerstand
geleistet werden kann. 98
Madonna-Videos, so konstatiert Fiske, beziehen sich immer
auf die
Herstellung des Images, sie machen sogar die Kontrolle über die Herstellung zu
einem Teil des Images selbst. Diese Hervorhebung der Herstellung des Images
erlaubt es dem Leser, allen voran dem weiblichen, zu erkennen,
daß die Bedeutungen weiblicher Sexualität ihrer Kontrolle unterliegen können, in
ihrem Interesse hergestellt werden können, und daß ihre Subjektivitäten nicht
notwendigerweise zur Gänze vom herrschenden Patriarchat bestimmt sind. 99
Was Madonna also auch schon in ihrem ersten Video vermittelt, ist das
Aufzeigen der Möglichkeit, Macht und Kontrolle über das eigene Image, die eigene
Imagekonstruktion zu erlangen, entgegen
patriarchaler
Rahmenbedingungen,
weibliche Unabhängigkeit für sich in Anspruch zu nehmen und selbstbestimmt
Entscheidungen zu treffen. Diese Botschaften, vermittelt durch die Musik und die
Art des Gesanges, verstärkt noch durch die Bilder des Clips, mögen einen Eindruck
davon vermitteln, was in den 1980er Jahren junge Mädchen ― eine unbeachtete,
randständige Gruppe in der Gesellschaft ― in ihrem Sozialisationsprozess an
Madonna fasziniert haben mag. Nicht zuletzt unzählige „Madonna-Wannabes“, die
nach deren künstlerischem Durchbruch die Straßen von Amerika bevölkerten,
können ein Zeugnis darüber ablegen.
Im Hinblick auf die weitere Entwicklung des polaren Nebeneinanders von
religiösem und sexuellem Diskurs, der schon Thema ihres ersten Songs ist, mit
„Like A Virgin“ seinen ersten Höhepunkt erreicht und mit den Clips zu „Justify My
97
98
99
Auch Subkulturen verfahren auf diese Art und Weise bei der Herstellung von Bedeutungen. Vgl. Ebd.
Vgl. Ebd., S. 110.
Ebd., S. 113.
40
Love“ und „Erotica“ teilweise bis ins Groteske geführt wird, wirkt die Inszenierung
in „Burning Up“ noch spielerisch und harmlos, fast kindlich. In diesem ersten Clip
ging es Künstlerin sowie Plattenfirma zunächst darum, das neue Gesicht populär zu
machen. Trotz allem wirken ihr Auftreten, ihre Gebärden sowie ihr ganzes Outfit
provozierend 100
und
laufen
dem
Ideal
der
Leinwandschönheiten
klassischer
Hollywoodfilme zuwider. Mag ihr Outfit zu Beginn des 21. Jahrhunderts harmlos
erscheinen, so muß man sich heute immer wieder den gesellschaftlich-kulturellen
Kontext Amerikas der 1980er Jahre vergegenwärtigen, um ermessen zu können,
welchen Eindruck Madonna bei besorgten Eltern und Kulturkritikern hinterlassen
haben muss.
Bereits dieses erste Album von 1983 hatte Madonna zu einem Markennamen
gemacht. 101 Im Laufe der folgenden Jahre, in denen Madonna mit ihren Clips ― vor
allem durch religiösen Tabubruch 102 ― immer wieder auf sich aufmerksam machte,
sollte sie Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre vor allem durch
sexuelle Provokation auffallen. Der im Folgenden zu analysierende Clip wurde sechs
Jahre nach „Burning Up“ gedreht und vermittelt einen Eindruck davon, wie sehr sich
die Madonna der späten 1980er Jahre von der anfänglichen Girlie-Version
entfernt. 103
2.2
EXPRESS YOURSELF (1989)
Der Song „Express Yourself“ stammt von Madonnas viertem Album, „Like A
Prayer“,
das
1989
veröffentlicht
und
wegen
seines
„musikalischen
Einfallsreichtum[s]“ 104 erstmals von der Kritik gelobt wurde. Mit diesem Album, eine
100
So wirkt Madonna in diesem Clip wesentlich offensiver und sexualisierter als in dem 1984
produzierten Clip zu „Lucky Star“ (Regie: Arthur Pierson), das sie tanzend in ihrem typischen Outfit und
mit bauchfreiem T-Shirt in schwarzer Kleidung zusammen mit zwei weiteren Tänzern vor weißer
Leinwand zeigt (Clip 02).
101
Vgl. Morton 2002, S. 205.
102
Den größten Skandal provozierte Madonna in dieser Zeit wohl mit ihrem Videoclip zu „Like A Prayer“
von ihrem vierten gleichnamigen Album von 1989. Religiöse Fundamentalisten in den USA und der
Vatikan zeigten sich entrüstet über das Musikvideo, in dem die Sängerin mit erotischen
Körperbewegungen vor brennenden Kreuzen tanzt und einen schwarzen Jesus küsst, woraufhin Pepsi
Cola sich gezwungen sah, einen mit Madonna eingegangenen Sponsorenvertrag zu kündigen. Der Clip,
der nach eigener Aussage der Sängerin eigentlich den Rassismus in den USA anprangern wollte, wurde
in der BRD verboten und auf MTV nur nachts ausgestrahlt. So wurde „Like A Prayer“ wohl auch aufgrund
dieser unfreiwilligen Werbung zu einem ihrer größten Erfolge. Vgl. Ebd., 281 f.
103
Darüber hinaus wird offensichtlich, wie sich durch die Erfahrung mit dem Medium Videoclip und
technische Neuerungen der Clip allmählich zu künstlerisch wertvollen Filmen entwickelt hat.
104
Clerk, Carol: Madonna-Style, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002, S. 80.
41
Co-Produktion von Madonna, Steve Bray und Patrick Leonard, 105 entfernte sich die
Künstlerin deutlich vom Dancefloor und integrierte neue Klangfarben, so dass das
Album insgesamt düsterer und gefühlsbetonter als die bisherigen Alben erscheint.
In der Literatur wird immer wieder der sehr persönliche Charakter der Texte der
neuen Songs hervorgehoben, in denen sie unter anderem ihre zu diesem Zeitpunkt
gescheiterte Ehe mit dem Schauspieler Sean Penn, mit dem sie seit 1985
verheiratet war, ihre Kindheit und ihre Auseinandersetzung mit dem Katholizismus,
den frühen Tod der Mutter 106 , sowie nicht zuletzt das gespaltene Verhältnis zu
ihrem Vater verarbeitete. 107 Symbolisch dafür steht der Titel, „Like A Prayer“, der
wie das Album selbst ihrer Mutter gewidmet ist. 108
Darüber hinaus nimmt das Album in höherem Maße persönliche musikalische
Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend auf, wie sie selbst zum Ausdruck bringt:
In the past my records tended to be a reflection of current influences. This album is
more about past musical experiences. The songs “Keep It Together” and ”Express
Yourself” for instance are sort of my tributes to Sly and the Family Stone. “Oh
Father” is my tribute to Simon and Garfunkel, whom I loved. Also the overall
emotional content of the album is drawn from what I was going through when I was
growing up. 109
Das Cover des Albums (Anhang I, Abb. 04) zeigt nicht, wie die bisherigen Alben,
ein Konterfei der Künstlerin selbst, sondern in provozierend-aufreizender Weise den
unteren Teil ihres nackten Bauches bis zur Hüfte. Madonna trägt eine Jeans, deren
oberster Knopf geöffnet ist und in deren Bund beide Daumen eingehängt sind, so
dass ihre Hände rechts und links über den Hosentaschen zu liegen kommen. An
ihren Fingern stecken zahlreiche goldene Ringe, verziert mit großen farbigen
105
Auch „Prince“ war an dem Text des dritten Tracks des Albums, „Love Song“, beteiligt, einem Duett
zwischen Madonna und ihm.
106
Die Mutter Madonnas, von der sie ihren ersten Namen übernommen hat, starb im Alter von 30 Jahren
am 1. Dezember 1963 an Brustkrebs. Der frühe Verlust ihrer Mutter und seine Verarbeitung ist ein
Element in Madonnas musikalischer Biographie, das immer wieder in Erscheinung tritt („Promise To Try“
auf diesem Album). In ihrem Film „Truth or Dare ― in Bed With Madonna“ (1991) wird dieses
offensichtlich traumatische Erlebnis durch einen Besuch des Grabes der Mutter für ein Millionenpublikum
stilisiert und ausgeschlachtet.
107
Vgl. Bullerjahn 2001, S.211 f.; Clerk 2002, S. 80; Morton 2002, S. 281; – Auch das Verhältnis zu
ihrem Vater ist ein gespaltenes, was damit begann, dass er zwei Jahre nach dem Tod der Mutter wieder
heiratete. Er galt als autoritär und streng katholisch und widersetzte sich Madonnas Entscheidung, ihr
Studium abzubrechen um nach New York zu gehen, womit er ihr jegliche finanzielle Unterstützung
untersagte. Auf ihren ersten Konzerttourneen macht sie diesen Konflikt sogar zu einem Bestandteil ihrer
Show. Vgl. hierzu: Bronfen, Elisabeth: „Von der Diva zum Megastar ― Cindy Sherman und Madonna“, in:
Bronfen, Elisabeth/Strautmann, Barbara: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München:
Schirmer/Mosel 2002, S. 207. - Auf diesem Album verhandelt der Song „Oh Father“ zum einen den Tod
der Mutter, zum anderen verweist er auf das problematische Verhältnis ihrem Vater gegenüber.
Bullerjahn spricht gar von einem „Elektra-Komplex“ Madonnas, „der infolge überstarker und
unterdrückter Liebe der Tochter zum Vater entsteht.“ Bullerjahn 2001, S. 231. - Selbst auf dem zuletzt
von Madonna veröffentlichten Album – sie ist inzwischen selbst Mutter - „American Life“ (2003), wird das
Thema im Song „Mother and Father“ erneut verhandelt.
108
Vgl. Morton 2002, S. 281.
109
Madonna, zit.n. Bullerjahn 2001, S. 212.
42
Steinen, eine üppig geschmückte, orientalisch anmutende goldene Kette mit bunten
Perlen hängt über dem Hosenbund. Auf der Rückseite des Covers trägt Madonna ein
großes, mit roten Steinen besetztes Kruzifix an einer Halskette. So zitiert die
Vorderseite von „Like A Prayer“ das weithin bekannte Plattencover des „Rolling
Stones“-Albums „Sticky Fingers“ aus den frühen 1970er Jahren mit Jeansausschnitt
und Reißverschluss, allerdings von Madonna auf ihre sehr persönliche Weise
umgedeutet. 110 Auf diese Weise spielt die Künstlerin mit den Erwartungen des
vornehmlich männlich intendierten Betrachters, dessen Phantasie durch die
angedeutete Enthüllung angesprochen werden soll. Das Cover zur Single hingegen
(Anhang I, Abb. 12), das sie in einer auffordernden Tanzpose zeigt, wirkt
vergleichsweise unspektakulär.
Der Clip zu dem Song „Express Yourself“, mit dem die Sängerin zum 15. Mal
eine Platzierung in den Charts erzielte, wurde in den USA am 1. Mai 1989 erstmals
auf MTV ausgestrahlt, kurz nach dem Skandal-Clip zu „Like A Prayer“.
Ausgangspunkt
und
Schlusspunkt
der
Geschichte
ist
die
Kunstfigur
Madonna: Sie ist diejenige, die die Fäden zusammenhält, an deren Enden die
anderen Figuren wie Marionetten zu hängen scheinen. Das Bekenntnis „Express
Yourself“
entspricht
dabei
dem
eigenen,
dominanten
Rollenverständnis
der
Künstlerin: Sie ist eine Frau, die in jeder Situation die Kontrolle behält und sich von
niemandem
verunsichern
oder
sich
etwas
vorschreiben
lässt.
Dies
sind
Eigenschaften, die sonst eher dem männlichen Geschlecht zugeschrieben werden.
Wie schon in der Analyse zu „Burning Up“ dargestellt, erkennt John Fiske in dem
Begriff „Kontrolle“ das zentrale Motiv von Madonnas Bildersprache. Madonna
adaptiert hier männliches Rollendenken und männliche Verhaltensmuster, indem sie
selbst die Kontrolle übernimmt: Kontrolle über ihre mediale Repräsentation, ihre
diversen Firmen und, zumindest in ihren Clips, auch über ihre Männer.
Als probates Machtinstrument zur Durchsetzung ihrer Interessen und
Wahrung der Kontrolle dient ihr dabei in erster Linie ihre offensiv zur Schau
gestellte Sexualität. Anders aber als noch zu Beginn ihrer Karriere setzt sie sie in
dieser Phase ihrer künstlerischen Entwicklung auf aggressivere Weise ein: Sie
benutzt sie zur Unterstreichung ihrer eigenen Unabhängigkeit. Gleichzeitig setzt sie
sich
in
„Express
Yourself“
expliziter
mit
Geschlechterrollen
und
–grenzen
auseinander und kreiert dabei eine neue, androgyne Figur, die männliche Ratio und
weibliche Psyche in sich vereint. Allein optisch wird der Wunsch nach Macht und
110
Vgl. Clerk 2002, S. 83.
43
Kontrolle durch den sportlichen, durchtrainierten Körper der Künstlerin zum
Ausdruck gebracht. Wirkte Madonna bis Mitte der 1980er Jahre noch sehr
jugendlich
und
rundlich,
so
verkörpert
sie
am
Ende
des
Jahrzehnts
die
durchtrainierte Frau, die zeigt, wie hart sie an ihrem Körper gearbeitet hat. Dieser
durchtrainierte Körper ist in Clips wie „Express Yourself“ oder auch „Open Your
Heart” 111 deutlicher Ausdruck eines Machtstrebens.
So offensichtlich der Unterschied zwischen einer „Lucky Star“- oder „Burning
Up“-Madonna und der „Express Yourself“-Madonna aber äußerlich sein mag, so
ähnlich sind sie sich doch in der Grundaussage: Stellte Madonna schon in ihrem
ersten Clip die Dominanz des männlichen Geschlechts in Frage, so stellt auch dieser
Clip bestehende gesellschaftliche Rollenverständnisse in Frage, indem er sie subtil
unterläuft. Dies erreicht sie unter anderem dadurch, dass sie zum Teil sehr
unterschiedliche verschiedene Modelle von Weiblichkeit darstellt, die sich ebenso
mühelos männlicher wie weiblicher Rollenmuster bedienen und je nach Situation
zwischen ihnen hin- und herwechseln. Dieses Spiel mit den Masken, das sie seit der
Veröffentlichung ihres dritten Albums „True Blue“ 1986 systematisch betreibt,
entwickelt sie in dieser Zeit zu ihrem Markenzeichen.
2.2.1 Image
Mit dem Erscheinen ihres Musikvideos zu „Papa Don’t Preach“ 112 , das im Juni
1986 zusammen mit dem dritten Album „True Blue“ veröffentlicht wurde, vollzog
Madonna erstmals einen augenfälligen Imagewechsel, der sich nicht zuletzt an dem
Cover des dritten Albums ablesen lässt (Anhang I, Abb. 03). In diesem Clip
präsentiert Madonna sich mit kurzgeschnittenem, blondiertem Haar, in jungenhafter
Kleidung und mit wenig Schmuck, den sie zusammen mit dem dramatischen Makeup der Anfangsjahre abgelegt hatte. 113 War sie schon mit dem Clip zu „Material
Girl“ 114 kurzzeitig in ein anderes Image, nämlich das der Filmdiva Marilyn Monroe
geschlüpft, so sollte sie sich von nun an mit jedem neuen Album, fast für jeden
neuen Clip, ein neues Äußeres zulegen.
Ihre Videoclips trugen wesentlich dazu bei, ihr neues Image zu prägen, das
vor allem durch die öffentliche Zurschaustellung von gesellschaftlich tabuisierten
111
112
113
114
Regie: Jean-Baptiste Mondino, 1986, aus dem Album „True Blue“.
Regie: James Foley.
Vgl. Clerk 2002, S. 59.
Regie: Mary Lambert, 1985, aus dem Album „Like A Virgin“.
44
Themen die amerikanische Öffentlichkeit schockierte. Dabei sollte das vorherige
Girlie-Image nicht komplett abgelegt werden. Vielmehr wurde in dieser Phase die
sexuell-erotische Komponente des bereits etablierten Madonna-Mythos in den
Vordergrund gerückt, vor allem mit dem Ziel der Provokation.
Der
Videoclip
zum
Song
„Papa
Don’t
Preach“,
dessen
Text
die
Schwangerschaft eines unverheirateten Teenagers als unproblematisch darzustellen
scheint, löste eine Kontroverse in Amerika aus, ebenso der vier Monate später
erschienene Clip zu „Open Your Heart“ (Clip 04). Dieser wurde wegen der darin zur
Schau
gestellten,
aufreizenden
Kleidung
und
der
sexuellen
Andeutungen
insbesondere von politisch rechtsstehenden Gruppierungen in den USA kritisiert,
ebenso wie die im März 1989 bzw. im Dezember 1990 erschienenen Clips zu „Like A
Prayer“ und „Justify My Love“. 115 So trug nach Curry der Videoclip zu „Open Your
Heart“ „wesentlich dazu bei, Madonnas früheres Starimage als ‚trashy iconoclast’
und ‚Material Girl’ in das einer ‚sexy phallic woman’ umzuwandeln.“ 116 Innerhalb
dieses Clips verändert Madonna sogar mehrere Male ihre äußere Erscheinung. Hier
tritt sie in einem schwarzen Lederkorsett als Striptease-Tänzerin in einer PeepShow auf, zunächst mit einer schwarzen Kurzhaarperücke, die sie gleich zu Beginn
abnimmt und sich von nun an mit blondem Kurzhaarschnitt zeigt. Ihr Körper ist
schlank und durchtrainiert und zeigt nur noch wenig von den weiblichen Rundungen
der von ihr noch kurz zuvor verkörperten Marilyn Monroe-Figur. Mit ihrem Äußeren
zitiert sie im Clip mehrere Starimages der Filmgeschichte, wie etwa die von Marlene
Dietrich, Liza Minelli und Rita Hayworth, zum Schluß auch Charlie Chaplins und
Impressionen aus dessen Film „The Kid“. 117 Wie die folgende Analyse zu „Express
Yourself“ zeigen wird, wurde für Madonna das Tragen unterschiedlicher Kleidung
und Frisuren zu einem Spiel mit Masken, die sie nach Belieben verändert.
Das Image der Künstlerin Madonna Ende der 1990er Jahre wird neben den
Kontroversen, die ihre Clips in der amerikanischen Öffentlichkeit ausgelöst haben,
weiterhin von ihrer schlagzeilenträchtigen Verbindung und anschließenden Ehe mit
Sean Penn, ihrer angeblichen lesbischen Liebesbeziehung mit der bisexuellen
Komödiantin Sandra Bernhard sowie durch das Auftauchen früherer Nacktfotos, die
115
So äußerte sich Margaret Scott von der rechten kalifornischen Gruppe United Parents Under God mit
folgenden Worten über Madonna: „Unsere Kinder werden von Madonna ausgenutzt und manipuliert. Sie
nimmt öffentlich Stellung gegen die Moral. Trotzdem verehren Kinder sie. Sie sollte verboten werden,
um unsere Kinder vor dem Untergang zu retten.“ Zit.n. Bullerjahn 2001, S. 218.
116
Curry 1999, S. 185.
117
Vgl. Ebd., S. 184.
45
in Playboy und Penthouse veröffentlicht wurden, mitbestimmt. 118 Zu Merkmalen
ihres Images hatten sich in den letzten Jahren Eigenschaften wie „selbstsichere,
offen
ausgedrückte
Sexualität“,
„Narzissmus“,
„jugendliche
Vitalität“
und
„Selbständigkeit“ herausgebildet. 119 Passend zu ihrem „neuen“, durchtrainierten
Körper präsentierte sie sich nun während ihrer Konzerte vornehmlich in Bustiers,
Korsetts, BHs, Bodys und Netzstrumpfhosen, unter denen sie viel nackte Haut
zeigte ― wie etwa auf der „Who’s That Girl“-Tour 1987. 120 Zu ihrem Markenzeichen
wurde schließlich das von dem Modedesigner Jean-Paul Gaultier entworfene,
goldene Korsett, das Madonna während der „Blonde Ambition“-Tour 1990 bei der
Performance zu ihrem Song „Like A Virgin“ trägt. Flankiert wird sie dabei von zwei
Tänzern, die ebensolche spitzbrüstigen, überdimensionalen Korsetts tragen. Die von
Gaultier entworfenen Outfits schienen genau das zu repräsentieren, wofür Madonna
in dieser Phase ihrer Karriere stand: nämlich die Zuschauer zur sexuellen Befreiung
zu ermutigen. Die extremen Kreationen des Modedesigners machten es darüber
hinaus möglich, sie bei ihrem Spiel mit Geschlechterrollen zu unterstützen: Durch
die Überbetonung weiblicher sekundärer Geschlechtsmerkmale provozierte sie
nämlich nicht nur, sondern erzielte gleichzeitig einen Verfremdungseffekt, vor allem
indem sie ihre männlichen Tänzer mit ebensolchen überdimensionalen Brust-Kegeln
ausstatten ließ. Der Zuschauer sah also die Künstlerin selbst, die sich kurz zuvor
noch als Marilyn-Monroe-Lookalike und somit als eine Ikone der Weiblichkeit
dargestellt hatte, durchtrainiert und mit dem Habitus eines Mannes, während ihre
männlichen Tänzer mit auffälligem Make-up und in Damen-Unterwäsche auftraten.
Ihre Erwartungshaltung wurde also so nicht nur ostentativ durchkreuzt, sondern
darüber
hinaus
wurden
durch
diese
Darstellung
bestehende
Geschlechterunterschiede deutlich in Frage gestellt. 121
2.2.2 Daten zum Clip
Der fast fünfminütige Clip zu „Express Yourself“, bei dem David Fincher 122
Regie führte, lehnt sich in Kulisse und Rollenverteilung an Fritz Langs Stummfilm
118
Vgl. Clerk 2002, S. 59 u. 77.
Vgl. Curry 1999, S. 184.
120
Schon im Clip zu „Open Your Heart” zeigt sie sich im schwarzem Korsett mit aufgesetzten goldenen
Spitzen auf den Brüsten und Netzstrumpfhose, entworfen von Marlene Stewart.
121
Vgl. Clerk 2002, S. 84. - Ihre Wandelbarkeit beschränkt sich nicht allein auf ihr Äußeres, auch in
ihren Alben greift sie bis heute immer wieder neue musikalische Trends auf oder recyclet alte. Aus
diesem Grund wechselt sie in regelmäßigen Abständen ihre Co-Autoren und –produzenten, um neue
künstlerische Ideen entwickeln zu können. Vgl. Bullerjahn 2001, S. 217.
122
Fincher wurde im Folgenden mit Filmen wie „Alien 3“, „Seven“, „The Game“, „Fight Club“ und „Panic
Room“ bekannt.
119
46
„Metropolis“ von 1927 an. 123 Madonna beteiligte sich gegen den Rat ihres
damaligen Managers Freddy DeMann 124 mit einer Million Dollar Eigenkapital an den
Produktionskosten des Clips, der neben dem zu Michael Jacksons „Thriller“ zu
einem der teuersten Clips zählt, die je produziert wurden. Dies weist zum einen
darauf hin, wie wichtig der Künstlerin der Clip zu sein schien, zum anderen wird
augenfällig, wie viel Einfluss Madonna sich damit auf die Clipproduktion verschaffte.
Folgendes Zitat bringt diese Tatsache zum Ausdruck:
Bei diesem Video hatte ich den größten Einfluß. Ich habe mich um alles gekümmert
― die Kulissen, die Kostüme, das Make-up, die Frisuren, die Beleuchtung ... einfach
alles. Die Besetzung, die Suche nach der richtigen Katze ― um jedes Detail. Es war,
als würde ich einen kleinen Film machen [...]. Ich hatte ein paar Ideen zum
Szenenaufbau, zum Beispiel die Katze und die Idee mit Metropolis [...]. Genau diese
Atmosphäre wollte ich erreichen, dieses Bild von den Männern ― den Arbeitern, die
fleißig und unbeirrt vor sich hin arbeiten. 125
Der Textinhalt (Anhang II) unterstreicht bestimmte Eigenschaften von Madonnas
Image in dieser Phase ihrer Karriere, nämlich das einer rationalen, autonomen und
pragmatischen Karrierefrau, die sich von ihrem gewalttätigen Ehemann getrennt
hatte, was allgemein als kluger und auch notwendiger Schritt im Hinblick auf ihre
eigene Karriere bewertet wurde. 126 Madonna präsentiert sich als eine Frau, die alles
unter Kontrolle hat und dadurch unabhängig wirkt. Inhaltlich beschreibt der Clip
nicht nur den Unterschied zwischen den Geschlechtern, sondern bezieht sich auch
auf die polaren thematischen Pole arm ― reich, Unterdrückung ― Herrschaft. Die
Unterscheidung zwischen Ober- und Unterwelt wird von Madonna im Clip dazu
verwendet, ihre Machtposition zum Ausdruck zu bringen.
Auch in der filmischen Vorlage „Metropolis“ geht es um die Aufteilung der
Gesellschaft in zwei „Klassen“: eine Ober- und Unterwelt, die mit einem Fahrstuhl
miteinander verbunden sind. Auch ist es in Langs Film eine (Roboter-)Frau, die die
Unterwelt aus den Fugen geraten lässt. Die Unterwelt bricht durch die Verführung
der Roboterfrau zusammen, Männer werden zum Objekt der Begierde. Der
entscheidende Unterschied zwischen filmischer Vorlage und Madonna-Clip besteht
darin, dass in „Metropolis“ die Roboterfrau im Auftrag des Mannes agiert,
wohingegen Madonna im Clip in eigener Regie das Geschehen bestimmt, sowohl
123
Bullerjahn vermutet, dass Madonna durch die populärmusikalische Bearbeitung des ursprünglichen
Films durch Giorgio Moroder inspiriert wurde, die Mitte der achtziger Jahre in den amerikanischen Kinos
lief. Darüber hinaus weise der Clip zahlreiche andere intertextuelle Bezüge auf, die allerdings nicht von
annähernd plakativer Wirkung seien. Vgl. Bullerjahn 2001, S. 239.
124
Freddy DeMann, zuvor Manager Michael Jacksons, sollte 15 Jahre lang Madonnas Geschäfte managen.
Vgl. Morton 2002, S. 205 f.
125
Schmiedke-Rindt, Carina: „Express Yourself ― Madonna Be With You”. Madonna-Fans und ihre
Lebenswelt, Augsburg 1998, S. 58.
126
Vgl. Curry 1999, S. 193.
47
intern als zentrale Figur, in deren Hand die Fäden zusammenlaufen, als auch
extern, als Co-Produzentin und Investorin. 127
Gleich in Clip und Film ist die Tatsache, dass die weibliche Sexualität Einfluss
auf die vorhandenen Herrschaftssysteme ausübt. Madonna hat die filmische Vorlage
demnach in ihrem Sinne weiterentwickelt und für ihre Zwecke umfunktionalisiert.
2.2.3 Clipanalyse
Die Anfangseinstellung des Videoclips (Clip 05) zeigt Impressionen einer
blau ausgeleuchteten, hinter dampfenden Nebelschwaden hervortreten Kulisse, die
durch
das
Nebeneinander
von
Hochhausfassaden
und
sich
bewegenden
Maschinenteilen gleichzeitig den Eindruck einer Großstadtsilhouette und den eines
Uhrwerksinneren vermittelt. Die Bilder der sich drehenden Maschinenräder und der
Stadt wechseln sich mit kurzen Naheinstellungen von nackten Oberkörpern junger
Männer bei der Bedienung schwerer Maschinen in einer Fabrikhalle ab. Besondere
Aufmerksamkeit gilt einem der jungen Arbeiter mit längerem Haar, Madonnas
späterem Liebhaber.
Die Sängerin erscheint auf dem Rücken einer monumentalen Adlerstatue,
die sich auf einem der Hochhäuser befindet. Die Sequenz wird von Nebel eingehüllt
als Schnitt und Trennung zwischen Ober- und Unterwelt. Von dem Adler aus
skandiert die Sängerin ihre Botschaft, die sie an ihr weibliches Publikum richtet:
„Come on girls / Do you believe in love? / ’Cause I got something to say about it /
And it goes something like this”.
Im Folgenden findet eine visuelle Trennung der Kulissen in Ober- und
Unterwelt statt. Der Unterwelt, die Welt der Arbeiter, nass und dunkel dargestellt,
steht die Oberwelt gegenüber, die hell, sauber, fast steril und in kräftigen Farben
dargestellt
ist.
Dies
ist
die
Welt
der
weiblichen
Protagonistin
und
des
Fabrikbesitzers, der vermutlich ihren Ehemann darstellen soll.
Aus der Unterwelt steigt der langhaarige junge Arbeiter zu der Protagonistin
in ihre Oberwelt auf, nachdem diese ihre schwarze Katze losgeschickt hat, um den
Arbeiter in ihr Schlafzimmer zu bestellen. Während sich die Frau und ihr Liebhaber
hinter verschlossener Tür vermutlich vereinigen, gerät die Situation in der
127
Einem genauerem Vergleich zwischen filmischer Vorlage und Clip kann an dieser Stelle nicht
nachgegangen werden. Es sei verwiesen auf: Huyssen, Andreas: “The Vamp and the Machine: Fritz
Lang’s Metropolis”, in: Ders: (Hrsg.): After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism,
Houndmills u.a. 1986, S. 45-81. - Zum Film „Metropolis“ siehe: Patalas, Enno: Metropolis in/aus
Trümmern. Eine Filmgeschichte, Berlin: Bertz 2001; oder auch: Schenk, Imbert: Dschungel Großstadt:
Kino und Modernisierung, Marburg 1999.
48
Fabrikhalle außer Kontrolle: Die Arbeiter zeigen sich in einem aggressiven
Ringkampf, der als filmische Parallelisierung zum angedeuteten „Ringkampf“
zwischen der Protagonistin und ihrem Liebhaber zu verstehen ist.
Der Clip endet im Stil alter Hollywood-Filme mit einer Art Aphorismus, den
Madonna vor allem ihren Zuschauerinnen, die sie zu Beginn des Clips angesprochen
hatte, nahelegt: „Without the heart there can be no understanding between the
hand and the mind.” 128
Vor der Erstausstrahlung des Clips auf MTV wurde der Song in den USA nach
der Veröffentlichung des Albums im Februar 1989 oft im Radio gespielt, so dass der
Text den meisten Radiohörern geläufig war, bevor die dazugehörigen Bilder von
Madonna nachgeliefert wurden. 129 Nach Ramona Curry kann auf semantischer
Ebene der Text des Songs so verstanden werden, dass das Wichtigste in einer
Liebesbeziehung
die
geistige
und
emotionale
Kommunikation
zwischen
den
Partnern ist und die offene Mitteilung von Gefühlen eine wichtige Rolle spielt.
Weiterhin werde auf textlicher Ebene die Idee vertreten, dass eine gute
ökonomische Stellung des Mannes allein nicht ausreicht, um eine Beziehung zu
rechtfertigen. Eine materialistische Einstellung wird von Madonna somit im
Songtext ausdrücklich abgelehnt:
[…]
You don’t need diamond rings
Or eighteen karat gold
Fancy cars that go very fast
You know they never last, no, no
[…]
Long stem roses are the way to your heart
But he needs to start with your head
Satin sheets are very romantic
What happens when you are not in bed
You deserve the best in life
So if the time isn’t right then move on
Second best is never enough
You’ll do much better baby on your own.
chorus:
Don’t go for second best baby
Put your love to the test
You know, you know, you’ve got to
Make him express how he feels
128
An dieser Stelle soll eine skizzenhafte Darstellung des Clipinhaltes genügen, der im Verlauf der
Interpretation noch näher erläutert wird. Eine ausführliche Beschreibung des Clips findet sich bei:
Altrogge, Michael: Tönende Bilder. Interdisziplinäre Studie zu Musik und Bildern in Videoclips und ihrer
Bedeutung für Jugendliche, Bd. 2: Das Material: Die Musikvideos, Berlin: Vistas Verlag 2000, S. 91-107.
– Ebenso sei verwiesen auf: Curry 1999, S. 190-198.
129
Vgl. Curry 1999, S. 192.
49
And maybe then you’ll know your love is real.
Express yourself
You’ve got to make him
Express himself
Hey, hey, hey, hey
So if you want it right now, make him show you how
Express what he’s got, oh baby ready or not.
[…]
Das nachträglich gelieferte Bildmaterial allerdings verdeutlicht, dass das Wichtigste
in
einer
intimen
Liebensbeziehung
nicht
(nur)
die
zwischenmenschliche
Kommunikation zwischen Mann und Frau ist, sondern vielmehr der Austausch auf
sexueller Ebene, verbaler wie körperlicher Art: Mann und Frau sollen nicht nur in
körperliche Interaktion treten, sie sollen sich auch gegenseitig ihre intimsten
Wünsche mitteilen und sie miteinander ausleben. Dabei steht auch die sexuelle
Leistungsfähigkeit
des
Mannes
im
Vordergrund:
Eine
sexuell
aktive
und
extrovertierte Frau wünscht sich einen ebensolchen Mann, mit dem sie ihre
Phantasien ausleben kann. Die Zeile „Make him express himself“ erscheint als ein
von einer begehrenden und machtvollen Frau ausgesprochener Imperativ, der
ausdrücklich auf die phallische Leistungsfähigkeit des Mannes abzielt. 130
Mit Blick auf den Text und den zahlreichen Anspielungen, die allein auf
semantischer Ebene gegeben werden, ist es allerdings auch möglich, zu behaupten,
dass der Textinhalt der Bilder die verschlüsselte Botschaft Madonnas lediglich
unterstreicht bzw. konkretisiert, d.h. der Text allein sexuelle Konnotationen
hervorruft. So fordern Textzeilen wie „What you need is a big strong hand / To lift
you to your higher ground / Make you feel like a queen on a throne / Make him love
you till you can’t come down“ eindeutig dazu auf, Forderungen zu stellen, die allein
das Ziel sexueller Befriedigung in den Vordergrund rücken: „Denn alles was du
brauchst, ist eine starke Hand / die dich befriedigt und auf eine höhere Ebene
versetzt / dass du dich wie eine Königin auf dem Thron fühlst / bring ihn dazu, dass
er dich derart in Extase versetzt, dass du nicht mehr herunterkommst (von deinem
Thron, aus der Extase).“ Somit ist allein der Text eindeutig sexuell konnotiert, die
Bilder unterstreichen lediglich die im Songtext schon enthaltene Botschaft und
bestätigen ausschließlich das, was die Textebene verschlüsselt darstellt.
Claudia Bullerjahn 131 vertritt die Meinung, dass die Bilder zu „Express
Yourself“ eine alternative Interpretation des Textes anbieten, die darin besteht,
130
131
Vgl. Curry 1999, S. 193.
Vgl. Bullerjahn 2001, S. 240 ff.
50
dass nicht die geistige und emotionale Verständigung, sondern die sexuelle
Leistung des Mannes in den Vordergrund einer Beziehung rücken sollte. Im Clip
würden die traditionellen Rollen umgedreht, denn Madonna sei diejenige, die die
sexuelle Befriedigung einfordere und der Mann sei das Objekt ihrer sexuellen
Begierde. Ramona Curry bezeichnet das Musikvideo deshalb als „Parodie der sexuell
differenzierten Darstellungskonventionen, wonach der Mann die sexuelle Lust
empfindet und deren Befriedigung aktiv verfolgt, während die Frau (und nur die
Frau) ein passiver Auslöser und das Objekt der männlichen Lust ist.“132
Madonna benutzt die Bilder in diesem Clip dazu, um die gängigen
Rollenklischees umzukehren. Sie fordert die „girls“, denen ihr „Schlachtruf“ zu
Beginn des Clips gilt, dazu auf, sich zu nehmen, was ihnen zusteht. Ihre
Performance als androgyne Marlene-Dietrich-Figur im Tanzstil Michael Jacksons
zeigt eine aggressive Form männlicher Sexualität. Macht ist bei Madonna verbunden
mit Sexualität und gebunden an bestimmte sexuelle Muster. Männer werden zu
Marionetten, deren Fäden in der Hand der Protagonistin zusammenlaufen. Die
Katze ― traditionell eines der Begleittiere der Hexe oder Zauberin 133 ― wird von ihr
losgeschickt, um ihr den gewünschten Mann in die Oberwelt zu holen. Der wird auf
diese Weise zum Objekt weiblicher Lust.
Die Katze ist in diesem Clip von zentraler Bedeutung, denn „sie ist die
eigentliche Klammer der Handlung und markiert daher den Anfang (die Katze wird
von Madonna zum Vorarbeiter geschickt [...]) und Abschluß bis zum Eintritt des
Vorarbeiters in das Schlafzimmer Madonnas (der Vorarbeiter setzt die Katze im
Schlafzimmer auf den Boden [...]).“ 134 Die Katze ist außerdem Bestandteil fast aller
Bilder, die den Liebhaber Madonnas zeigen sowie das alter ego Madonnas, die sich
in die Katze verwandelt, um sich in die Unterwelt zu schleichen. Auch die
132
Curry 1999, S. 191 f. - Außerdem wird ein Klassenunterschied akzentuiert, nämlich der zwischen der
in der Oberwelt lebenden, reichen Madonna und den armen, in der Unterwelt lebenden Arbeitern.
Madonna verfügt demnach nicht nur über die sexuelle, sondern ebenso über die materielle Macht.
Darüber hinaus wird in einer Nebenszene angedeutet, dass die (weiße) amerikanische Musikindustrie
schwarze Jazzmusiker ausbeutet, jedoch Madonna nicht beherrschen kann. Gemeint ist hier die Szene,
die den (weißen) Fabrikdirektor vor einer Glaskuppel zeigt, die wie in einer Spieluhr drei schwarze
Jazzmusiker gefangen hält, und die er von seinem Sessel aus durch Knopfdruck auf seiner
Fernbedienung an- und abstellen kann. Die Tatsache, dass es dem Fabrikdirektor offensichtlich nicht
gelingt ― so zeigt es der Clip ―, Madonna ebenso zu beherrschen, lasse auf ihre Unabhängigkeit als
Künstlerin schließen. Vgl. Curry 1999, S. 197.
133
Außerdem gilt die schwarze Katze in der Mythologie auch als Begleiterin oder Gespielin der Hexe und
stellt damit ein antichristliches Symbol dar, womit Madonna auf das immer wieder von ihr verhandelte
Thema des Katholizismus rekurriert. Die Funktion der Katze ist außerdem die der Liebesbotin, die von
Madonna losgeschickt wird, um ihr den Mann zu holen, den sie ausgewählt hat. Darüber hinaus stellt die
Katze die Verbindung zwischen Ober- und Unterwelt her.
134
Altrogge 2000, S. 106.
51
Einstellung, in der Madonna katzengleich über den Boden kriecht, legt diese
Interpretation nahe. Die schwarze Katze und Madonna werden im Clip als
austauschbar dargestellt, womit die Doppeldeutigkeit des Wortes „pussy“, das in
der Umgangssprache auch als Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan
Verwendung findet, auf doppeldeutige Weise visualisiert wird. 135
Liebe wird bei Madonna gleichgestellt mit Sexualität: Liebe ist sexuelle
Befriedigung. Es geht in diesem Clip um das Ausspielen von Rollenklischees der
Geschlechter: Sie persifliert die bürgerlich-romantische Vorstellung von Liebe, die
ihre Erfüllung in der geistigen Vereinigung sieht. Somit ist auch anzunehmen, dass
in einer Zeile wie „you hold the key“ oder „I’ll give you love if you, you turn the
key“ wie in „Open Your Heart“ der Schlüssel als Phallussymbol zu verstehen ist, der
Schlüssel, der benötigt wird, um zu ihrem Herzen zu gelangen. Darüber hinaus
spielt Madonna auf provozierende Weise auf bürgerlich-kleingeistige Vorstellungen
von wirtschaftlichem Wohlstand als Basis einer Beziehung oder Ehe an: Sie sagt
explizit, dass materieller Wohlstand nur ein unzureichender Ersatz für wahre, tiefe
Befriedigung sein kann, sowohl auf körperlicher, als auch auf geistiger Ebene.
Außerdem fordert sie die „girls“ dazu auf, sich nicht aufgrund materieller Interessen
von einem Mann abhängig zu machen, um ihm auf diese Weise die Grundlage
seiner Kontrolle über sie zu entziehen.
Liebe ist in der Vorstellung der Künstlerin selbst immer in erster Linie auch
körperliche Liebe. Dieses Liebeskonzept scheint sie somit auch in „Express Yourself“
zum Ausdruck zu bringen. Jim Albright, ehemaliger Leibwächter und Liebhaber
Madonnas,
umschreibt
seine
einstige
Arbeitsgeberin
als
eine
Frau,
die
zwischenmenschliche Nähe über körperliche Nähe herzustellen sucht:
[...] Was Madonna am meisten braucht, ist Liebe. Deshalb benutzt sie Sex als eine
Form von Liebe, weil sie eben diese übermächtige Sehnsucht hat, sich geliebt zu
fühlen und Liebe zu empfangen: Liebe ist auf jeder Ebene Madonnas Antriebskraft,
sie will, dass die Fans sie lieben, und sie will, dass die Leute, mit denen sie schläft,
sie lieben. Sie nimmt den körperlichen Vorgang von Sex, egal ob mit einem Mann
oder mit einer Frau, und verwandelt ihn in Liebe. Madonna lebt von der Liebe und
leidet am Hunger nach Liebe. 136
135
Wie die Analyse des Clips zu dem Song „Frozen“ zeigen wird, wird die Transformation Madonnas in
ein tierisches Lebewesen zu einem zentralen Element. Die Gleichstellung Madonnas mit der Katze
verfolgt in diesem Clip allerdings eher das Ziel, erotische Assoziationen, die das englische Wort „pussy“
hervorruft, zu wecken. Dort allerdings erfolgen die Verwandlungen mit dem Ziel, Madonnas
Verbundenheit mit der Natur zum Ausdruck zu bringen. Vgl. Kap. 2.3 dieser Arbeit.
136
Jim Albright, zit. n. Morton 2002, S. 325.
52
Auch in „Open Your Heart“ – wie in „Burning Up“ – ist Madonna diejenige, die die
Männer dazu bringt, sie zu lieben. Die Zeile „Open your heart, I’ll make you love
me“ drückt auch hier wieder die Bedingungen ihres Liebeskonzepts aus: Öffnest du
dein Herz, dann werde ich dich dazu bringen mich zu lieben. Dabei handelt es sich
immer um einen aktiven Prozess, der Zeitpunkt des Sich-Verliebens wird von ihr
selbst bestimmt, ebenso wie der Mann, den sie lieben wird, von ihr ausgewählt
wird: Sie verfügt mittels Sexualität über die Macht, alle Männer dazu zu bringen, sie
zu lieben. In „Express Yourself“ wird die sexuelle Macht außerdem noch durch ihre
ökonomische Macht über die Männer verstärkt.
Diese
Vorstellung
widerspricht
grundsätzlich
dem
romantischen
Liebeskonzept, nach dem es das Schicksal zweier durch eine höhere Macht
füreinander bestimmter Menschen ist, vom Pfeil Amors getroffen zu werden, vor
dem es für sie kein Entkommen gibt. 137 Die höchste Form der Liebe ist die
unerfüllte Liebe.
Madonna hingegen funktionalisiert Liebe, um sich Macht zu verschaffen,
weshalb es also auch nicht schwierig ist, sie zu lieben, wie sie in „Open Your Heart“
darlegt: „It’s not that hard, if you just turn the key“. Erfüllte Liebe bedeutet in
Madonnas Vorstellung immer auch ein erfülltes Sexualleben. Die höchste Form der
Liebe ist bei Madonna die höchste Form sexueller Befriedigung.
Madonna verkörpert in „Express Yourself“ sieben verschiedene, zum Teil
androgyne Frauentypen: Zunächst ist sie ein blondgelocktes „Soulgirl“, das ―
göttergleich auf dem Rücken einer monumentalen Adlerstatue wie auf dem Olymp
„thronend“
―
in
einem
violettfarbenen,
ärmellosen
Kleid
ihren
weiblichen
Zuhörerinnen ihren Schlachtruf entgegenschleudert. Anschließend sieht sie man sie
als mondäne Dame in einem grünen Abendkleid im Stil der 1930er Jahre, das Haar
ebenfalls blond gefärbt und ― entsprechend dem Stil ihres Kleides ― in
Wasserwellen
gelegt.
Danach
sehen
wir
die
Künstlerin
in
Dessous
und
Seidenstrümpfen, die hinter einem von hinten angeleuchteten Paravent einem
Schattenspiel gleich eine Mischung aus Striptease und Tanz performed, gefolgt von
einer
tanzenden,
sehr
maskulinen,
den Marlene-Dietrich-Typ nachahmenden
Frauenfigur: In einem Anzug, unter dem sie lediglich Unterwäsche zu tragen scheint
137
Als klassisches Beispiel hierfür mag Gottfried von Strassburgs „Tristan und Isolde“ dienen: hier
können die Protagonisten und Namensstifter des Epos’ auch nicht ihrer „Bestimmung“ entgehen,
einander zu lieben, so sehr sie sich aufgrund standesbedingter und gesellschaftlicher Grenzen auch
dagegen zur Wehr setzen.
53
und mit einem Monokel, das an einer Kette befestigt ist, imitiert sie ― erkennbar
am inzwischen vielfach parodierten Griff in den Schritt ― eine Michael-JacksonPerformance. Anschließend sieht man die Künstlerin in einem enganliegenden
schwarzen Kleid mit nassem, zerzaustem Haar, wie sie katzengleich auf allen Vieren
unter einen Tisch kriecht, um sich anschließend ― lediglich bekleidet mit einem
Halseisen und einer nicht weniger schweren Kette, die daran befestigt ist ― auf
einem großen weißen Bett unter weißen Seidenlaken zu räkeln. Abschließend sieht
man die Künstlerin dort in Erwartung ihres imaginierten Liebhabers, deren
Nacktheit nur noch durch ein um Schultern und Hüften geschwungenes Bettlaken
verdeckt wird.
Durch diesen Wechsel der Rollen demonstriert Madonna die Kontrolle, die sie
über ihre unterschiedlichen Images hat. Dieser Rollenwechsel verschafft ihr die
nötige Macht, gesellschaftlich determinierte Geschlechterrollen in Frage zu stellen
und für sich als Frau einen Habitus in Anspruch zu nehmen, der eben nicht mehr
geschlechterspezifisch determiniert ist und den eine patriarchal strukturierte
Gesellschaft lediglich dem Mann zugesteht.
Nicoläa Grigat weist darauf hin, dass das „Metropolis“-Zitat nicht nur
dekorative Zwecke zu erfüllen habe: Hierbei handele es sich vielmehr um einen
weiteren „visuellen Fingerzeig auf die Gefährdung eines Herrschaftssystems durch
weibliche Sexualität, da im Film ‚Metropolis’ dieses Thema von zentraler Bedeutung
ist.“ 138 Bezeichnend sei hier das aufgegriffene Element des Molochs, der Allegorie
der „Vagina-Dentata“, dem Sinnbild männlicher Ängste in Bezug auf weibliche
Sexualität. 139 Die Tanzbühne entspreche dem Treppenaufgang als Zugang zum
Moloch der Filmvorlage, auf der Madonna in einem dunklen Anzug erscheint140 , und
wo sie sich während der Tanzperformance mehrfach ― wie oben bereits erwähnt ―
in den Schritt greift und immer wieder ihr Jackett öffnet, unter dem sie lediglich
einen BH trägt. Am Schluss dieser Szene greift sie sich noch einmal mit einer Hand
zwischen die Beine, während die andere eine Pistole formt, mit der sie einen
imaginären Schuss abfeuert.
138
Grigat, Nicoläa: Madonna Bilder. Dekonstruktive Ästhetik in den Videobildern Madonnas, Frankfurt
a.M. u.a. 1995, S. 62.
139
Vgl. Ebd., S. 63.
140
Schmiedke-Rindt (1998, S. 80) weißt darauf hin, dass die Tatsache, dass die Knöpfe des Anzugs auf
der linken Seite angebracht sind, den Anzug zu einem weiblichen Kleidungsstück mache, womit Madonna
sozusagen auch in der Kleidung die gleichzeitige Zweigeschlechtlichkeit signalisiere. Auch musikalisch
verweigere sich der Song einem tonalen Zentrum, denn G- und F-Dur stehen gleichberechtigt
nebeneinander, zum Teil ergibt sich sogar eine Polytonalität. Vgl. Bullerjahn 2001, S. 241.
54
Der Hosenanzug steht für die Kontrolle, die Madonna über ihr Image ausübt.
Die Funktion des Tanzstils ist eine parodistische, denn sie bezieht sich damit,
worauf
Curry
hinweist,
selbstvergewissernden
afroamerikanischer
Griff
auf
in
Straßenkultur
Michael
den
Jackson,
Schritt
ursprünglich
―
ein
der
in
den
der
Symbol
für
männlich-
Zeichensprache
extrovertierte
Männlichkeit ― als essentielles Element seiner Bühnenperformance etabliert hat.
Parodistisch ist diese Geste deshalb, weil sie ― ausgeführt von einer Frau mit
eindeutig weiblichen Geschlechtmerkmalen ― männliches Imponiergehabe ad
absurdum führt. Verfremdend wirkt das Zitat darüber hinaus, weil Jackson selbst
eine Parodie der konventionellen Abgrenzung zwischen Mann und Frau darstellt: ein
Mann, der sich ― äußerlich eher wenig maskulin wirkend und sich selbst mehr und
mehr zur Frau stilisierend ― in seiner Performance der klassischen Gesten eines
überzogen-selbstreflexiven männlichen Rollenverständnisses bedient und damit
konventionelle, gesellschaftlich determinierte Geschlechterdefinitionen in Frage
stellt. Madonna parodiert dieses von Jackson bis zur äußersten Grenze getriebene
Image, indem sie ― in Männerkleidung auftretend und einen weiblichen Mann
imitierend ― das Bild einer männlichen Frau entwirft. 141
So kommt Bullerjahn zu dem Schluss, dass „[s]olch Transvestimus [...] als
Kritik
an
der
gesellschaftlichen
Konstruktion
von
Geschlechtsunterschieden
aufgefasst werden [könnte], allerdings ist auch eine Interpretation als Autoerotik
möglich, da Madonna ebenfalls häufig ihre Brüste berührt.“ 142 Madonna schlüpfe
mit ihrer Hosenrolle symbolisch in die Position des Machthabers und spiele damit
gleichzeitig auf ihr Image als erfolgreiche Geschäftsfrau an. Im Gegensatz zum
klassischen Hollywoodfilm wird die von Madonna dargestellte „femme fatale“ für ihr
Verhalten belohnt und muss nicht untergehen. 143 Grigat weist außerdem darauf hin,
dass Madonna somit auf einer weiteren Ebene ihrem Namen gerecht werde, der
„meine Herrin“ bedeutet.
Und auch in diesem Clip spielt der Blick als Kontrollinstrument ― als
weiterer Beweis für Madonnas Verlangen nach dem Besitz von Macht ― eine Rolle:
So stellt Wieland fest, dass Madonna mit ihrem Monokel, das sie zum Anzug trägt,
die Macht des beobachtenden Mannes unterlaufe, den sie außerdem mit ihrem BH
unter dem Männerjackett konfrontiere. 144 So kann auch die Überblendung von
141
142
143
144
Vgl. Curry 1999, S. 195.
Bullerjahn 2001, S. 241.
Vgl. Grigat 1995, S. 68.
Vgl. Wieland, Karin: „Madonna aus der neuen Welt“, in: Der Alltag 66 (1994), S. 73. (S. 65-80).
55
Madonnas Augen zu Beginn der „Dietrich-Jackson-Tanzszene“ und am Ende des
Clips mit Erscheinen des Mottos als Etablierung des weiblichen Blickes aufgefasst
werden, der sowohl Kontrolle als auch sexuelles Verlangen ausdrücken kann.
Vorwürfe von Feministinnen folgten in Bezug auf Madonnas gefesselte
Erscheinung in den schweren Eisenketten und hinsichtlich der Szene, in der sie wie
eine Katze auf dem Boden unter dem Tisch kriecht und Milch schlürft, denn hierbei
handele es sich um Anspielungen auf klassische „Darstellungskonventionen der
Pornographie.“ 145
Doch tatsächlich entziehen sich die Bilder Madonnas, die zwischen Macht
und Unterwerfung, zwischen Sexualsubjekt und –objekt hin- und herpendeln, einer
eindeutigen
Lesart. 146
Durch
eine
mehrdeutige
Adressierung
ergeben
sich
verschiedenen geschlechtsspezifische Lesarten, wie Michael Altrogge in einer
empirischen Untersuchung feststellen konnte. 147 Zum einen könne der Clip als ein
Aufruf zur sexuellen Selbstverwirklichung von jungen Frauen aufgefasst werden,
womit eine emanzipatorisch-feministische Lesart gegeben ist. Diese Lesart ist
vermutlich die von Madonna beabsichtigte, denn in einem Interview behauptete sie,
dass die Aussage des Clips „pussy rules the world“ sei, und eine Frau ― wie der
Text selbst unmissverständlich zum Ausdruck bringt ― sich nicht mit dem
Erstbesten zufrieden geben solle. 148
Zum anderen kann auch der traditionell männliche Blick an diesem Clip ―
wie schon an „Burning Up“ aufgezeigt ― Gefallen finden; doch durch diese
Perspektive verliert der Clip an Komplexität, wird auf einzelne Bilder reduziert, wie
dies auch für den männlichen Blick auf „Burning Up“ dargestellt wurde. Es ist die
Lesart vornehmlich männlicher Jugendlicher, die Madonna lediglich als Sexualobjekt
wahrnehmen und sich ausschließlich an die pornographisch-erotischen Szenen ―
die Künstlerin in Reizwäsche oder nackt und gefesselt im Bett ― erinnern.
Feministinnen, die gerade diese Szenen als äußerst rückschrittlich in Bezug auf
Emanzipationsbestrebungen der Frau bewerten, hält Madonna entgegen, dass das
145
Curry 1999, S. 193.
Vgl. Grigat 1995, S. 70 f.
147
Vgl. Altrogge, Michael: : “…wo alles drunter und drüber geht”. Zur Ordnung und Wahrnehmung von
Musik und Bildern in Videoclips und ihrer Bedeutung für Jugendkulturen. Inaugural-Dissertation zur
Erlangung des Doktorgrades der Philosophie am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I der
Freien Universität Berlin 1996, S. 627-631.
148
Madonna, zit.n. Bullerjahn 2001, S. 242.
146
56
Anlegen der Ketten schließlich ihre eigene, freie Entscheidung gewesen und ihr
nicht von außen aufgezwungen worden sei. 149
So ist es schließlich die Doppeldeutigkeit der Bilder, die eine mehrdeutige
Adressierung möglich macht und Madonna eine möglichst weitgefächerte Zielgruppe
ihres Clip zusichert. Dabei beschränkt sich die Doppeldeutigkeit der Bilder nicht
allein auf Madonna selbst. So können die muskulösen Arbeiter zum einen die
Wunschvorstellung von Frauen verkörpern. 150 Zum anderen könnte ihre Art der
Darstellung auch einen homosexuellen Blick ansprechen, denn die Ästhetik der
Bilder entspricht der jener Gay-Magazine, die Ende der 1980er Jahre en vogue
waren. So erinnert die Darstellung der Arbeiter in der Fabrikhalle, an deren
muskulösen Oberkörpern Wasser und Schweiß in dicken Perlen herabtropft, nicht
nur an die Szene in „Metropolis“, in der die Stadt überflutet wird, sondern ist „auch
deutlich von Konventionen der zeitgenössischen Gay-Pornographie in den USA
beeinflusst.“ 151
Die
Adressierung
beschränkt
sich
also
nicht
allein
heterosexuelles Publikum und damit auf heterosexuelle Konventionen.
auf
ein
152
Im Clip tritt Madonna als eine Frau auf, die sowohl in sexueller als auch in
ökonomischer Hinsicht eine Bedrohung für den Mann darstellt. Sie zeigt sich als
eine „femme fatale“, die sich das holt, von dem sie glaubt, dass es ihr zusteht. So
hat Madonna die Sentenz am Ende des Clip an anderer Stelle auch folgendermaßen
kommentiert:
Die grundlegende Aussage des Songs ist, dass, wenn du dich nicht selber offenbarst,
wenn du nicht sagst, was du willst, dann wirst du es auch nicht bekommen. Und die
Unfähigkeit zu sagen, was du fühlst, oder das zu verfolgen, was du willst, hat
schließlich zur Folge, dass du wie ein Gefangener in Ketten liegst. 153
Damit spricht sie dem Song einen appellativen Charakter zu, der junge Frauen dazu
auffordern soll, eigene Bedürfnisse zu artikulieren. Unterstützt wird diese Botschaft
durch die Musik, die gleichzeitig den Rhythmus der Videoschnitte bestimmt.
Insgesamt
ist
auffällig,
dass
alle
Sequenzen
mit
hoher
Genauigkeit
den
musikalischen Formteilen entsprechen, so dass die Dauer der einzelnen Sequenzen
weitgehend von der Länge der musikalischen Formteile bestimmt wird. Gerade der
149
Vgl. Bullerjahn 2001, S. 242.
Die Art und Weise, in der die Körper der Männer dargestellt werden, lässt eindeutig einen weiblichen
oder zumindest einen nicht-heterosexuellen Blick erkennen. Wie zu Beginn dieses Kapitels dargestellt,
hatte Madonna entscheidenden Einfluss auf die Produktion dieses Clips, was hier deutlich zum Ausdruck
kommt.
151
Curry 1999, S. 194.
152
Vgl. Altrogge 2000, S. 105.
153
Madonna zit.n. Clerk 2002, S. 83.
150
57
Anfang des Clips verdeutlicht den Zusammenhang zwischen musikalischem und
Bildschnittrhythmus. 154
Das Verhältnis zwischen Bild und Musik ist demnach sehr eng. Gleiches gilt
für den musikalischen Charakter und die Art, in der Madonna den Song vorträgt,
und die Bildern bzw. Aussage des Songs. Der Sound, der viele funkige Elemente
enthält, wirkt durch den Einsatz eines dichten Bläserapparates äußerst hymnisch
und erhält den Charakter eines musikalischen Statements, womit die Musik die
Aussage des Songs unterstützt. Auffällig ist, dass Madonnas Stimme durch einen
Chor beständig unterstützt wird, wodurch ihre Stimme aufgeladen und sehr kräftig
wirkt und damit dem appellativen Charakter, der Botschaft Madonnas, entspricht.
Im Gegensatz zum Song „Burning Up“, in dem ihre Stimme ― obgleich der Gesang
fordernd vorgetragen wird ― eher isoliert erscheint, wird ihr in diesem Song die
ihrem Status entsprechende Fülle und Wirkkraft verliehen. Was ihre Stimme allein
nicht leistet, wird durch den Computer korrigiert. So scheinen auch Musik und
Stimme im Dienste der Botschaft zu stehen.
Die matriarchalische Machtdemonstration Madonnas in ihrem Clip „Express
Yourself“
basiert
auf
der
Umkehrung
der
bestehenden
patriarchalischen
Herrschaftsstrukturen. So wurde dargestellt, dass durch die Dekonstruktion
bestehender
gesellschaftlich
vorgegebener
Geschlechterrollen
der
Musikclip
Anknüpfungspunkte sowohl für Hetero- als auch für Homo- und Bisexuelle beiderlei
Geschlechts bietet.
Der 1990 gedrehte Clip zu dem von Lenny Kravitz produzierten Song „Justify
My Love“ 155 (Clip 06) treibt das Spiel mit den Geschlechterrollen noch weiter:
Im Video werden die heterosexuell geprägte Dichotomie Mann/Frau und die
klassischen Definitionen von männlich und weiblich in Frage gestellt, denn kurze oder
verschwommene Einstellungen oder Überblendungen tragen dazu bei, dass
Geschlechteridentitäten unklar bleiben oder die Akteure als androgyn charakterisiert
werden. 156
In diesem Clip, der in einem Pariser Stundenhotel spielt, 157 wird die Unterscheidung
zwischen männlich und weiblich gänzlich aufgehoben und auf ein Rollenspiel
reduziert. Es werden männliche Frauen und weibliche Männer gezeigt, die ― so
Corinna Herr ― „ihre Künstlichkeit durch das Anbringen von Zeichen männlicher
154
155
156
157
Vgl. Altrogge 2000, S. 91 ff.
Regie: Jean-Baptiste Mondino, 1990, aus ihrem ersten „Best Of“-Album „The Immaculate Collection“.
Bullerjahn 2001, S. 243, zit.n. Grigat 1995, S. 78.
Vgl. Clerk 2002, S. 102.
58
Insignien (Schnurrbart) konterkarieren und betonen [...].“ 158 In diesem Clip wird
die Maskerade bis an ihre extremsten Grenzen geführt, denn „[n]icht nur
Weiblichkeit, sondern auch Männlichkeit ist Maskerade. Die Zeichenhaftigkeit der
Konstruktion beider Geschlechter wird offenbar.“ 159
Darüber hinaus wird hier Sexualität zur Lebensmaxime erhoben: Madonna
selbst verkörpert einen Menschen auf der Durchreise, symbolisiert durch den
Koffer, den sie trägt. Sie kommt in das Hotel, holt sich, was sie braucht, und
verlässt den Ort, augenscheinlich zufriedengestellt. Sie fordert für sich das ein, was
nach konventionellen Vorstellungen der Männerwelt vorbehalten ist, nämlich
Sexualität auch außerhalb der im konservativen Amerika einzig akzeptierten
Gesellschaftsinstitution, die dem ― natürlich heterosexuellen ― Geschlechtsakt
vorbehalten ist, der Ehe, zu praktizieren, ins Bordell zu gehen, seine sexuellen
Wünsche zu artikulieren und sie auszuleben. So nimmt Madonna, wie auch in
„Express Yourself“, für sich dasselbe Recht in Anspruch, das sonst nur Männern
zugesprochen wird: Sie ist selbstbestimmt und nimmt ihr Recht wahr, ihre
sexuellen Phantasien unbeirrt von gesellschaftlichen Konventionen und ohne Angst
vor Tabubrüchen auszuleben. Daher lautet auch das Motto des Songs, das von
Madonna selbst innerhalb des Songs gesprochen und am Ende des Clips noch
einmal eingeblendet wird: „Poor is the man whose pleasures depend on the
permission of another“ (wobei „man“ vermutlich doppeldeutig als „Mann“ und
„Mensch“ verstanden werden kann!).
Dass Madonna Liebe mit körperlicher Liebe gleichstellt ― was bereits bei der
Analyse des Clips „Express Yourself“ herausgestellt wurde ― wird hier auf die
Spitze getrieben. Der Titel des Songs, „Justify My Love“, und das angeführte Motto
haben
die
rechtfertigen.
Funktion,
die
im
Clip
dargestellte
sexuelle
Freizügigkeit
zu
160
Dass das amerikanische Publikum über einen solchen Clip entsetzt war, mag
nicht verwundern. So verweigerte auch der Musiksender MTV die Ausstrahlung des
158
Herr, Corinna: „Madonnas Maskeraden im Kontext von Gender und Hermetik“, in: Hochschule für
Musik und Theater Hannover/Beyer, Kathrin/Kreutziger-Herr, Annette (Hrsg.): Musik. Frau. Sprache.
Interdisziplinäre Frauen- und Genderforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover,
Herbolzheim: Centaurus Verlag 2003, S. 350. – So wird in einer Szene gezeigt, wie sich das androgyne
männliche Pärchen gegenseitig Schnurrbärte aufmalt.
159
Ebd.
160
Vgl. Ebd. – Wie man sich denken kann, wurde der Clip besonders von Homosexuellen positiv
aufgenommen. So haben diese und andere Clips erheblich dazu beigetragen, dass Madonna außerdem
zu einer Ikone der gay community geworden ist. Vgl. Volkmann, Laurenz: „Madonna und postmoderne
Identitätskonstruktionen:
Die
Warenlogik
der
Unterhaltungsindustrie“,
einzusehen
in:
http://www.gradnet.de/papers/pomo2.archives/pomo99.papers/volkmann99.htm, Zugang: 28.04.2005.
59
Clips, was Madonna aber lediglich noch mehr Publicity verschaffte. Ihre Reaktion
auf die Zensur bestand darin, die erste Video-Single, die überhaupt je produziert
wurde, herauszugeben. Wie öffentlichkeitswirksam Skandale sein können, zeigt sich
hier auf augenfällige Weise: Die Video-Single war so erfolgreich, dass sie sich
800.000 mal verkaufte. 161 Das Ergebnis der Kontroverse um ihren Clip war, dass
„Justify
My
Love“
und
das
dazugehörige
Best-Of-Album,
„The
Collection“, auf den oberen Plätzen der CD- und Videocharts landeten.
Immaculate
162
So war Madonna zu Beginn der 1990er Jahre zu einem Sexsymbol avanciert.
1991 ließ sie schließlich den Videofilm „Truth Or Dare ― In Bed With Madonna“ 163
folgen, einer Dokumentation ihrer „Blond Ambition Tour“: Darin scheint sie allein
durch Titel und Cover des Videos ― es zeigt sie in lasziver Pose mit schwarzen
Dessous
auf
weißer
Satinbettwäsche,
mit
Marilyn-Monroe-Frisur
und
rotgeschminkten Lippen ― eine ungenierte Zurschaustellung ihrer intimsten
Ansichten und Momente zu versprechen. Das 1992 erschienene, und an das
skandalträchtige Image anschließende Album „Erotica“ durfte wegen seines
eindeutig zweideutigen Covers (Anhang I, Abb. 05) teilweise nur in einer
zusätzlichen Verpackung verkauft werden. 164 Es folgte die Veröffentlichung ihres
Buches mit dem Titel „Sex“, einer „publicityträchtige[n] Ausstellung ihres nackten
Körpers
in
pornographischen
Gesten“ 165
zur
Unterstützung
des
parallel
erschienenen Albums „Erotica“. Der 1993 in den Kinos laufende Film „Body Of
Evidence“ 166 , in dem Madonna die Hauptrolle spielte und der aufgrund zahlreicher
Sexszenen Madonnas Wunsch, sich als seriöse Schauspielerin zu etablieren, eher
abträglich war, wurde bei Kritikern zu einem Misserfolg.
So schien Mitte der 1990er Jahre das Thema Sexualität für Madonnas
künstlerische Produkte ausgereizt und eine Phase der Madonna-Müdigkeit machte
sich breit: Das Publikum war übersättigt mit Madonna-Bildern, die nichts mehr über
ihre Künstlerin zu erzählen wussten, was nicht schon erzählt worden wäre.
Offensichtlich
war
es
Madonna
nicht
mehr
möglich,
den
eingeschlagenen,
exhibitionistischen Weg weiterzugehen, weil es nichts mehr zu zeigen gab, wie ein
Journalist in einer Artikelüberschrift zum Ausdruck bringt: „Alles gezeigt, was es zu
161
162
163
164
165
166
Vgl. Morton 2002, S. 284.
Vgl. Clerk 2002, S. 102.
Regie: Alek Keshishian.
Vgl. Volkmann.
Wicke 1998, S. 266.
Regie: Ulrich Edel.
60
zeigen gibt. Stockender Verkauf, geringes Interesse am neuen Film ― der
Markenartikel ‚Madonna’ ist out.“ 167
Der Videoclip, der im Zentrum des nächsten Kapitels steht, zeigt daher die
Sängerin in der Phase nach den körperbetonten Exzessen. In der darauffolgenden
Phase sollte sie sich von der Künstlichkeit entfernen und Natürlichkeit in den
Vordergrund rücken. Die Madonna am Ende der 1990er Jahre zeigte sich mit einem
vollständig neuen Image, das sie weiser und integrativer darstellen sollte. So schien
die Zeit des Brüskierens und Posierens vorbei zu sein. Im Vordergrund stehen nun
Ernsthaftigkeit und Authentizität, Glaubwürdigkeit, Tiefe und Bewusst-Sein statt
Schein, was anhand der Analyse des Clips zum Song „Frozen“ dargestellt werden
soll. Madonna behält weiterhin die Macht über ihr Image, die Kontrolle verschafft
sie sich nun durch Lebensweisheit und die Verbundenheit mit der Natur.
2.3
FROZEN (1998)
„Madonna, Mond und Sterne“ betitelte die taz am 13. März 1998 ihren
Artikel zum neu erschienenen Madonna-Album „Ray of Light“. Und weiter heißt es:
Das Material Girl wohnt hier nicht mehr: Zum neuen Album „Ray of Light“ ist
Madonnas Künstlichkeit einer künstlichen Natürlichkeit gewichen. Der Sound ist
Sphäre und Raum, und über allem liegt ein Hauch Esoterik: Statt Sex setzt es
Kitsch, Kabbala und Liebe. 168
Mit der Veröffentlichung ihres siebten Albums im Frühjahr 1998, das von Madonna
selbst als ihr bestes bezeichnet wird, 169 gelang es der Künstlerin nach einer langen,
auch kommerziell weniger erfolgreichen Phase, wieder an alte Erfolge anzuknüpfen.
Das Album, „das New-Age- und Weltmusik-Einflüsse integriert und Ambient und
Trance als aktuelle Tanzmusik-Stile mit älteren verknüpft“ 170 , wurde von Kritikern
hoch gelobt und brachte ihr vier Grammies ein, unter anderem einen für das beste
167
Pfister, René: „Alles gezeigt, was es zu zeigen gibt. Stockender Verkauf, geringes Interesse am neuen
Film ― der Markenartikel ‚Madonna’ ist out“, in: SonntagsZeitung vom 14. Februar 1993, S. 18.
168
Blümner, Heike: „Madonna, Mond und Sterne“, in: taz Nr. 5481 vom 13.03.1998, S. 15.
169
Vgl. Bullerjahn 2001, S. 213.
170
Ebd. - Hatte sie auf ihrem Album „Bedtime Stories“ (1994) schon einen sehr europäischen Sound mit
zeitgemäßen Trance- und Ambient Dance-Rhythmen abgegeben (der Song „Bedtime Story“ ist von Björk
geschrieben), geht das Album „Ray Of Light“, für das sie mit Patrick Leonard, Mario de Vries und dem
britischen Ambient-Produzenten zusammen gearbeitet hat, diesen Weg konsequent weiter. Es ist ein
elektronisches Album, durchzogen von verspielten Effekten, die die Handschrift eines William Orbit
tragen, „so dass es zirpt, raschelt, hallt, surrt und knarzt ohne Unterlass.“ Blümner 1998.
61
Popalbum. Der Song „Frozen“ 171 , eine der Single-Auskopplungen des Albums, war
Madonnas erster Nummer-1-Hit in England seit „Vogue“ im Jahre 1990.
Wie das oben angeführte taz-Zitat andeutet, legte Madonna sich passend
zum neuen Album auch ein neues Image zu, das im Vergleich mit dem der „Sex“Phase nicht gegensätzlicher hätte ausfallen können. Mit ihrem 1994 erschienen
Album „Bedtime Stories“ hatte sie ein letztes Mal mit ihrem Image als Sexsymbol
kokettiert: Cover (Anhang I, Abb. 06) und Booklet zeigen sie in einer modernen
Marilyn-Monroe-Dita-Parlo-Version
mit
Nasenpiercing,
roten
Lippen,
schwarz
umrandeten Augen und blondgelocktem kurzen Haar in weißem Négligé auf einem
großen, türkisfarbenen, plüschigen Bett.
Mit der Veröffentlichung ihres Balladenalbums „Something To Remenber“
(1995) und der Rolle der Evita Peron in Allan Parkers Verfilmung des WebberMusicals „Evita“, das 1996 in die Kinos kam, entfernte sie sich mehr und mehr von
ihrem alten Image. Nach ihrer ersten Schwangerschaft und der Geburt ihrer
Tochter Lourdes im Oktober 1998 entdeckte sie Ende der 1990er Jahre den
Buddhismus und kurz darauf die Kabbala-Lehre für sich. Die Boulevardpresse stellte
Madonna in ihrer neuen Rolle als liebevolle und glückliche Mutter dar, die ― vom
Vater des Kindes getrennt lebend ― als bewusster single parent ihre Tochter
großzog. 172 Auf der Suche nach Erneuerung und neuen Wegen entdeckte sie
gleichzeitig einen neuen Modetrend, den sie mit ihrem Album „Ray Of Light“ und
den jeweiligen Videoclips verbreitete: „Ray Of Light“ (Anhang I, Abb. 07)
präsentiert eine in sich ruhende und Zufriedenheit ausstrahlende Madonna mit
langem, gelocktem, naturblond wirkendem, im Wind wehenden Haar und einem
schillernden, hellblauen Kleid. Im Booklet wird eine tanzende Madonna mit offenem
Haar abgebildet, Sensualität und Neubeginn suggerierend. Sexualität wird hier nur
noch auf sehr subtile Weise angedeutet: „Ihre künstliche Künstlichkeit ist einer
künstlichen Natürlichkeit gewichen: Madonnas neuer Look wäre perfekt für eine
Werbekampagne für Parfüms mit den Namen ‚Joy’, ‚Sun’, ‚Life’ oder ‚Optimism’.“ 173
Von der „femme fatale“ der früheren Jahre hat sie sich verabschiedet, in die Stelle
von sexueller Erfahrungen tritt Lebenserfahrung, geprägt durch eine neue Form von
Esoterik und Spiritualität. So sieht nach Heike Blümner das Cover des Albums so
aus,
171
172
173
„wie
geschmackvolle
Menschen
sich
visualisiertes
‚positives
Denken’
„Frozen“ wurde produziert von Madonna und Patrick Leonard.
Vgl. Volkmann.
Blümner 1998.
62
vorstellen: sehr, sehr sauber und ordentlich sind die Fotos auf krisp-blauen
Hintergrund gelegt.“ 174
Die Trance-Ballade „Frozen“ steht damit ganz im Zeichen ihres neuen
Images, dass sich die Sängerin während ihrer ersten Schwangerschaft zugelegt hat.
Der dazugehörige Videoclip ― 1998 von Chris Cunningham 175 produziert ― zeigt
Madonna von einer dunklen, mystischen Seite. Das Cover zur Single (Anhang I,
Abb. 13) zeigt das Portrait der Künstlerin in der der Tendenz des Albums folgenden,
harmonischen
Atmosphäre
vor
einem
okkafarbenen,
Wärme
suggerierenden
Hintergrund. Somit wird ersichtlich, dass das im Clip dargestellte Image als nur
eine Facette ihrer neu definierten Künstlerpersönlichkeit angesehen werden darf,
auf das im folgenden Kapitel explizit eingegangen werden soll. Die Analyse des
Clips soll sich dem anschließen.
2.3.1 Image
Mit ihrem neuen Image als glückliche alleinerziehende Mutter bewegte sich
Madonna weg von der Sexualisierung und hin zu einer Sensualisierung. Eine neue
Ernsthaftigkeit prägte ihre Wirkung nach außen, gepaart mit beinahe als archaisch
zu bezeichnender Mütterlichkeit. Dies bedeutete gleichzeitig das Ende von grotesker
Übersteigerung oder Karikierung des verwendeten kulturellen Zeichensystems. Das
Spiel mit den Erwartungen und der Reiz an der Provokation sind Kategorien wie
Ernsthaftigkeit, Sinnfälligkeit und Authentizität gewichen. 176
So sind nicht nur ihr Album, sondern auch ihre Videoclips durchzogen von
esoterischem
Gedankengut,
von
kabbalistischen,
buddhistischen
und
konfuzianischen Glaubenslehren bis hin zu südostasiatischen Lebensweisheiten, die
sich auch stilistisch niederschlagen, z.B. in der Art der Kleidung, bestimmten
rituellen Gebährden, traditionell definierten, artifiziellen Zeichen und einem stark
reduzierten Make-up, um nur einige Aspekte zu nennen. Äußerlichkeiten stehen
weiterhin im Vordergrund, daneben aber gewinnen inhaltliche Aspekte zunehmend
an Gewicht. Das Bild der betont extrovertierten Kunstfigur früherer Clips, die ihre
174
Ebd.
Cunningham, britischer Regisseur für Videoclips, Werbeclips und Videokunst, ist u.a. bekannt
geworden mit Videoclips für Leftfield („Africa Shox“), Autechre („Second Bad Vilbel“), Portishead („Only
You“), Björk („All is Full Of Love“) oder für Aphex Twin („Come to Daddy“, „Windowlicker“ und „Monkey
Drummer“).
176
Bei aller „Natürlichkeit” handelt es sich natürlich auch bei diesem „neuen“ Image um eine mediale
Inszenierung, die nur bedingt etwas mit der natürlichen Privatperson Madonna zu tun hat, da es sich ja
auch bei der „neuen“ Madonna um ein „Markenprodukt“ handelt, dessen mediale Wirkung genauesten
kalkuliert ist.
175
63
erotische Ausstrahlung offen zu Markte trug und die ihren Sexappeal als höchstes
Kapital
einsetzte,
wird
abgelöst
von
einer
deutlich
zurückgenommenen
Künstlerpersönlichkeit, die augenscheinlich das Interesse an der Provokation
verloren hat und mehr an inhaltlichen denn an äußerlichen Veränderungen
interessiert zu sein scheint. Wirkte die Künstlerin vorher hart und kompromisslos,
erscheint sie nun weicher, warmherziger und verständnisvoller. Was vorher auf
Konfrontation hinauslief, zeigt sich jetzt als Einsicht, Güte und Gelassenheit.
Die Sängerin, die sich nun öffentlich mit dem Namen ihres mystischen alter
ego „Veronica Electronica“ ansprechen ließ, 177 hatte den Schritt vom Körperlichen
zum Spirituellen vollzogen, „in Madonnas Fall also vom Material Girl zur ätherischen
Mutter“ 178 , eben so, wie es die Lehre der Kabbala 179 vorgibt. So handeln die
Songtexte des Albums „Ray Of Light“ auch nicht mehr von sexueller Befreiung,
sondern predigen Lebensweisheit, zelebrieren Mutterglück und erzählen von den
Schattenseiten einer Starexistenz. Die Anfangszeilen des ersten Songs „Drowned
World / Substitute For Love“ können als Motto des Albums gelesen werden: „I
traded fame for love / Without a second thought / It all became a silly game /
Some things cannot be bought“. Der dazugehörige Videoclip 180 (Clip 08), in dem
„Madonna ihr nicht immer erfreuliches Leben als Star, ständig auf der Flucht vor
Paparazzi [reflektiert]“ 181 , zeigt eine Madonna, die erstmals Authentizität zu
suggerieren und das Spiel mit den Masken aufgegeben zu haben scheint. Doch die
Bilder des Videoclips zu „Frozen“ machen deutlich, dass die Künstlerin auch Ende
der 1990er Jahre weiterhin mit Weiblichkeitsinszenierungen spielt.
2.3.2 Clipanalyse
Der Clip (Clip 07) zeigt Madonna in einer Wüste als eine mystische Gestalt,
die sich abwechselnd in einen oder mehrere schwarze Raben oder einen schwarzen
177
Vgl. Morton 2002, S. 377.
Ebd.
179
Hebr. „Überlieferung“. Seit dem 13. Jh. Name der jüdischen Mystik, die sich als esoterische Lehre der
Juden in eigenen Schulen von Spanien und Südfrankreich aus verbreitet hat. Die Kabbala ist eine
Sammlung überlieferter jüdischer, mystischer Texte, die auf dem Sohar-Text basieren, einer 2000 Jahre
alten Schrift. „Die Kabbala erklärt die Beziehungen zwischen dem Selbst, Gott und dem Universum und
betont dabei das Bedürfnis nach Frieden und Harmonie zwischen dem Physischen und dem Spirituellen.“
Morton 2002, S. 375 f. - Das Kabbalazentrum, eine Organisation mit Zweigstellen in der ganzen Welt,
hat mit Rabbi Philip Berg, einem ehemaligen Versicherungsvertreter, eine „Kabbala Light“-Version
entwickelt, die in den USA inzwischen einen Kultstatus erlangt hat. Die anziehende Wirkung dieser
mystischen Lehre auf Madonna besteht nach Andrew Morton darin, dass sie ihr eine „spirituelle
Begründung, einen metaphysischen Kontext für die Kernwerte und Überzeugungen, die sie bisher
angetrieben haben“ liefert. Ebd., S. 176 f.
180
„Drowned World / Substitute For Love“, 1998, Regie: Walter Stern.
181
Bullerjahn 2001, S. 219.
178
64
Hund verwandelt, während sie von der Liebe singt, die es nur geben könne, wenn
man bereit sei, sein Herz zu öffnen. 182
Der
Clip
beginnt
mit
einer
Kamerafahrt
über
einen
ausgedorrten
Wüstenboden, erkennbar an der harten lehmigen Erde, die von einem Geflecht aus
tiefen Rissen durchzogen ist und den Eindruck höchster Trockenheit hinterlässt. Das
Licht ist bläulich-kühl, die Wüste erscheint vollkommen unbelebt. Am weiten
Horizont erscheint über den Boden schwebend mit gesenktem Kopf eine reglose
schwarze Gestalt, eingehüllt in von kräftigen Windstößen aufgeblähte schwarze
Tücher und schwarzen, weiten Gewändern.
Am
Ende
des
Intros
ist
die
Kamera
bei
der
fokussierten
Gestalt
angekommen und zeigt sie beim Singen der ersten Strophe. Der obere Teil ihres
hüftlangen,
glatten
schwarzen
Haares
ist
am
Hinterkopf
kunstvoll
zusammengesteckt, das Gesicht wirkt blass und kaum merklich geschminkt. Die
Figur trägt einen weiten, seidig glänzenden, bodenlangen schwarzen Rock. Der
schwarze Tüll der Ärmel lässt die Blässe ihrer Haut erahnen, die Rücken und
Decolleté unverhüllt freilegen. Im Kontrast zu dem muskulösen und mitunter
maskulinen Auftreten der Künstlerin Anfang der 1990er Jahre wirkt sie hier deutlich
angreifbarer, weicher und verletzlicher. Der durch exzessives Fitnesstraining
gestählte Körper und der Habitus der Unnahbarkeit sind einem zwar noch immer
kraftvollen und sehnigen, aber weitaus natürlicherem Erscheinungsbild gewichen:
Er dokumentiert auf körperlicher Ebene die Abkehr der Künstlerin von der reinen
Äußerlichkeit als Zeichen von Vitalität und Leistungsfähigkeit und die Hinwendung
zu einem veränderten Körperbewusstsein, das den Körper nicht mehr nur als
„Ausstellungs-Objekt“ begreift, sondern als Teil einer Einheit, als „Gefäß“ und
Ausdruck der Seele. Die Figur in „Frozen“ hat nichts mehr von dem vorlauten
Mädchen der „Girlie Show“: Ihr Blick ist gesenkt, wirkt beinahe verunsichert und
suchend und weicht der Kamera aus, während sie das Motto des Songs vorträgt:
„You only see what your eyes want to see / How can life be what you want it to be /
You’re frozen / When your heart’s not open.” (Anhang II) Dabei bewegt sich ein
schwarzes Tuch ― verwirbelt vom Wind ― in schlängelnden Bewegungen über den
Wüstenboden auf sie zu, bis es schließlich in ihren Händen liegt.
182
Der 350 000 Dollar teure Clip wurde in der Mojave-Wüste, im Südwesten der USA, gedreht.
Ursprünglich waren vier Drehtage geplant, doch wegen Regengüssen musste der Dreh nach zwei Tagen
abgebrochen werden. Durch digitale Nachbearbeitung konnte Cunningham das Material allerdings retten.
Vgl. Beier, Lars-Olav/Wellersdorf, Marianne: „Die Entfesselung der Kamera“, in: Der Spiegel 1/2004.
65
Mit Einsetzen des Refrains kippt ihre Gestalt in Richtung Kamera und
zerschellt auf dem Wüstenboden in viele schwarze Einzelteile, die als Raben in alle
Richtungen davonfliegen. Im Anschluss erscheint die Figur wiederhergestellt, aber
verdreifacht, als eine mystische „Madonna Selbdritt“: Nebeneinander stehend bzw.
auf
dem
Boden
aufeinanderfolgenden
kauernd
Phasen
befinden
oder
drei
sich
entsprechend
Facetten
einer
drei
zeitlich
Persönlichkeit
drei
identische, schwarzgekleidete Frauengestalten, die der Reihe nach in die Kamera
singen, sich von ihr abwenden und auf den Wüstenboden sinken.
In der zweiten Strophe findet eine weitere Verwandlung statt: Die in sich
versunken scheinende Figur, die ― eine fast vollkommene tänzerische Einheit mit
dem sie umspielenden schwarzen Tuch bildend ― mit trancehaften, ästhetische
Perfektion
anstrebenden
Tanzbewegungen
ihr
imaginäres
Gegenüber
zu
beschwören scheint, nimmt schließlich die Gestalt eines großen, schwarzen Hundes
an. Der Dobermann, in seiner hochgewachsenen und athletischen Erscheinung ein
Sinnbild maskuliner Eleganz und Schönheit, wirkt durch seine Stärke gleichzeitig
bedrohlich und einschüchternd wie majestätisch und würdevoll: In weiten,
kraftvollen Sprüngen bewegt er sich auf die Kamera zu, die seinen geraden, einen
imaginären Punkt am Horizont fixierenden Blick einfängt.
Die zweite Wiederholung des Refrains zeigt wieder die mystische Gestalt, die
ihre tanzartigen, kraftvollen Bewegungen vollführt, das schwarze Tuch immer in
den Händen, das sie um ihren Körper windet und unter anderem dazu benutzt, die
Transformierung ihrer menschlichen Gestalt in eine andere visuell zu unterstützen.
Das auf die zweite Wiederholung des Refrains folgende Intermezzo,
dominiert von Streichern und orientalisch anmutend in der Melodieführung, zeigt
die Wüste zunächst menschenleer: Wolken ziehen am Himmel entlang, der
Einbruch der Nacht wird in Zeitraffer dargestellt. Schatten der Wolken fallen auf
den trockenen Wüstenboden, vor dem sich verdunkelnden Himmel zeichnen sich
Sterne ab und vermitteln Impressionen wie aus einem „Märchen aus 1001 Nacht“.
Die Frauenfigur schwebt ― eingehüllt in flatternde Tücher, die sie wie schwarze
Flammen umspielen ― in den Himmel, als fast ätherische, körperlose Erscheinung.
Der Hund ― gebannt von dem imponierenden Naturschauspiel und angezogen von
der gleichzeitig herrisch-gebieterischen und lockenden Geste der Frauenfigur, die
ihn zu sich zu rufen scheint ― fixiert sie mit smaragdgrünen Augen und lenkt den
Blick des Betrachters so in das Zentrum des Geschehens: die Veränderungen, die
sich anschließend vor dem Horizont der Wüstenlandschaft abspielen. Im weissen,
66
kalten Licht des Mondes erscheinen die Bilder nun noch düsterer als zuvor. Die
Frauenfigur wirkt in ihrer Unnahbarkeit und schwarzen Erscheinung bedrohlich,
einem Vampir gleich durch die Dunkelheit schwebend, wie eine stillschweigende
Verbündete mit den imaginären Mächten der Finsternis. Sie ist nicht mehr
menschliches Wesen, sondern schwarze Magierin, Hexe, Göttin der Nacht, Dämon,
oder einfach ein Alptraum in der Nacht, um nur einige menschliche Angstphantasien
zu zitieren. In der nächsten Einstellung wird aus dem Himmel der Wüstenboden,
aus dem Madonna mit ihren Händen das Wasser saugt.
Mit wieder einsetzender Strophe ist die Kamera auf Madonna gerichtet, die
nun
auf
dem
Boden
kniet,
den
Oberkörper
nach
vorn
gelehnt,
in
einer
Demutsgeste, oder aber als Ausdruck ihrer Erdverbundenheit.
Beim
Refrain
erscheint
sie
wieder
in
der
dreifachen
Version,
in
Dreiecksformation mit den Rücken einander zugeordnet. Die Figuren führen
kontrollierte, langsame Bewegungen durch, schreiben mit ihren Händen Zeichen in
die Luft. In den letzten Einstellungen erscheint sie spinnengleich. Sie kniet auf dem
Boden, der Oberkörper ist nach vorn übergebeugt und mit ihren hennabemalten
Händen und den dunkel lackierten Nägeln scharrt sie in der trockenen Erde.
Auffällig ist in diesem Clip wieder, wie in den bisher betrachteten Clips auch,
wie stark die Formteile der Musik die Struktur des Clips bestimmen: Mit jedem
neuen Formteil verändern sich die Bilder. Die Visualisierung der Musik erscheint
außerdem als eine direkte Übersetzung des Sounds, was Cunningham durch die
Kamerabewegung, die fließend scheinenden Übergänge zwischen den einzelnen
Einstellungen, surrealistische Motive, die Farbgestaltung und die Wahl der Kulisse
erreicht. Wirkt die Musik allein schon bedrohlich durch den pulsierenden Beat, „kalt“
durch den Techno-Sound und sphärisch durch die Streicher ― vor allem in dem
kurzen, orientalisch anmutenden Intermezzo, das durch die Glissandi und den
unregelmäßigen
Rhythmus
die
Bodenhaftung
zu
verlieren
scheint
―,
so
unterstreichen die Bilder ihren mystisch-entrückten Charakter. Visuell umgesetzt
werden diese Assoziationen in der über den Boden schwebenden, „ätherischen“
Frauengestalt vor dem nächtlichen Sternenhimmel. Die Kälte wird erzeugt durch die
mit kühlen Farben ausgeleuchtete Kulisse, die Trockenheit und Leblosigkeit der
menschenleeren Wüste, die dunkle Erscheinung der Frauengestalt und der Blick
ihrer eisblauen Augen, ihre Transformationen und die Symbole, die Assoziationen
wie Angst und Bedrohung hervorrufen.
67
Darüber hinaus entspricht das Tempo der Bilder dem balladenhaften
Charakter des Songs. „Frozen“ ist ein langsamer Clip. Die wenigen Schnitte wirken
weich durch Überblendungen, Morphing und langsame Kamerafahrten, die den Blick
des Betrachters leiten. Die Bilder vermitteln den Eindruck von Ruhe, womit sie der
Erscheinung Madonnas als ein in sich ruhendes, autarkes Wesen entsprechen.
Auch Madonnas Stimme ist der Botschaft und dem Charakter des Songs
angepasst: Sie wirkt klar und ungeschützt in den Strophen, im Refrain unterstützt
durch Streicher und Chor. Sie ist weich und natürlich, alles andere als aufgeladen
und aggressiv wie in „Express Yourself“, aber bestimmend. Die Stimme entspricht
damit der körperlichen Erscheinung der Sängerin, die, obgleich sehr viel zarter,
dennoch kraft- und energiegeladen wirkt.
Madonna zeigt sich in diesem Clip als die Weise, als Magierin, die auf ihren
Händen magische Symbole trägt und mit der Natur in tiefer, ursprünglicher
Verbindung steht: Sie ist Herrscherin über die Elemente, die den Tag zur Nacht
machen kann und das Wasser aus der scheinbar ausgetrockneten Erde zieht. 183
In diesem Clip geht es um die Abkehr vom puren Materialismus und
einseitiger Diesseitsbezogenheit, kurz, einer hedonistischen Lebensweise. Madonna
vollzieht den Schritt von der vita activa zur vita contemplativa, durch den der Blick
auf das Wesentliche geschärft werden soll und bei dem inhaltliche Werte im
Vordergrund stehen. Der Tod scheint in diesem Clip allgegenwärtig, der Topos des
memento mori durchdringt die Sprache der Bilder, hervorgerufen durch die
Symbolik (s.u.). So ruft Madonna die Zuhörer bzw. Betrachter dazu auf, ihre Zeit
nicht mit „hate and regret“ zu verschwenden und sich von materialistischen
Interessen zu distanzieren („You’re so consumed with how much you get“).
Auch in diesem Clip betreibt Madonna ein Spiel mit der Androgynie, doch
steht nicht mehr das Körperlich-Sexuelle im Vordergrund. Androgynie wird hier als
ein Spiel mit dem Verwischen der Grenzen zwischen den Geschlechtern verstanden.
Die Protagonistin verwandelt sich in einen Hund und einen Raben, beides Tiere, die
bestimmte Assoziationen wecken und über symbolhafte Bedeutungen verfügen. So
gilt der schwarze Hund als das Symbol des Wächters der Unterwelt. Der Hund als
183
Nicht nur aufgrund der visuellen Effekte ― wie etwa das Aufsaugen des Wassers mit ihren Händen
aus dem Wüstenboden ― erinnert der Clip an die 1992 von Bram Stroker neuverfilmte Version von
„Dracula“ mit Anthony Hopkins, Winona Ryder und Keanu Reeves. Denn auch Madonna zeigt sich in ihrer
Fähigkeit, die Elemente zu beherrschen, ihren Körper zu verlassen, ihrer Transformationsfähigkeit in
Tiere, „vampirgleich“.
68
die zivilisierte Form des Wolfes ist ein Dobermann, ein Symbol für Macht,
ausgedrückt durch seinen athletischen Körperbau. Durch seine maskuline und
heroische Erscheinung strahlt er Macht, Dominanz und Kontrolle aus, was zusätzlich
durch seine smaragdgrünen 184 Augen zum Ausdruck gebracht wird. Auffällig sind
diese Augen deshalb, weil es sonst im Clip keine Farbe gibt. Doch die Farbe grün,
die traditionell für die Hoffnung steht, ist hier fluoreszierend, kühl und stechend,
der Blick des Hundes durchdringend und bedrohlich. So könnte die Verwandlung der
Frauenfigur in einen Hund ― wie oben bereits erwähnt ― ihre männlichen Anteile
zum Ausdruck bringen, ebenso wie ihren Willen nach Macht.
Der Rabe kann unterschiedliche symbolische Funktionen erfüllen: Verkörpert
er im Glauben vieler Völker einen Unglücks- und Seelenvogel oder gilt als
Personifikation des Teufels, so wird er auch als kluger und beratender Begleiter des
Menschen angesehen (aber auch der Hexe). Allgemein steht er für den Tod, aber
eben
auch
für
Weisheit. 185
Madonna
bedient
sich
in
diesem
Clip
der
Doppeldeutigkeit, die das Bild des Raben impliziert. Zum einen erinnert er daran,
dass der Tod allgegenwärtig ist, wenn alles erfriert, weil man sein Herz nicht öffnet.
Zum anderen steht er für die (Lebens-)Weisheit, die Madonna für dieses Image für
sich in Anspruch nimmt. Daß die Frauenfigur sich in viele davonfliegende Raben
transformiert, kann als Indiz für ihren Facettenreichtum und ihre geistige
Beweglichkeit angesehen werden. Sie ist lebenserfahrener und weiser geworden,
versteht sich als Botschafterin der Wahrheit.
Madonna stellt sich als Naturphänomen dar, sie bewegt sich mit den
Elementen, d.h. sie folgt den Bewegungen des Windes. Sie ist Teil der Natur,
vereint
sich
mit
ihr
und
zieht
ihre
Energie
aus
ihrer
Umgebung.
Diese
Wandelbarkeit, das Auflösen der Grenzen zwischen Mensch und Tier, die Belebung
von leblosen Dingen (Tuch) wird hier zum Ausdruck von Macht. Sie ist wandelbar
und anpassungsfähig. Gleichzeitig wirkt sie wie ein autarkes Wesen, das nur für
sich selbst steht.
Die Bilder des Clips werden von dunklen Farben dominiert. Madonna hat
schwarzes Haar, trägt schwarze Kleidung, Raben und Hund sind schwarz, die Nacht
ist schwarz. Schwarz ist die Farbe des Todes, der Trauer und des feierlichen
Ernstes, des Geheimnisvollen, Gesetzwidrigen und Bösen. Die Nacht ist darüber
184
Auch hier gibt es wieder einen Verweis auf das Märchenhafte, Surrealistische: Smaragde gibt es in
den Märchen von 1001 Nacht. Grün ist eine magische Farbe, auch die Farbe von Absinth.
185
So bringen im germanischen Mythos die Raben Huginn und Odin Nachrichten aus aller Welt. Bei den
nördlichen Stämmen der Nordwestamerikaner spielt der Rabe Yelch die Rolle des Kulturheroes, der den
Menschen die Sonne bringt, und die eines listenreichen Tierhelden.
69
hinaus traditionell weiblich konnotiert. Sie spiegelt die dämonische Seite der
Weiblichkeit wieder, wie auch ganz deutlich in diesem Clip zum Ausdruck gebracht
wird. Die dämonische Seite Madonnas in diesem Clip wirkt sowohl kraftvoll, mächtig
und verführerisch, als auch rätselhaft.
In diesem Videoclip wird ein anderes Bild von Weiblichkeit inszeniert, als
das, was bislang von Madonna entworfen wurde. Die Frau wird als mystisches,
weises Wesen dargestellt. Erfolgte ihre Selbstbestimmtheit zuvor in Bezug zu
Männern, die von Männern dominierte Welt, so zeigt sich das gesamte Album „Ray
of Light“ unabhängig vom anderen Geschlecht. Sex steht nicht im Mittelpunkt,
sondern die Einkehr, die Lebensweisheit. Auch hier wird Macht verhandelt, doch auf
eine andere Art. Madonna demonstriert ihre Stärke nun durch Weisheit. Wurde
zuvor ihre Macht und Stärke auf andere projiziert, benötigt sie nun kein männliches
Gegenüber mehr, um ihre Macht zu demonstrieren. Sie vereint, wie schon zuvor
auch, männliche und weibliche Anteile in sich. Ende der 1990er Jahre tut sie dies
allerdings weniger plakativ und aggressiv, sondern in einem übergeordneten
mystischen Systemzusammenhang.
Macht wurde zuvor immer in Relation zum Äußeren dargestellt, als das
Unterjochen von anderen, mit dem Fokus auf das, was sie umgibt. In der Wüste, in
der der Mensch ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist, verkündet sie geistige
Autarkie, die explizite Abkehr vom Fleisch in einer lebensfeindlichen Umgebung.
Textzeilen wie „give yourself to me“ oder „you hold the key“ erwecken in diesen
Clip keinerlei sexuelle Konnotationen. Denn im Vordergrund steht nun die
Betrachtung der Liebe als eine geistige Vereinigung.
Die verschiedenen Facetten, die sie zuvor auf viele Personen verteilt hat,
vereint sie hier. Doch auch dies ist wieder eine Maske, und zwar die Maske von der
geistig herrschenden Frau. Mit dem Album „Ray Of Light“ hat sich ein Bruch in der
Symbolik vollzogen, doch sind die Bilder ebenso symbolgeladen wie zuvor; die
Sprache ist allerdings eine andere.
Mit Erscheinung ihres folgenden Albums „Music“ im Jahre 2000 erfuhr ihr
Image wieder eine Umakzentuierung. Die Millenium-Madonna zeigt sich nach
Mutterschaft und Meditationsphase wieder sehr viel extrovertierter und glamouröser
als die „Ray Of Light“-Madonna. Der „Veronica Electronica“ folgt die „Lady
Madonna”, das neue alter ego mit Platz in der britischen Gesellschaft. „Sie hat jetzt
70
die englische Aristokratie im Sinn und will ihr Image verändern. Sie will jetzt eine
Lady werden und die Vergangenheit vergessen.“ 186
Der Videoclip, der im Zentrum des nächsten Kapitels steht, zeigt ein
weiteres Modell von Weiblichkeit, das wenig gemein hat mit der neuen „Mrs.
Ritchie“, die mit der Gesellschaft konform zu gehen scheint. Die Analyse des 2001
gedrehten Clips „What It Feels Like For A Girl“ wird zeigen, dass das Thema um
Macht und Kontrolle weiterhin Madonnas visuelle Inszenierungen bestimmt, wieder
in einer anderen Variation.
2.4
WHAT IT FEELS LIKE FOR A GIRL (2001)
Der Song „What It Feels Like For A Girl” 187 ist die dritte und letzte
Singleauskopplung aus Madonnas achtem, im Jahre 2000 erschienenen Album
„Music“, dem ersten Madonna-Album, was außerhalb der USA aufgenommen wurde.
Der dazugehörige Clip, bei dem der britische Regisseur Guy Ritchie 188 , mit dem sie
seit Dezember 2000 verheiratet ist, Regie führte, löste aufgrund der darin zur
Schau gestellten Brutalität eine heftige Kontroverse über Gewaltdarstellungen in
den Medien aus. Der Musiksender MTV, der „Haussender“ Madonnas, beschränkte
sich deshalb in den USA auf eine einmalige Ausstrahlung des Clips im Rahmen einer
kritischen Berichterstattung über den Dreh. 189
Das Album „Music“, das Madonna gemeinsam mit William Orbit und dem
franco-schweizerischen DJ Mirwais Ahmadzai produzierte, steht wieder mehr in der
Tradition ihrer Anfangsjahre: Die Songs sind funkiger und weniger ätherisch als die
des letzten Albums. Euro-Dancebeats bestimmen den Grundton und geben eine
Mischung aus French-Disco, leichtem Pop, Folk und Electronica.
Doch im Vordergrund der Rezensionen stand wie immer die Kommentierung
ihres neuen Looks, der mit den dazugehörigen Clips via MTV weltweit verbreitet
wurde. Das bekannteste Accessoire, was zum Markenzeichen dieser Phase wurde,
war ihr Stetson-Cowboyhut, mit dem sie ― vergleichbar mit dem Beginn ihrer
Karriere ― einmal mehr einen „Trend“ setzte. „Wenn es Trend ist, hat es Madonna“,
betitelt die Berliner Zeitung ihren Artikel zur Neuveröffentlichung des Albums. 190
186
Ed Steinberg, zit. n. Morton 2002, S. 401.
Produziert von Madonna, Guy Sigsworth und Mark „Spike“ Stent.
188
Regisseur von „Bube, Dame, König, grAs“ („LOCK, STOCK AND TWO SMOKING BARRELS“), GB 1998;
und „Snatch ― Schweine und Diamanten“ („SNATCH“), USA 2000. Ritchie ist außerdem der Vater ihres
zweiten Kindes Rocco, das im Jahr 2000 geboren wurde.
189
Vgl. Netzeitung. http://www.netzeitung.de; Zugang: 19.03.2001.
190
Böker, Carmen: „Wenn es Trend ist, hat es Madonna“, in: Berliner Zeitung vom 25.09.2000.
187
71
2.4.1 Image
Auf ihrem Albumcover (Anhang 1, Abb. 08) zeigt sie sich in einer
glamourösen Cowgirl-Kostümierung, mit blondem ― im Vergleich zu „Ray Of Light“
um
einige
Nuancen
hellerem
―,
schulterlangem
lockigen
Haar,
einem
breitkrempigen, hellblauen Cowboyhut, einer dunkelblaufarbenen, glänzenden und
mit Pailletten bestickten Bluse und einer dunklen Denimhose, auf deren Taschen
Strasssteine
appliziert
sind
(Rückseite
des
Covers).
Das
ganze
äußere
Erscheinungsbild des Album wird dominiert von Cowboy- und Westernmotiven,
symbolischen Accessoires, die wesentlicher Bestandteil der rassistischen und
sexistischen Kultur sind, die sie als Künstlerin einst so vehement ablehnte.
Überhaupt scheint es, als habe Madonna mit diesem Album begonnen, sich von
ihrer Vergangenheit zu verabschieden. So ist nach Andrew Morton ihr Videoclip zu
dem Song „Music“ (Clip 09), in dem sie in einer Stretchlimousine mit zwei
Freundinnen aus ihrer New Yorker Anfangszeit durch die Stadt fährt, als „eine
liebevolle Hommage und ein Abschiedsgruß an ihre Vergangenheit“ 191 zu verstehen.
Diese These wird zusätzlich dadurch gestützt, dass die Künstlerin im Clip ― wie in
einem Kampf gegen das eigene, ungeliebte Image der Vergangenheit ― als
Comicfigur Leuchtreklamen und Schriftzüge ihrer eigenen Produktionen angreift und
somit symbolisch wie in einem „Rundumschlag“ ihre ungeliebten alter egos
bekämpft, die sich nicht mehr in ihr neues, bürgerliches Selbstverständnis
einfügen: „Cherrish“ (1988), „Rain“ (1992), „Borderline“ (1982), „Bad Girl“ (1992)
und „Material Girl“ (1984), um nur einige Beispiele zu nennen. Dazu passt auch,
dass Madonna zur gleichen Zeit bei öffentlichen Auftritten begann, sich von ihrer
Vergangenheit zu distanzieren 192 .
So entsteht der Eindruck, als habe die neue „Lady Madonna“, wie die
Zeitschrift Rolling Stone sie in ihrer Ausgabe vom Oktober 2000 bezeichnete, nichts
mehr
gemein
mit
der
gegen
bestehende
gesellschaftliche
Konventionen
rebellierenden Künstlerin der vergangenen 18 Jahre, die sich als Verfechterin der
Interessen von gesellschaftlichen und nationalen Randgruppen wie Homosexuellen,
191
Morton 2002, S. 370. – Denn in der Tat ist diese Szene im Clip eine Reminiszenz an die frühen
achtziger Jahre, als Madonna mit ihren ersten Erfolgen in den Clubs New Yorks auftrat und anschließend
in einer Limousine, die die Plattenfirma stellte, mit ihren Freundinnen um die Häuser zog. Vgl. Ebd., S.
201.
192
So habe Madonna, der bei einer Fernsehshow ihr erster MTV-Auftritt mit „Like A Virgin“ präsentiert
wurde, mit der rhetorischen Frage geantwortet: „Kannst du dir vorstellen, dass ich mir ein altes Paar
Strumpfhosen in die Haare gewickelt habe“, womit sie diese ganze Inszenierung, die ihr doch letztlich
den gewünschten Erfolg gebracht hat, „auf den Status eines ‚Fernsehulks’ herabgestuft“ habe. Ein
solcher Auftritt erscheine als eine Verleugnung ihrer Vergangenheit, ihrer Musik, sogar ihrer früheren
Persönlichkeit. Vgl. Ebd., S. 370.
72
Nicht-Weißen und jungen Frauen verstanden hatte. Nach der „bürgerlichen
Wende“ 193 in ihrem Privatleben war es in den letzten Jahren um Madonna ruhiger
geworden. Das Bild in der Presse und das, was sie bei offiziellen Anlässen
präsentierte, war stets das einer glücklichen Mutter und Ehefrau, die mit Ehemann
und Kindern ein zurückgezogenes Leben auf einem englischen Landgut führt und
offensichtlich „erwachsen“ geworden ist, wie Andrew Morton schlussfolgert:
Offenbar hat sich Madonnas ständig präsentes Alter Ego von der „Dita Parlo“, der
goldzähnigen Domina ihrer „Erotica“- und Sex-Ära, in die gute alte Mrs. Ritchie ―
wie sie auf eigenen Wunsch jetzt heißt ―, eine pflichtbewusste Ehefrau und Mutter
verwandelt. 194
Und weiterhin heißt es:
Die Frau, die einst die Titelseite des Playboy schmückte, ist jetzt eher auf Good
Housekeeping zu finden, eine Mutter, die Tugenden von Vollwerternährung,
„liebevoller Strenge“ und Fernsehverbot preist. 195
Die Analyse des Clips zum Song „What It Feels Like For A Girl“ wird zeigen, dass
auch die Figur „Mrs. Ritchie“ offensichtlich wieder nur eine von Madonnas
unzähligen Imagevariationen darstellt. Im Clip zeigt sie sich allerdings in der Rolle
einer Rächerin an der Männerwelt, die darstellt, wie groß die Bedeutung
permanenter gesellschaftlicher Unterdrückung und männlicher Gewalt für Frauen
und Mädchen ist und welche dramatischen Folgen sie haben kann. Das Thema
Macht und Kontrolle bestimmt dabei weiterhin ihre künstlerische Arbeit. Die Analyse
des vorliegenden Clips, die in einem zugleich narrativen als auch analysierenden
Verfahren vorgenommen werden soll, erfolgt deshalb in einer ausführlicheren Form
als die der vorangegangenen, da darin ein Diskurs über ein zeitgenössisches
Geschlechterrollenmodelle geführt wird und ein starker aktueller Zeitbezug gegeben
ist.
2.4.2 Clipanalyse
Der Clip (Clip Nr. 10) zeigt Madonna in der Rolle einer sich als Auftragkillerin
gebenden Frau, die in einem muscle car „eine Spur der Vernichtung hinter sich
herzieht, um am Schluss bei einem Frontalzusammenstoß zu sterben.“ 196
193
Geuen, Heinz/Rappe, Michael: „Chromatische Identität und Mainstream der Subkulturen. Eine
audiovisuelle Annäherung an das Stilphänomen Madonna am Beispiel des Songs ‚Music’“, in: Helms,
Dietrich/Phleps, Thomas (Hrsg.): Clipped Differences ― Geschlechterrepräsentationen im Musikvideo,
Bielefeld: Transcript Verlag/ASPM Beiträge zur Popularmusikforschung 31, 2003, S. 51.
194
Morton 2002, S. 369.
195
Ebd.
196
Geuen/Rappe 2003, S. 47.
73
2.4.2.1 Clipbeschreibung
[0’00’’]
Die ersten Einstellungen des Clips zeigen die Sängerin Madonna in einem
Motelzimmer im Stil der 1950er Jahre, dunkelbraunem, billigem Mobiliar, braunem
Teppichboden, hellen Wänden, einem cremefarbenem Überwurf auf einem breiten
Bett, an dessen Fußende die Sängerin sitzt, die Unterarme auf die Oberschenkel
gestützt, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, so dass ihr Gesicht nicht zu sehen
ist. Sie ist bekleidet mit einem schwarzen BH und einem dunkelblauen Overall, der
nur bis zur Hüfte hochgezogen ist. Ihre Oberarme sind muskulös und sehnig, auf
ihrem linken Unterarm ist eine Tätowierung zu erahnen. Ihre Sitzposition ist
„männlich“, Körper und Körpersprache wirken androgyn. Ihre Haare sind glatt,
kinnlang, von hellblonden und dunklen Strähnen durchzogen.
Links neben ihr auf dem Bett liegt ein Paar schwarzer Handschuhe, hinter ihr
ein silberner Hartschalenkoffer. Auf den beiden Nachttischen rechts und links
neben dem Kopfende des Bettes befindet sich je eine Lampe, beide sind
eingeschaltet. Auf dem rechten Nachttisch (vom Betrachter aus gesehen) befindet
sich ein altes grau-weißes Telefon, eine Toilettenpapierrolle und einige weitere
Utensilien, die aber nicht deutlich zu erkennen sind. Eine Standbildanalyse lässt
erkennen, dass es sich auf dem rechten Nachttisch um Tabletten handelt, auf dem
linken um eine Tablettendose und eine halbleere Flasche mit braunem Inhalt,
vermutlich Alkohol.
Die Protagonistin, nun ganz in den blauen Overall eingekleidet, steht vor einem
Spiegel in ihrem Zimmer, schminkt sich mit einem lachsfarbenen Lippenstift die
Lippen, ihre Augen sind dezent mit dunklem Kajal umrandet. Make-up und
Haarschnitt wirken sehr „Lady-like“ im Gegensatz zu ihrem sehr sehnigen Körper.
Die Perspektive ändert sich: Der Betrachter (die Kamera) ist nun der Spiegel und
zeigt die Künstlerin in einer Portraitaufnahme, die, sich selbst im Spiegel
betrachtend, sich mit beiden Händen am Scheitel ansetzend durch die Haare
streicht. Ihr Gesichtsausdruck ist ernst.
[0’06’’]
Ortswechsel. Der Blick ist auf die Knie einer alten Frau gerichtet, die in einem
Sessel vor einem niedrigen, kniehohen Tisch sitzt. Sie trägt ein türkis-blaues
geblümtes Kleid mit rot-weiß-blauem Blumendruck, eine cremefarbene Strickjacke
mit Lochmuster an Bündchen und Saum, die Brustseiten sind mit einer Art
Alpenmuster bedrückt oder bestickt. Ihre Hände sind faltig, am linken Mittelfinger
trägt sie einen großen, silberfarbenen, rautenförmigen Ring, der in der Mitte einen
weißen Stein einfasst. In der rechten Hand hält sie zwischen Daumen und
Zeigefinger ein Puzzleteil. Auf dem Tisch liegt ein umgedrehter kleiner roter Karton
eines Puzzlespiels, auf dem der Betrachter POCKET PUZZLE lesen kann. Hinter
diesem Puzzlekarton am linken Bildrand befindet sich ein Weidenkorb, in dem
Wollknäuel und zwei Stricknadeln liegen. Die Kamera folgt den Bewegungen der
74
Hände, die die richtige Stelle für das Puzzleteil gefunden zu haben scheinen und es
an der passenden Stelle einsetzen. Die Hände zittern, wobei unklar ist, ob dies von
einer neurologischen Krankheit herrührt oder Ausdruck des Suchens nach der
richtigen Stelle des Puzzleteils im Puzzle ist.
Die Kamera richtet sich nun auf das Gesicht der Person, womit bestätigt wird,
dass es sich um eine alte Dame handelt. Sie trägt den „gängigen“ Kurzhaarschnitt
einer
alten
Frau,
allerdings
kastanienrot
gefärbt,
eine
große,
silber-
bis
kupferfarbene Brille und einen bordeauxroten Lippenstift.
[0’10’’]
Hotelzimmer. Die Protagonistin wieder vor dem Spiegel wie in der letzten
Hotelzimmer-Einstellung. Mit der linken Hand hängt sie sich einen Ohrring an ihr
linkes Ohr: ein silberner Schriftzug mit den Lettern L-A-D-Y, aneinandergereiht zu
einem schillernden, glitzernden, etwa kinnlangen Ohrring. Zurechtrücken des
Kragens. Die Kamera schwenkt vom Gesicht der Frau auf einen Teil des
overallummantelten Arms und ihre Hand um, die einen schwarzen, spitzen
Lackschuh mit einem schmalen hohen Absatz der Marke Prada über den rechten
Fuß zieht. Sie schließt, nun die schwarzen Handschuhe tragend, den auf dem Bett
liegenden silbernen Koffer, dessen Inhalt nicht genau zu erkennen ist. Auf den
ersten Blick scheint es Wäsche zu sein, ungeordnet, achtlos hineingeworfen (eher
eine männliche Art des Kofferpackens). Eine Standbildanalyse lässt erkennen, dass
sich zwischen der Kleidung ein Tablettendöschen und ein „Flachmann“ befinden.
Sie zieht den Koffer mit der rechten Hand vom Bett.
Die nächste Einstellung zeigt sie von hinten auf einer offenen Treppe, die sie
hinuntergeht, in dem die mit der rechten Hand das weißlackierte Geländer umfaßt.
Die Protagonistin befindet sich nun vor dem weißen, steril wirkenden Motel mit
türkisfarbenen Türen, dessen Treppe sie zuvor hinuntergegangen ist, mit dem
Koffer in der Hand. Es ist Tag, rechts und links von ihr sind ein paar
Palmengewächse zu erkennen. Es scheint ein leichter Wind zu wehen, was an dem
leicht wehenden Haaren der Protagonistin und den Blättern der Pflanzen zu
erkennen ist. Das vordere Drittel des Bildschirmes wird von dem Dach eines gelben
Autos eingenommen, auf das, wie sich in den nächsten Einstellungen zeigen wird,
die Frau in dem Overall zielstrebig zugeht. Ihre behandschuhte Hand öffnet die
Autotür, sie wirft einen kurzen Blick über beide Schultern und lädt den Koffer in
den Wagen.
[0’24’’]
Ortswechsel. Portrait der alten Frau, sie hebt ihren Blick in den linken oberen
Bildrand. Der Betrachter sieht sie in der nächsten Einstellung von hinten in ihrem
Sessel sitzend. Links von ihr befindet sich ein kräftiger schwarzer Mann in einem
weißen Kittel ― offensichtlich ein Pfleger ―, der der alten Dame unter den linken
Arm greift, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Die Kamera zeigt den Raum,
in dem sich die alte Dame befindet: Offensichtlich ein Senioren- oder Pflegeheim,
75
an den Wänden hängen viele gerahmte Photodrucke, hauptsächlich Stilleben und
Blumenbilder, links in der Zimmerecke befindet sich ein Spazierstock. Vor der alten
Dame wird ein laufender Fernseher gezeigt, offensichtlich ein älteres Modell, auf
dem ein kleiner Ventilator zu sehen ist. Links hinter dem Fernseher steht an der
Wand ein Bücherregal, in dem sich kleine Bilderrahmen und andere Gegenstände
befinden. Links vom Sessel ist ein kleiner runder Beistelltisch mit einem Telefon
und einer Kaffeetasse platziert. Hinter dem Pfleger erahnt der Betrachter ein Bett.
Das Inventar passt zu der alten Frau und steht im Kontrast zur sterilen
Motelkulisse der Protagonistin. Alles wirkt alt und abgenutzt.
[0’27’’]
Die Protagonistin sitzt im Auto hinter dem Steuer des Wagens, in den sie zuvor
ihren Koffer geladen hat. Sie bricht die Lenkradsperre auf, schließt das Auto kurz
und startet den Wagen (alles männliches Gangsterverhalten). Die Kamera zeigt aus
der Froschperspektive von links (Weitwinkel) das vordere Nummernschild des
Autos ― ein gelber Chevrolet Camaro von 1978 ―, auf dem in weißen Lettern auf
schwarzem Grund P-U-S-S-Y zu lesen ist. Das Auto fährt rückwärts aus dem auf
dem Asphalt eingezeichneten Parkplatz heraus. Die Kamera befindet sich nun
hinter dem Auto, das auf sie zufährt und in gerade so weit vor ihr zum Stehen
kommt,
dass
durch
das
Aufleuchten
der
roten
Bremslichter
das
hintere
Nummernschild zu erkennen ist: Ebenso gestaltet wie das vordere, ist darauf der
Schriftzug C-A-T zu entziffern (der Betrachter fügt also zusammen: PUSSY-CAT).
Das Auto verlässt darauf zügig den Motel-Parkplatz.
[0’35’’]
Die
Protagonistin
wird
in
einer
Portrait-Aufnahme
im
Auto
gezeigt,
nun
offensichtlich in mäßigem Tempo auf der Straße fahrend. Ihr Blick ist selbstsicher,
ihr
linker
Ellbogen
auf
der
Fahrertür
abgestützt,
bei
der
das
Fenster
heruntergelassen ist (typisch männliche Geste). Die Bilder vermitteln den Eindruck
einer
bürgerlichen
Kleinstadtatmosphäre,
hervorgerufen
durch
die
akkurat
geschnittene Hecke und gepflegte Vorgärten. Die Protagonistin hebt ihren linken
Unterarm, senkt ihn wieder und formt dabei eine Pistole mit der behandschuhten
Hand, indem sie Zeigefinger und Daumen abspreizt. Dabei umspielt ein süffisantes,
überlegenes Lächeln ihre Lippen.
Die Protagonistin hält vor einem einfachen weißen Haus im Stil der 1950er
Jahre
und
steigt
aus.
Ein
paar
Treppenstufen
führen
zum
verglasten
Eingangsbereich, über dem der Schriftzug OL KUNTZ GUEST HOME zu lesen ist. Die
Protagonistin geht um das Heck des Autos herum auf den Eingang des Hauses zu,
zielstrebig und bestimmt, aber ohne Eile.
[0’42’’]
Im Gebäude. Im Mittelpunkt des Bildes befinden sich die Protagonistin und die alte
Frau. Die Protagonistin hat die Dame an ihrer rechten Seite untergehakt und stützt
sie beim Gehen. Die alte Dame geht leicht gebeugt, während ihr Gesicht dem
Boden zugewandt ist. Sie wirkt klein und labil und ihre unsicheren, wankenden
76
Schritte vermitteln den Eindruck, dass das Gehen ohne Hilfe nicht mehr möglich
ist. Beide Frauen bewegen sich langsam auf die Kamera zu, Madonnas Blick ist
regungslos.
Der Raum, der im Hintergrund gezeigt wird, scheint ein Aufenthaltsraum oder
Gesellschaftsraum des Pflegeheims zu sein. Die Einrichtung wirkt wie seine
Bewohner alt, aber gepflegt.
Das Paar tritt vor das Haus ― wobei die Protagonistin die alte Frau noch immer
stützt ― und nähert sich langsam dem Camaro, der vor dem Haus am Fuße der
Treppe parkt.
[0’45’’]
Beide Frauen sitzen nun im Auto. Die Protagonistin schließt den Anschnallgurt der
alten Dame und die Fahrt beginnt. Die Kamera zeigt das ungleiche Paar, von dem
nicht klar ist, in welchem Verhältnis es zueinander steht, von vorne im Auto
sitzend: Die Protagonistin, mit einem angedeuteten Grinsen, die alte Dame, von
der man ausschließlich den oberen Teil des Gesichtes sieht, leicht lethargisch,
teilnahmslos wirkend, der Blick scheint leer. Am Rückspiegel des Wagens hängen
zwei silberne Würfel an einer silbernen Kette, die durch die Fahrtbewegungen des
Autos hin- und herpendeln.
In einem Zeitrafferverfahren verdunkelt sich der Himmel, womit angedeutet
wird, dass die beiden offensichtlich schon ein ganze Weile zusammen „spazieren
fahren“. Die Straßenlaternen gehen an, es wird Nacht.
[0’52’’]
1. „Gewalt“-Szene: Männerauto an der Kreuzung.
Der gelbe Camaro bleibt an einer Kreuzung neben einem anderen Auto stehen,
einem blauen Chrysler, in dem drei junge Männer sitzen. Die Protagonistin blickt in
das benachbarte Auto (sie ist diejenige, die die Kontaktaufnahme initiiert),
woraufhin die jungen Männer zu ihr herüberstarren, während sie mit den Köpfen zu
einer
nicht
hörbaren
Musik
nicken.
Der
Fahrer
des
Wagens
―
mit
kurzgeschnittenem Haar und Dreitagebart offensichtlich vollkommen überzeugt von
seiner einnehmenden Wirkung auf Frauen ― deutet mit seinen Lippen einen Kuss
an, den er Madonna zuwirft, den diese mit einem Augenzwinkern beantwortet.
Kurz darauf fährt der gelbe Camaro ― obwohl die Ampel noch rot zeigt ― in
einer weiten Linkskurve quer über die Kreuzung, lässt das Männerauto hinter sich
und fährt aus dem Bild heraus. Die Kamera zeigt eine menschenleere Strasse. In
der nächsten Einstellung sieht man den Lackpump der Protagonistin, der das
Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückt. In ihrem starren, zielgerichteten Blick der
Frau zeigen sich Wut und Aggression, doch auch Überlegenheit. Mit wachsender
Geschwindigkeit ― erkennbar an dem aus dem Auspuff aufsteigenden Rauch und
dem durch die durchdrehenden Reifen erzeugten Qualm ― steuert der Camaro auf
den blauen Chrysler zu, der noch immer an der roten Ampel steht, und rast frontal
in dessen Fahrerseite hinein und schiebt den Wagen nach rechts aus dem Bild. Die
77
alte Dame wird durch den Aufprall nach vorne geschleudert und eine Glasscheibe
― vermutlich das Fenster in der Fahrertür des Chryslers ― zersplittert. Die beiden
Frauen im Camaro, der durch den Aufprall zum Stehen gekommen ist, sind
unversehrt. Die Protagonistin wirft ihrer Beifahrerin, deren Brille durch den Aufprall
heruntergerutscht ist, einen prüfenden Blick zu, und rückt sie schließlich mit dem
Zeigefinger der behandschuhten rechten Hand wieder zurecht. Der Blick der alten
Dame ist noch immer starr ins Leere gerichtet.
Die Protagonistin legt daraufhin den Rückwärtsgang ein, setzt das Auto, dessen
Vorderfront nun stark demoliert ist, ein Stück zurück und verlässt den Unfallort.
[1’20’’]
2. „Gewalt“-Szene: Überfall Geldautomat.
Der Camaro hält am Straßenrand, der Gehweg ist erleuchtet. Im Eingang eines
öffentlichen Gebäudes steht ein untersetzter Mann mit dem Rücken zur Kamera an
einem Geldautomaten. Die Protagonistin steigt aus dem Wagen, wirft mit einer
schwungvollen und tänzerisch anmutenden Geste des rechten Arms die Wagentür
zu, führt dann in einer fließenden Bewegung den Arm bis fast über den Kopf,
während ihr Blick den Mann am Geldautomaten fokussiert. Ihre Körperhaltung
gleicht der einer tänzerischen Position, bei der sie das rechte Bein leicht anwinkelt
und vor das linke schiebt. In ihrer linken Hand wird nun ein Elektroschockgerät
sichtbar, das sie ebenso kunstvoll mit über der Brust angewinkeltem linken Arm,
von ihrer rechten Achsel bis zu ihrem Kinn führt und dabei provokativ seine
Funktionstüchtigkeit demonstriert, sichtbar durch kleine blaue Blitze und begleitet
von einem surrenden Geräusch, das die Stromstöße signalisiert, die von ihrer
Waffe ausgehen. Begleitet wird das Einnehmen dieser Position von einem leichten
Öffnen ihrer Lippen, die sie beim Anwinkeln des linken Armes wieder schließt,
wobei sie sich leicht auf die Unterlippe beißt.
Sie nimmt hier die Position eines Stierkämpfers ein, als wolle sie ihr Opfer zum
„Paso Doble“ auffordern, der sich im traditionellen Verständnis als tänzerische
Interpretation des Stierkampfes versteht. Diese Szene zeigt die Selbstsicherheit der
Protagonistin, die sich darum bemüht, ihre Auftritte so auffällig wie möglich zu
gestalten. Obgleich sich mehrere Männer auf dem Gehweg befinden, reagiert
niemand auf ihre beabsichtigte Gewalttat oder versucht, die Frau davon abzuhalten.
Die Protagonistin, die sich aus ihrer Angriffsposition gelöst hat, bewegt sich auf den
Mann am Geldautomaten zu, ein vielsagendes, selbstsicheres und gleichzeitig
spöttisches Grinsen im Gesicht. Die Kamera zeigt in einer Einstellung, die an
Duellszenen alter Western erinnert, ihren beschwingt bewegten Hintern in
Nahaufnahme, während sie sich mit lässigen Schritten ihrem Opfer nähert. Trotz
des Overalls, der ― obgleich natürlich im Stil Madonnas figurbetont und sexy
geschnitten ― ein Arbeits-Utensil ist, das aufgrund seines eher groben Schnittes
78
und Materials weniger modischen Ansprüchen entgegenkommt, sondern allein
praktischen Zwecken dient, wirkt sie dabei elegant wie eine Lady! Es gehen
Menschen vorbei, von denen niemand sich jedoch für das offensichtliche Vorhaben
der Frau, die das Elektroschockgerät ostentativ vor sich herträgt, zu interessieren
scheint. Sie sind das Abbild einer teilnahmslosen Gesellschaft, in der jegliche Form
von
Sozialkontrolle
verloren
gegangen
scheint,
sei
es
aus
mangelndem
Verantwortungsbewußsein, Feigheit, oder einer durch die mediale Bilderflut
übersättigten
Geisteshaltung, für die ein Gewaltverbrechen nur noch eine
willkommene Abwechslung in einem ansonsten ereignislosen Leben darstellt.
Abwechselnd
zeigt
die
Kamera
den
Hintern
der
Protagonistin
und
das
Elektroschockgerät in ihrer linken Hand, von dem blaue Blitze ausgehen, begleitet
von einem Surren der kleinen Stromstöße.
Die nächste Einstellung zeigt die Protagonistin mit einem Bündel Geldscheine in
der rechten Hand. Im Hintergrund sieht man das Opfer, den untersetzten Mann,
der zuvor am Geldautomaten gezeigt wurde, zusammengesunken am Boden
liegend. Im gleichen lässigen Gang wie zuvor sieht man die Täterin ― die
Geldscheine achtlos in der Hand haltend ― zu ihrem Wagen zurückgehen, wobei
ihr einige Scheine zu Boden fallen. Mit durchdrehenden, qualmenden Hinterreifen
verlässt der Camaro zum Schluss blitzschnell die Szenerie.
Auch in dieser zweiten „Gewalt“-Szene wird nicht explizit gezeigt, wie die
Protagonistin den Mann zu Boden streckt, ebenso wenig wie in der ersten „Gewalt“Szene, in der das Männerauto aus dem Bild geschoben wird und die Auswirkungen
der Gewalt nicht sichtbar sind. Es bleibt damit unklar, ob das Opfer nur gering oder
ernsthaft durch das Elektroschockgerät verletzt wurde. So scheint es, als stünde
nicht der Akt selbst im Vordergrund, sondern vielmehr die Beweggründe der Frau,
diese Gewalttaten auszuüben. Für diesen Gedanken spricht außerdem die Art und
Weise, in der die Täterin mit ihrer „Beute“ umgeht: Das Geld nimmt sie nicht an
sich, um sich zu bereichern, sondern um eine „Trophäe“ vom Tatort mitzunehmen.
Darüber hinaus ist Geld ein unmissverständliches Symbol für Macht.
Die Atmosphäre im Clip scheint sich immer stärker aufzuladen: Das
Verlassen des zweiten „Tatortes“ mit dem Auto erscheint aggressiver als das des
ersten ― dafür sprechen das visuelle und hörbare Durchdrehen der Reifen und das
hohe Tempo beim Verlassen des Geschehens.
79
[1’40’’]
3. „Gewalt“-Szene: Drive-In-Szene / Polizisten.
Der Camaro, langsam von rechts nach links in das Bild fahrend, hält an einem
Drive-In-Restaurant. Zwei Fast-food essende Polizisten ― beide halten in der
linken Hand einen Hamburger und in der rechten einen großen Pappbecher mit
Strohhalm ― stehen neben ihrem Dienstwagen. Beide Männer tragen Uniform, der
rechte hat eine Schnurrbart, der linke ist kräftig und bullig. Im Hintergrund erkennt
man parkende Autos.
Die Protagonistin und ihre Beifahrerin nehmen ihre Bestellung am Drive-In von
einer beleibten jungen Frau entgegen, die ihnen auf einem Kunststofftablett zwei
große Getränkebecher und Pommes Frites durch das heruntergelassene Fenster
des Autos reicht. In einer herablassenden Geste, die an großspuriges männliches
Zahlungsverhalten gegenüber vorgeblich niederen weiblichen Dienstleistungen
erinnert,
steckt
die
Protagonistin
der
Angestellten
die
zuvor
gestohlenen
Geldscheine in ihren Kittel, ein Betrag, der ― wie der überraschte Blick der jungen
Bedienung erahnen lässt ― im Verhältnis zur Bestellung offensichtlich viel zu hoch
ist.
Die Bedienung ist die erste und einzige Frau in diesem Videoclip, die neben dem
Protagonistinnen-Paar
in
Erscheinung
tritt.
Sie
entspricht
der
typischen
Durchschnittsfrau der amerikanischen Mittelschicht: übergewichtig, weiblich, im
Service arbeitend. Allein die Tatsache, dass sie eine Frau ist, schützt sie
offensichtlich davor, nicht angegriffen zu werden; dass die Protagonistin ihr das
gestohlene Geld zusteckt, könnte aber nicht nur als herablassender, männliches
Verhalten gegenüber Frauen imitierender Gestus verstanden werden. Er könnte
auch als symbolische Wiedergutmachung bzw. Entschädigung eines typischen
weiblichen Opfers durch das Geld eines typischen männlichen Täters verstanden
werden. Im übertragenen Sinn wird somit die Macht des Mannes ― symbolisiert
durch die Dollarscheine ― auf die Frau übertragen und die Besitzverhältnisse
werden auf sinnbildliche Weise umgekehrt.
Die Protagonistin und die alte Dame saugen im Auto an den Strohhalmen in ihren
Getränkebechern, während die Protagonistin gleichzeitig ihre Pommes Frites isst.
Als sie ihre Fahrt wieder aufnimmt, schrammt sie im Vorbeifahren scheinbar
genüsslich an der vollen Längsseite des Polizeiwagens entlang und fixiert dabei ―
weiterhin ihre Pommes Frites kauend ― die beiden verdutzten Polizisten mit den
Augen. Anschließend fährt sie wieder zurück und zückt eine Pistole, die sie auf die
beiden Polizisten richtet, die sich hinunter beugen, um in das Auto hineinsehen zu
können. In Erwartung eines weiteren Gewaltszenarios sieht man die Protagonistin
ihre Waffe auf die Köpfe der Polizisten richten. Im selben Augenblick, indem man
80
einen Schuss erwarten würde, zeigt sich aber, dass es sich um eine Wasserpistole
handelt ― ein weiterer Ausdruck höchster Verachtung des männlichen Gegenübers.
Die Protagonistin macht die beiden Polizisten im wörtlichen Sinne „nass“: Sie
erniedrigt sie, indem sie sie mit einem Kinderspielzeug einschüchtert. Darüber
hinaus
könnte
das
Spritzen
mit
der
Wasserpistole
auch
als
symbolische
„Ejakulation“ verstanden werden. Die Protagonistin würde sich somit eines
weiteren, demütigenden männlichen Verhaltens gegenüber Frauen bedienen, das
vor allem aus Pornofilmen bekannt ist, dem sogenannten „Come Shot“: Dabei
handelt es sich um den sprichwörtlichen Höhepunkt einer jeden Szene, bei dem der
Mann auf die Frau ejakuliert. Indem die Protagonistin mit ihrer Pistole ― ein
klassisches Symbol für das männliche Geschlechtsteil, das Madonna auch schon in
ihren früheren Videos 197 benutzt ― die beiden Polizisten, die angesichts der
täuschend echten Waffe vermuten müssen, erschossen zu werden, mit Wasser
bespritzt, erniedrigt sie sie auf zweifache Weise: als Hüter von Ordnung und Gesetz
und als Männer.
Unberührt von den Ereignissen setzt sie ihr Auto am Ende der Szene ein Stück
zurück und lässt die Polizisten, die die Verfolgung aufgenommen haben, frontal
auffahren. Durch den Aufprall lösen sich die Airbags im Polizeiauto, wodurch sie
ihre Verfolgungsjagd abbrechen müssen, die noch gar nicht begonnen hat.
Die
Protagonistin
bedient
sich
als
Frau
sämtlicher
männlicher
stereotyper
Verhaltensweisen: Sie benutzt deren Statussymbole (muscle cars, Waffen), imitiert
ihre Körpersprache (breitbeiniges Sitzen auf dem Bett, Cowboy-Gang vor dem
Geldautomaten), trägt ihre Tätowierungen und ahmt ihr Imponiergehabe nach (das
Zuzwinkern in der Szene an der Kreuzung, das Zustecken der Geldscheine im
Drive-In-Restaurant). Sie holt sich, was sie will, und sie bekommt es durch
männliches Verhalten. Madonna geht allerdings noch einen Schritt weiter: Zwar
bedient sie sich der Verhaltensweisen der männlichen Welt, um sich in einer
männlichen Welt Respekt zu verschaffen und sich durchsetzen zu können,
gleichzeitig aber zerstört sie die Illusion von gewaltbasierter Macht, indem sie sie in
ihren schockierenden destruktiven Folgen ostentativ zur Schau stellt.
[2’17’’]
4. „Gewalt“-Szene: Parkplatz, Hockeyspieler.
Die Protagonistin fährt auf einen Parkplatz, auf dem einige junge Männer RollerHockey spielen, rammt zunächst wahllos parkende Autos und fährt ein Motorrad
197
Z.B. in „Express Yourself“ oder „Open Your Heart”.
81
um. Anschließend fährt sie zwischen den Männern durch, steuert dann mit dem
Wagen auf sie zu, fährt zuerst eines der Hockey-Tore um und nimmt zum Schluss
einen von ihnen auf die Motorhaube, während sie weiterhin genüsslich ihre
Pommes Frites isst. Während die anderen jungen Männern wütend hinter dem
Camaro herjagen, um
ihn mit wütenden
Hieben ihrer Hockeyschläger zu
bearbeiten, verlässt die Protagonistin den Parkplatz, nicht ohne allerdings ein paar
weitere Autos zu rammen.
Um ihre Pommes-Frites-Tüte zu entsorgen, bringt sie den inzwischen auffallend
ramponierten Camaro neben einem Mülleimer aus voller Fahrt zum Stehen, wobei
die Kamera einen Schwenk in das Fahrzeuggetriebe ― genauergesagt auf die
Bremsscheiben ― macht. Die Protagonistin streckt ihren Arm aus und wirft die
noch halbgefüllte Pommes-Frites-Tüte in den Mülleimer.
[2’49’’]
5. „Gewalt“-Szene: Tankstellenszene.
In der nächsten Einstellung sieht man wieder den Lackpump der Protagonistin, in
Machomanier mit dem Gaspedal spielend. Der Motor heult und die Reifen drehen
durch, so dass Straßendreck aufgewirbelt wird. Der Camaro schießt schließlich
nach vorn, Reifenquietschen und Motorengeräusche sind zu hören, die am
Rückspiegel aufgehängten Würfel pendeln hin und her. Das Aggressionsniveau der
Protagonistin ist weiter angestiegen. Sie vermittelt dem Zuschauer den Eindruck
eines Stieres, der kurz vor seinem Angriff wutschnaubend die Nüstern bläht und
mit den Hufen scharrt.
[2’54’’]
Tankstelle: Die Protagonistin fährt auf eine Tankstelle, hält hinter einem roten
Pontiac
Firebird
an
einer
Zapfsäule
(im
Folgenden
wird
diese
Einstellung
„Tankstelle“ genannt).
An dieser Stelle wird die bislang chronologische Abfolge unterbrochen, die seit der
Abfahrt der beiden Frauen vom Seniorenheim durchgehalten wurde. Flashbacks in
das Hotelzimmer und das Seniorenheim wechseln sich mit den Bildern des Firebirds
und der fortschreitenden Handlung ab. Die Frequenz der Schnitte erhöht sich mit
dem Anstieg des Aggressionsniveaus. Dabei haben die Rückblenden die Funktion,
die fehlenden Sequenzen der Anfangsszenen durch wichtige Details zu ergänzen.
[2’56’’]
Flashback Hotelzimmer: Die Protagonistin sitzt auf dem Bett. Der herabgelassene
Overall gewährt einen Blick auf ihren nackten Rücken, links neben ihr liegt der
geöffnete Koffer. Auf beiden Unterarmen trägt sie Tätowierungen, ebenso im
Nacken, wo in schwarzen Lettern L-O-V-E-D zu lesen ist. Die Tätowierung auf
ihrem rechten Arm zeigt eine Pistole, aus deren Öffnung Rauch aufsteigt, auf ihrem
linken Arm ein Kreuz. Über dem Kreuz ist das Wort NO, unter dem Kreuz
82
SURREND[ER] zu erkennen, wobei die letzten beiden Buchstaben nicht mehr mit
Sicherheit zu entziffern sind.
NO SURRENDER meint „keine Kapitulation“, „kein Aufgeben“, „keine Auslieferung“.
Die Tätowierungen muten dilettantisch an und sehen aus, als stammten sie nicht
von einem Profi. Die Wahl des Kruzifix-Motives als Symbol des christlichen
Glaubens rekurriert auf vergangene Madonna-Videos wie „Like A Prayer“ oder „Like
A Virgin“. In diesem Clip muss es aber vermutlich weniger als Provokation denn ―
im Gegenteil ― als ein Sinnbild eines intensiv empfundenen, stark verinnerlichten
Glaubens verstanden werden, der der Protagonistin Hoffnung und Kraft auf ihrem
persönlichen Kreuzzug gegen die Männerwelt verleihen soll.
Nach dieser Szene im Hotelzimmer verdunkelt sich die Szenerie, bevor es in
die nächste Einstellung geht. Im Vordergrund steht bis zu Minute [3’27’’] die
Inszenierung des roten Sportwagens.
[3’01’’]
Firebird: Man sieht den roten Pontiac Firebird mit eingeschalteten Scheinwerfern.
Auf der Kühlerhaube ist das Emblem des Firebirds abgebildet: ein stilisierter
goldener Adler mit ausgebreiteten Flügeln und flammenförmiger, kranzartiger
Umrandung. Während einer anschließenden Kranfahrt, die vor dem Auto beginnt,
über die Motorhaube und bis zum Dach hinaufführt, gibt die Kamera dem
Betrachter Zeit, den Firebird in seiner beeindruckenden Erscheinung genau zu
betrachten. Die Zeit scheint währenddessen stillzustehen. Es ist ein anerkennendästhetisierender Blick, der sich vornehmlich an ein männliches Publikum richtet,
das auf den Abonnentenlisten von Motorsport-Magazinen zu finden ist, sich auf
Automobil-Messen
über
die
neuesten
Tuning-Trends
austauscht
und
am
Wochenende mit der Freundin im Kino Blockbuster wie „Too fast, too furious“ in
Dolby Surround-Qualität ansieht.
[3’04’’]
Tankstelle: Die Protagonistin steigt aus dem ramponierten gelben Camaro,
während der Mann, der vor ihr seinen Firebird betankt, in ihre Richtung sieht. Das
rote Auto des Mannes wird als das erkennbar, das in der vorherigen Einstellung
detailliert gezeigt wurde.
[3’05’’]
Firebird: Die Kamera setzt ihre Fahrt über das Autodach fort.
[3’07’’]
Tankstelle: Die Protagonistin hat der alten Dame aus dem Camaro geholfen und
führt sie an der Hand, an einer Zapfsäule vorbei, zielstrebig zu dem Firebird.
[3’08’’]
Firebird: Die Kamera ist nun fast über der Mitte des Autodaches.
[3’10’’]
Tankstelle: Die junge Frau führt ihre greise Beifahrerin an der Hand zwischen dem
Camaro und dem Firebird durch. Der Autobesitzer, der lange, wellige Haare und
eine Lederweste mit Silberapplikationen trägt, schenkt dem Frauenpaar keine
Beachtung. Am Firebird angekommen, öffnet die junge Frau der alten Dame die
Beifahrertür.
83
[3’12’’]
Firebird: Die Kamera ist nun direkt über dem Autodach und schwenkt von der
Vertikalen in die Horizontale um, so dass das Auto waagerecht im Bild ist.
[3’16’’]
Tankstelle: Nachdem die Protagonistin der alten Dame auf den Beifahrersitz des
Firebirds geholfen hat, geht sie um das Auto herum und setzt sich ans Steuer. Der
Besitzer ist so mit der Tankanzeige an der Zapfsäule beschäftigt, dass er nicht
bemerkt, dass die beiden Frauen in sein Auto gestiegen sind.
[3’17’’]
Firebird: Die Kamera hat wieder umgeschwenkt und ist nun am hinteren Ende des
Wagens angekommen, wo langsam sie an ihm herunterfährt, bis sie dieselbe
Position wie zu
Beginn
der
Kranfahrt
eingenommen
hat,
nur
diesmal
in
entgegengesetzter Richtung.
[3’27’’]
Der Fuß der Protagonistin mit dem schwarzen Lackpump tritt wieder auf das
Gaspedal, während die Kamera auf den Tacho des Firebird und in den Motorraum
zoomt.
[3’28’’]
Tankstelle: Die beiden Frauen sitzen im Firebird, an dessen Rückspiegel die Figur
eines kleinen grünen „Aliens“ hängt. Als die Reifen des Wagens durchdrehen, blickt
der Besitzer kurz auf. Die Protagonistin stößt daraufhin einen Lenkradwürfel an ―
ein Spielzeug des Wagenbesitzers ― und fährt los. Bei dem verzweifelten, aber
sinnlosen Versuch des von den Ereignissen überrumpelten Firebirdbesitzers, den
Wagen festzuhalten, stürzt dieser, während gleichzeitig der Einfüllstutzen des
Benzinschlauchs aus dem Tank gerissen wird. Durch die Wucht des abrupten
Herausreißens hin- und herspringend verspritzt der Schlauch weiter Benzin, das
nach und nach den Boden vor der Zapfsäule überschwemmt. Die Protagonistin
fährt
über
die
Tankstelle,
wendet
dann
um
180
Grad,
steuert
auf
den
Wagenbesitzer zu und fährt ihn so an, dass er auf die Windschutzscheibe
geschleudert wird. Anschließend rammt sie eine Zapfsäule derart, dass sie umkippt
und fontänengleich Benzin aus ihr herausschießt. Daraufhin verlässt sie mit dem
Firebird die Tankstelle, zieht ein silberfarbenes Feuerzeug aus der Tasche, zündet
die Flamme und lässt es aus dem Fenster fallen. Ein Schwenk zurück auf die
Tankstelle zeigt noch einmal den benzinspeienden Schlauch, der sich über den
Boden windet. Es folgt die erwartete Detonation, die allerdings nur durch eine
kurzzeitige, orange-gelbe Überblendung angedeutet wird. Die Kamera zeigt das
Wageninnere des Firebirds, wobei sie zwischen den beiden Vordersitzen positioniert
scheint, mit dem Fokus auf Armatur und Schaltknüppel. Unterstützt wird der
Eindruck einer Detonation nicht nur visuell durch Farbeffekte, sondern auch
akustisch durch das knallend-berstende Geräusch einer Explosion und einen großen
Gegenstand,
der
―
vermutlich
der
Tankstelle
zuzuordnen
―,
gegen
die
Windschutzscheibe des fahrenden Firebirds prallt.
84
Die Brutalität hat sich mit jeder „Gewalt“-Szene erhöht. Doch auch hier wird sie
nicht detailliert in ihren Auswirkungen gezeigt: Man sieht weder tote Menschen
noch durch die Luft wirbelnde Leichenteile, die inzwischen zum Standardrepertoire
von Gewaltvideos und Dokumentationen von Katastrophen gehören und deren
höchstes
Interesse
es
ist,
möglichst
nah
an
das
eigentliche
Geschehen
heranzukommen, um dem Betrachter zu suggerieren, er befinde sich mitten im
Geschehen. 198 Guy Ritchie befriedigt mit seiner Inszenierung den Voyeurismus der
Zuschauer nicht: Die Explosion wird lediglich angedeutet durch das orange-gelbe
Licht und den Gegenstand, der gegen die Windschutzscheibe des sprichwörtlichen
Feuervogels prallt. Das vernichtende Ausmaß der Detonation und der sich darin
dokumentierende
Gewaltakt
bleibt
als
Leerstelle
bestehen,
die
von
der
Vorstellungskraft des jeweiligen Zuschauers gefüllt werden kann. Auf diese Weise
bezieht Madonna den Betrachter nicht nur aktiv mit in das Geschehen ein, indem er
ihn zwingt, das Gesehene zu reflektieren. Er führt ihm auch eindrücklich die
gesellschaftliche Teilnahmslosigkeit vieler Menschen vor Augen, die tagtägliche
Gewalt um sich herum zwar zu registrieren, aber glauben, sich durch Ignoranz der
sozialen Verantwortung entziehen zu können.
[3’48’’]
Flashback Senioren-/Pflegeheim: Die alte Dame sitzt in ihrem Sessel vor dem
laufenden
schwarz-weiß-Fernseher,
der
das
Bild
eines
über
die
Straße
schleudernden Autos zeigt. Die sonst sehr lethargisch wirkenden alte Frau krallt bei
diesem Anblick unter Anspannung ihre Finger in die Armlehne, womit sie erstmals
eine innerliche Teilnahme am äußeren Geschehen signalisiert.
[3’50’’]
Hotelzimmer: Die Protagonistin zieht sich eine kugelsichere Weste an.
[3’51’’]
Firebird/Tacho/Armatur: Die Nadel des Tachos schlägt nach oben aus.
Alters-/Pflegeheim: Die alte Dame legt sich Schienbeinschoner an.
[3’53’’]
Hotelzimmer: Die Protagonistin zieht sich weiter die Weste an. Unter der rechten
Brust ist ein etwa faustgroßes, dunkles Hämatom zu erkennen.
[3’54’’]
Firebird:
Die
Protagonistin
schaltet
in
einen
höheren
Gang,
Geschwindigkeitssteigerung suggerierend.
198
Man vergegenwärtige sich die Fernsehbilder vom 11. September 2001, die fast bis zur
Unerträglichkeit immer wieder den Einschlag der beiden Boeings in das World Trade Center zeigten, und
danach stundenlang die verzweifelten Rettungsversuche der New Yorker Feuerwehr zu dokumentieren,
während im Hintergrund die Häuser hinter Rauchwolken verschwanden, Gebäudeteile plötzlich
einstürzten und Rettungsmannschaften unter sich begruben. Unvergessen auch die aktuelleren Bilder
von den vernichtenden Auswirkungen des Tsunamis in Sri Lanka: Immer tauchten neue Amateurvideos
auf, die dokumentierten, wie die meterhohe Sturmflut auf die Küste zurollte, um dann bei ihrem
Einbruch in die Strassen alles unter sich zu begraben.
85
[3’54’’]
Hotelzimmer: Die Protagonistin schließt die Weste, wobei sie ihr Gesicht vor
Schmerz verzieht. Sie steht nun angezogen vor dem Bett und wirft den
„Flachmann“ in den noch geöffneten Koffer.
[3’57’’]
Firebird: Die Kamera zeigt, Tempo suggerierend, Motor und Schaltknüppel, der von
der rechten Hand der Protagonistin betätigt wird.
[3’59’’]
Hotelzimmer: Die behandschuhten Hände der Protagonistin blättern einen Stapel
Personalausweise durch. Offensichtlich handelt es sich um ihre alter egos, die sie je
nach Bundesstaat wechselt.
[4’00’’]
Firebird/Tacho
Hotelzimmer: Die Kamera zeigt einen der Nachttische, auf dem sich acht
Tablettendöschen, eine halbvolle Wodkaflasche, ein alter Radiowecker und eine
Waffenzeitschrift befinden, auf der wiederum ein kleiner Schlüssel mit blauem
Anhänger sowie die Personalausweise liegen. Mit den Händen blättert die
Protagonistin durch die Ausweise und entscheidet sich für ihre „Ohio“-Identität.
Noch einmal wird kurz die LOVED-Tätowierung in ihrem Nacken gezeigt.
[04:02]
Firebird/Schaltknüppel: Von der Hand der Protagonistin geschaltet.
Hotelzimmer: Die Protagonistin zieht die schwarzen Handschuhe an, blickt in die
Kamera (wir erinnern uns an den Anfang des Clips: Sie blickt in den Spiegel) und
deutet einen Kuss an, den sie sich sozusagen selbst zuwirft (ebenso wie der Fahrer
des Männerwagens ihr einen Kuss zugeworfen hat).
[4’03’’]
Firebird auf der Strasse, von außen: Das Auto fährt mit eingeschalteten
Scheinwerfern rechts ins Bild, die Strasse ist menschenleer und grau, noch immer
ist es Nacht.
[4’04’’4’13’’]
Hotelzimmer: Die Protagonsitin verlässt ihr Zimmer.
Firebird/Schaltknüppel: Wieder wird geschaltet, der Motor gezeigt, dann der Tacho,
das zunehmende Tempo suggerierend.
Hotel: Die Protagonistin verlässt ihr Zimmer, schaut beim Heraustreten kurz zu
beiden Seiten und zieht die Tür hinter sich zu, die die Zahl 669 trägt. Beim
Zuschlagen der Tür kippt die letzte Ziffer nach unten, so dass aus 669 die Zahl 666
wird, das Zahlensymbol für den Antichrist bzw. den Teufel.
Firebird: Die alte Frau krallt ihre rechte Hand in den Autositz. Damit zeigt sie
erstmals eine Reaktion seit Beginn der gemeinsamen Autofahrt. Der Fuß der
jungen Frau befindet sich auf dem Gaspedal, ihre Hand am Schaltknüppel. Die
Kamera zeigt Bilder vom Auto, Madonnas Gesicht, Motor und Tacho.
Rückblende
im Zeitraffer: Die immer schneller werdenden
Schnitte (siehe
Zeitangaben) enden in einer Art Rückblende des Clips im Zeitrafferverfahren ―
vergleichbar mit der Rekapitulation des eigenen Lebens beim Sterben. Ein Bild folgt
dicht dem anderen. Die Kamera fokussiert das Gesicht der alten Dame, deren
86
Augen weit aufgerissen sind und ins Leere starren, der Kopf der Protagonistin liegt
auf dem Lenkrad.
Die Serie beginnt mit der ersten Einstellung des Clips: Die Kamera zeigt die
Protagonistin auf dem Hotelbett sitzend, den Kopf geneigt. Es folgen Bilder des
hinteren Nummernschildes des Camaro (CAT), der Würfel, der Wasserpistole und
des Feuerzeugs. Die Protagonistin, deren Augen geschlossen sind, sitzt mit
zurückgelehntem Kopf hinter dem Steuer. Sie wirkt entspannt und ohne Ausdruck,
während der Firebird auf die Kamera zurast. Vor der Kamera befindet sich ein
(Laternen-)Pfahl. Die Scheinwerfer des Firebirds sind ausgeschaltet.
[4’13’’4’29’’]
Aufprall. Das Auto prallt mit so hoher Geschwindigkeit gegen den Pfahl, dass es
sich durch die Schubkraft um ihn herumzuwickeln scheint. Zeitlupeneffekte zeigen
den Zusammenstoß in seiner ganzen Wucht. Der aufsteigende Rauch und die durch
die Luft fliegenden Splitter signalisieren, dass der Aufprall tödlich ist. Er ereignet
sich parallel zum letzten Rhythmusschlag in der Musik. Danach setzt Stille ein, bis
schließlich sprichwörtlich der „Vorhang fällt“, für die Beteiligten wie für die
Inszenierung insgesamt. Die letzte Einstellung wird ausgeblendet.
2.4.2.2 Das Zusammenspiel von Bild, Ton und Musik
Das Video zu „What it Feels Like For A Girl“ illustriert nicht die balladenhafte
Album-Version des Songs, sondern bedient sich eines House-Beat-Remixes, der
nichts mit der melancholischen Grundstimmung der Album-Version gemeinsam hat.
Zu Beginn des Clips werden folgende Textzeilen von der Sängerin gesprochen, die
ihm als Motto vorangestellt werden:
Girls can wear jeans
And cut their hair short,
Wear shirts and boots,
‘Cause it’s OK to be a boy,
But for a boy to look like a girl is degrading,
‘Cause you think that being a girl is degrading,
But secretly you’d love to know what it’s like.
Wouldn’t you (s.u.)
What it feels like for a girl
Anschließend wiederholt sich der von Madonna gesungene Chorus immer wieder:
„For a girl / In this world” und „Do you know / What it feels like for a girl? / Do you
know / What it feels like / In this world / For a girl?”
87
Das „Motto” ist ein Zitat aus dem Film „The Cement Garden”, in dem die
Schauspielerin Charlotte Gainsbourg folgende Zeilen spricht: „It’s OK for a girl to
look like a boy, but for a boy to look like a girl is degrading”. 199
Von Madonna werden die ersten Zeilen fast stimmlos und kühl mit dem
Timbre eines jungen Mädchens gesprochen. Darunter läuft ein pulsierender,
synthetischer, anschwellender Rhythmus. Auffällig ist in diesem Clip, dass die Musik
nur einen Kommentar zum Bild stellt, das im Mittelpunkt steht. Die Musik ist eine
zusätzliche Ebene, die sich unterhalb der der Bilder befindet. Im Vergleich mit den
bislang in dieser Arbeit analysierten Clips spielt sie hier eine nur untergeordnete
Rolle. Durch die Schnelligkeit der Beats und die dadurch suggerierte latente Unruhe
unterstützt sie lediglich die Botschaft der Bilder.
Dennoch erfüllt die Musik ― wie auch in den vorangegangenen Clips ― eine
strukturierende Funktion: Die einleitende, gesprochene Sequenz endet, als die
Protagonistin ihren Wagen gestartet hat und ihren Roadtrip beginnt. Während des
Sprechparts steht die Stimme Madonnas im Vordergrund, der Rhythmusapparat ist
zurückgenommen. Mit zunehmender Spannungssteigerung innerhalb der Handlung
wird die Stimme der Sängerin, die den Chorus in einer Endlosschleife singt,
kräftiger und bestimmter.
Ein zweites Mal wird das Motto in derselben Weise wie am Anfang bei der
„Firebird-Inszenierung“ vorgetragen. An dieser Stelle scheint, wie oben dargestellt,
die Zeit für einen Augenblick zu still zu stehen, bevor der Showdown beginnt. Das
gesprochene Motto mit dem zurückgenommenen beats unterstützt damit die
visuelle Wirkung dieser Szene.
Der Anfang des Clips erinnert eher an einen Werbespot ― ausgelöst durch
die Verknüpfung von Bild und Sprechpart ― und weist viele spielfilmähnliche
Elemente auf. So wird eine stringente Geschichte erzählt, die Story ist in sich
geschlossen und auch die Schnitte entsprechen zeitgenössischer Film-Ästhetik. Die
Charaktere werden ― clipuntypisch ― in ihrer jeweiligen Umgebung eingeführt,
bevor beide Erzählstränge zusammengeführt werden und die Story beginnt. Wie
schon die letzten Clips deutlich gemacht haben, ist auch dieser Clip bis in das letzte
Detail durchkonzipiert und jedes Symbol wurde sorgfältig ausgewählt, wie die
Clipbeschreibung zum Ausdruck bringt.
199
Der Film nach dem gleichnamigen Roman von Ian McEwan wurde 1992 von Andrew Birkin verfilmt.
Das Drama erzählt eine düstere Geschichte über Geschwisterliebe, Inzest und Tod.
88
„What It Feels Like For A Girl“ ist ein „schneller“ Clip. Dieser Eindruck wird in
erster Linie durch die Schnelligkeit der Schnitte hervorgerufen. Die Frequenz der
Bilder nimmt im Laufe zu, ein filmästhetisches Stilelement, das der dramatischen
Entwicklung des Geschehen entspricht.
2.3.2.3 Cover
Das Cover zum Clip (Anhang I, Abb. 14) vermittelt einen anderen Eindruck
als der Clip selbst. Es zeigt Madonna dem Western-Image des Albums entsprechend
als Cowgirl, an dem die Zeit spurlos vorbei gegangen zu sein scheint 200 : Bekleidet
mit einem weißen, durch Büroklammern zusammengehaltenen T-Shirt ― eine
Reminiszenz
an
ihre
Tänzerinnenzeit,
in
der
die
zerrissene
und
durch
Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Kleidung zu ihrem Markenzeichen wurde ―,
einer dunkelblauen Denimhose, einem breiten, schwarzen Gürtel mit silberner
Gürtelschnalle, Nietenbesatz und Strasssteinen und mit platinblonden, leicht
gewellten und dunkel gesträhnten Haaren, einer silberfarbenen Kette um den Hals
und nur dezent geschminkt, lehnt sie in lasziver Haltung an der Seite eines
silberfarbenen Trucks. Den rechten Arm hält sie hinter dem Kopf verschränkt, so
dass das weiße T-Shirt ein Stück Haut knapp über der tief sitzenden Jeans freilegt.
Ihre Zungenspitze berührt herausfordernd die mit pinkfarbenem Lippenstift
geschminkte Oberlippe, wobei sie ihren Blick ― ihr Gesicht ist ins Dreiviertelprofil
gedreht ― seitlich in die Kamera richtet.
Die Diskrepanz zwischen Cover und Inhalt des Clips verweist einmal mehr
auf die Tatsache, dass es sich wie immer bei Madonna um ein Spiel mit Masken
handelt. Das Cover lässt einen anderen Inhalt vermuten, als der Clip offenbart: Er
ruft beim Betrachter Erwartungen hervor, die konsequent nicht erfüllt werden.
Während das Cover sich augenscheinlich an ein männliches Klientel richtet, die an
dem darauf gebildeten „girl“ Gefallen finden könnte, läuft der Inhalt des Clips jeder
männlichen Erwartungshaltung, die mit dem Cover verknüpft werden könnte,
zuwider: Die radikale, kompromisslose und selbstbewusste Protagonistin hat mit
dem mit der Kamera kokettierenden Girl nichts gemeinsam. Durch diesen Bruch
zwischen suggeriertem Anspruch und tatsächlicher Botschaft des Clips werden die
darin präsentierten Bilder noch wirksamer. Bei genauer Betrachtung hinterlässt
allerdings selbst das Cover eine gewisse Irritation: Auf den ersten Blick durchaus
200
Immerhin ist die Künstlerin zu diesem Zeitpunkt bereits 42 Jahre alt und dem Mädchen-Alter längst
entwachsen!
89
als sexistisch zu bezeichnen, gewinnt man doch den Eindruck dezenter Ironie und
eines
Überlegenheitsanspruches,
die
Madonna
in
ihren
Blick
und
die
herausfordernde Zungenbewegung legt. Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass
hinter jedem neuen Madonna-Produkt immer auch eine Marketing-Strategie steckt,
der es darum geht, das Produkt möglichst gewinnbringend zu verkaufen.
2.4.2.4 Interpretation
Das Video veranschaulicht nach Madonnas eigener Aussage ihren Charakter:
„Ich lebe meine Phantasie aus und mache Dinge, die Mädchen nicht machen
dürfen“ 201 ― ein Bekenntnis, das ― im Hinblick auf die durch die Bilder zur Schau
gestellte Brutalität ― nicht nur befremdlich, sondern beinahe zynisch anmutet. Auf
der anderen Seite zeigt der Videoclip „What It Feels Like For A Girl“ eine starke,
selbstbewusste,
aber
auch
vom
Leben
gezeichnete
Frau
(Alkoholismus,
Tablettensucht), die sich nicht länger von Männern Vorschriften darüber machen
läßt, wie sie sich zu verhalten habe, und wo ihr Platz in der Gesellschaft sei. Dieser
Anspruch auf Selbstbestimmung geht aber ― und das ist die zynische Botschaft des
Clips ― nicht mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen konform,
sondern fordert Opfer ― was, wie der Clip zeigt, auch im wörtlichen Sinne zu
verstehen ist ―: zuletzt auch das eigene Leben.
Der Clip prangert in einer radikalen Umkehrung der realen Verhältnisse die
gesellschaftlichen Zustände in einer von Männern dominierten Welt an und greift
damit ein „traditionelles“ Thema der Künstlerin Madonna auf: die unterprivilegierte
Stellung von Frauen und Mädchen in der Gesellschaft und der Entwurf alternativer
Rollenmodelle. 202 Dies geschieht in erster Linie durch ein Spiel mit Klischees: Sie
parodiert stereotypes männliches Rollenverhalten, indem sie es übertrieben und vor
allem akkumulierend adaptiert.
Als „Lady“ tritt sie Männern gegenüber, um sie mit ihrem eigenen, zum Teil
absurd-lächerlichen Verhalten zu konfrontieren, und sie die Demütigungen und
Verletzungen erfahren zu lassen, die Frauen alltäglich durch männliche Gewalt
erfahren. Sie ist eine Gangsterin, die in Motels wohnt, in denen sie ihre Anonymität
wahren kann, da sie sich offensichtlich permanent auf der Flucht befindet. Ihre
zahlreichen Personalausweise dienen aber nicht nur dazu, ihre wahre Identität zu
201
Madonna, zit.n. Morton 2002, S. 409.
Wobei durch die zahlreichen Menschenleben, die der im Videoclip unterbreitete Alternativentwurf
fordert, deutlich wird, dass es sich dabei nicht um einen ernstzunehmenden Vorschlag handeln kann! Er
spielt nur ein Modell durch, dass der gegenwärtigen, von Männern dominierten Gesellschaft den Spiegel
vorhalten soll!
202
90
verschleiern, sondern sind auch ein Symbol dafür, dass sie als Figur austauschbar
ist: Sie könnte jede Frau, in jedem beliebigen amerikanischen Bundesstaat sein,
ihre wahre Identität spielt bei der „Mission“, die sie zu erfüllen hat, keine Rolle:
nämlich, durch ihren „Kreuzzug“ alle Frauen zu rächen, die Opfer männlicher
Gewalt waren und noch sind. Dafür nimmt sie die Rolle des Täters an, indem sie
sich dessen Gewohnheiten zu eigen macht (Wodkatrinken), sich über seine
Interessen informiert (Waffenzeitschrift, Tattoos, Kraftsport, schnelle Autos) und
sogar straffällig wird (Kurzschließen des Camaro).
Auch der Blick im Clip scheint männlich: Die muscle cars stehen im
Mittelpunkt,
zum
Ausdruck
gebracht
durch
die
vielen
Details
wie
Tacho,
Schaltknüppel, Motor oder durchdrehende Reifen. Ganz besonders deutlich wird der
männliche
Blick
bei
der
Inszenierung
des
Firebirds:
Die
höchste
Steigerungsmöglichkeit männlicher Automobilträume wird präsentiert wie ein
Sportler kurz vor dem Wettkampf. Die Kamerafahrt, die den filmischen Effekt des
Verliebens zitiert, erzeugt einen Moment lang den Eindruck, als handele es sich bei
dem Wagen um ein libidinöses Subjekt, in dessen Gegenwart dem Betrachter der
Atem stocken müsste.
Auch die Art und Weise, in der die Protagonistin Auto fährt, ist männlich:
Der Gestus des linken Arms, der lässig aus dem Fenster hängt, das Aufheulenlassen
des Motors, die quietschenden Reifen beim Anfahren, die Vollbremsung vor dem
Mülleimer. Sie eignet sich alle Dinge an, denen Männer besondere Wertschätzung
entgegenbringen: Macht, Kontrolle, Besitz, dargestellt durch Geld und getunte
Autos. Konfrontiert mit der Absurdität des eigenen Verhaltens sind sie ratlos. Dabei
macht sich die Protagonistin den Überraschungseffekt zunutze: Nur solange
niemand von ihr ein solches Verhalten erwartet, kann sie mit ihrem Handeln Erfolg
haben. Das zeigt sich bereits in der ersten „Gewalt“-Szene, in der die Protagonistin
an der Ampel wartend den jungen Männern im Auto neben sich begegnet. Obwohl
sie diejenige ist, die den Kontakt sucht, und obwohl die an ihrem Rückspiegel
baumelnden Würfel in der Sprache der Straße ihre Bereitschaft zu einem
Straßenrennen signalisieren, scheint die Möglichkeit, dass die Protagonistin etwas
anderes
als
einen
Flirt
im
Sinn
haben
könnte,
völlig
außerhalb
des
Vorstellungsbereichs der jungen Männer zu liegen. Sie wird von den Männern auf
ihre weibliche Rolle der „Pussycat“ reduziert, was schließlich der Auslöser für ihre
ausbrechende Aggressivität zu sein scheint. Dabei ist aufgrund der akribischen
Vorbereitungen der Protagonistin im Motel davon auszugehen, dass sie das
91
Missverständnis bewusst provoziert, um den Überraschungseffekt für sich zu nutzen
und ihr Gegenüber im wahrsten Sinne des Wortes „vor den Kopf“ zu stoßen.
Madonna beschränkt sich allerdings nicht auf die Imitation der Männerwelt,
sondern zerstört sie gleichermaßen, wörtlich wie im übertragenden Sinn: Um dem
Betrachter die destruktive Kraft männlicher Gewalt vor Augen zu führen, richtet sie
diese gegen ihre Urheber selbst. Die Opfer, die sie sich dabei aussucht, wählt sie
scheinbar willkürlich aus ― so zufällig wie die verschiedenen Identitäten, derer sie
sich selbst bedient. Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass es sich um einen
persönlichen „Rachefeldzug“ handelt, sondern es ihr vielmehr darum geht, ein
Exempel zu statuieren, im Namen aller Frauen, die Opfer männlicher Gewalt
geworden sind. Somit liefert der Videoclip zu „What It Feels Like For A Girl“ die
abschreckende Antwort auf die bereits im Titel aufgeworfene Frage, wie sich ein
Mädchen in einer Gesellschaft fühlt, in der Frauen eine unterprivilegierte Stellung
einnehmen und in der in bestimmten Kreisen die Bezeichnung „Mädchen“ die
größtmögliche Form der Beleidigung darstellt. Sie lässt die Männer, an die der Clip
adressiert ist, und die sich mit den Opfern identifizieren sollen, spüren, wie es sich
anfühlt, ein Opfer körperlicher Gewalt zu sein, bedroht, vorgeführt und erniedrigt zu
werden, zumal von einer vermeintlich schwächeren Person. Darüber hinaus kann er
auch als Anklage gegen eine Gesellschaft verstanden werden, in der Opfer erst zu
Tätern werden müssen, um mit ihren Interessen wahrgenommen zu werden.
Madonna inszeniert ein Gewaltszenario um einem gewalttätigen System den Spiegel
vorzuhalten. Gleichzeitig streicht sie aber ― vorgeführt durch das drastische Ende
der Protagonistin ― auch heraus, dass es aus dieser Spirale der Gewalt an einem
bestimmten Punkt keinen Ausweg mehr gibt, nämlich dann, wenn sich die
Aggression des Täters gegen sich selbst richtet.
Die
Rolle
Protagonistin
der
gehören
alten
Dame
scheint
unterschiedlichen
zunächst
ungewiß.
Generationen
an
Sie
und
und
die
leben
in
unterschiedlichen Welten: Während sich die junge Frau als Straftäterin permanent
auf der Flucht befindet, lebt die alte Frau in einem Pflegeheim und ist auf die Hilfe
Anderer angewiesen. Wie eine in der Erzählchronologie weiter hinter angeordnete
Einstellung zeigt, scheint die alte Dame allerdings großes Interesse an schnellen
Autos zu haben: Während sie vor dem Fernseher sitzt und sich ein Autorennen, ein
Roadmovie oder etwas ähnliches ansieht, wird sie vom Geschehen derart ergriffen,
dass sich ihre innere Anteilnahme in körperlichen Reaktionen äußert: Sie krallt sich
92
― wie in der Beschreibung des Clips bereits erwähnt ― mit den Fingern in der
Armlehne des Sessels fest. Diese Reaktion ist um so auffälliger, da die alte Dame
sich in ihrem sonstigen Verhalten eher lethargisch, geistig abwesend zeigt. So
könnte man zu dem Schluss kommen, dass die beiden Frauen die Freude an
schnellen Autos und das damit verbundene männliche Verhalten zu verbinden
scheint. Die Protagonistin lebt es aus, und gibt der alten Dame die Möglichkeit,
daran teilhaben zu können. Diese ist als Stellvertreterin einer Generation
anzusehen, in der die Rollenzuweisung der Geschlechter eine noch viel restriktivere
war als in der gegenwärtigen Zeit. Auch die alte Dame ist ein „girl in this world“,
und hat sich ihr Leben lang vermutlich männlichen Wünschen und Vorstellungen
unterordnen müssen.
Die Tatsache, dass die beiden Frauen sich für die Autofahrt präparieren, in
dem sie sich Schutzkleidung anlegen, lässt auf eine gewisse Routine der
Vorgehensweise schließen. Offensichtlich unternimmt das ungleiche Paar des
öfteren diese Art von Ausflügen. Madonnas Hämatom unter der Brust unterstützt
diese Vermutung zusätzlich.
Der Selbstmord gilt als das typische Ende eines Roadmovies und ist
Ausdruck von Nicht-Passivität. Die Protagonistin bestimmt selbst über das eigene
Leben und darüber, wann sie es beenden will. Andererseits hat sie aus moralischethischer Perspektive keine andere Möglichkeit, als sich das Leben zu nehmen,
denn als Täterin hat sie sich der gleichen Verbrechen schuldig gemacht, die sie
ihren Opfern zum Vorwurf gemacht hat, als diese noch Täter und sie selbst das
Opfer war. Darüber hinaus müssen starke Frauen am Ende von Hollywoodfilmen
immer sterben, denn für sie gibt es ― das vermittelt auch der Videoclip zu „What It
Feels Like For A Girl“ ― keinen Platz in der Gesellschaft.
Das Thema des weiblichen outlaw, auf das dieser Clip referiert, kann im
Mainstream als vorausgesetzt angenommen werden. Hollywoodfilme wie der 1991
produzierte „weibliche“ Roadmovie „Thelma & Louise“ 203 zeigen in systemkritischer
Weise
auf,
wie
eine
von
Männern
dominierte
Gesellschaft
auf
weibliche
„Ausbruchs“-Versuche reagiert. Auch hier bleibt dem Frauenpaar am Ende nur noch
die Flucht in den Selbstmord, denn als outlaws gibt es für sie keinen Platz mehr in
der Gesellschaft. 204
203
Regie: Ridley Scott, mit Susan Surandon und Geena Davis in den Hauptrollen.
Zwei Freundinnen, eine Hausfrau und ein Serviererin, wollen ein Wochenende ohne Männer
verbringen. Bei diesem Versuch, ihre Freiheit zu finden, geraten sie in unvorhergesehene Probleme: Eine
der beiden Frauen wird von einem rüden Kneipengänger sexuell belästigt, woraufhin ihre Freundin den
204
93
Heinz Geuen und Michael Rappe verweisen außerdem auf den spirituellen
Zusammenhang, der zwischen dem Madonna-Clip und den Arbeiten von Virginie
Despentes und Coralie Trinth Thi besteht, die in ihrem Film „Baise Moi“ aus dem
Jahre 2000 „die Ausweglosigkeit weiblichen Aufbegehrens zutiefst verstörend
darstellen.“ 205
Auch die Protagonistin in „What It Feels Like For A Girl“ „verspielt“ durch ihr
Verhalten ihren Anspruch auf einen Platz in der Gesellschaft, in die eine Rückkehr
nicht mehr möglich ist, auch weil er einen persönlichen Rückschritt bedeuten
würde. Neben den beiden oben angeführten filmischen Referenzen legt die
Thematik des Clips einen Vergleich mit der zu Tode verurteilten, als erster
weiblicher amerikanischer „serial killer“ bekannt gewordenen Aileen Wuornos nahe.
Der „Fall“ Wuornos erregte in den 1990er Jahren in der amerikanischen
Öffentlichkeit nicht nur deshalb so viel Aufsehen, weil sie eine mordende Frau war,
sondern weil sie ihre Opfer scheinbar willkürlich auswählte und dabei mit äußerster
Brutalität vorging. Die ehemalige Prostituierte, die von frühester Kindheit an den
Umgang mit Männern als gewalttätig, sexualisiert, verletzend und demütigend
erfahren hatte, und in den 1980er und 1990er Jahren sieben ihrer Freier tötete,
wurde 1992 zum Tode verurteilt und zehn Jahre später hingerichtet. Der Prozess
avancierte zu einem regelrechten Medienspektakel und verhalf nicht nur der
Hauptverdächtigen, sondern auch ihrem Anwalt zu zweifelhafter Popularität, wie der
Dokumentarfilmer Nick Broomfield in seinen beiden Portraits über Wuornos
darlegte. 206 Zuletzt erinnerte der von Patty Jenkins im Jahre 2003 gedrehte Film
„Monster“ mit Charlize Theron in der Hauptrolle an das Leben und die Hinrichtung
von „Amerikas erster weiblicher Serienkillerin.“ Auch der Fall Wuornos’ beschreibt
das Schicksal einer Frau, die sich mit ihrer Opferrolle nicht länger abfinden wollte.
Aus Wuornos’ Lebensbeschreibungen und dem Film „Monster“ geht hervor, wie sich
ein Mädchen fühlt, das am untersten Ende der sozialen Hierarchie steht: verletzt,
mißbraucht, ausgenutzt, gedemütigt, verlassen und um die eigenen Lebensträume
betrogen. Wie in Madonnas Video-Clip sieht Wuornos ihre einzige Möglichkeit, sich
Mann erschießt. Für den Rest des Films werden sie vom FBI gejagt. Auf ihrer Flucht streben sie
kompromisslos ihre Freiheit an und emanzipieren sich so von der Männerwelt. Am Ende ihres
Rachefeldzugs, von männlichen Polizisten umstellt, entscheiden sie sich für den Selbstmord.
205
Geuen/Rappe 2003, S. 47. – Nach einer Vergewaltigung ermordet Nadine ihren Peiniger. Auf der
Flucht trifft sie Manu, die ebenfalls Schlimmes erlebt hat. Die beiden Frauen begeben sich zusammen auf
die Flucht durch die französische Provinz, wobei sie ein Leben jenseits aller Konventionen und
Wertvorstellungen führen, aus dem es schließlich kein Zurück gibt. Auch hier steht am Ende der Tod, die
Kapitulation.
206
„Aileen Wuornos: The Selling of a Serial Killer“ (1992) und „Aileen: Life ans Death of a Serial Killer“
(2003), Regie: Nick Broomfield. – Ebenfalls 1992 entstand unter der Regie von Jean Smart der
Fernsehfilm „Overkill: The Aileen Wuornos Story“.
94
in dieser als gewalttätig und rücksichtslos erfahrenen Welt zu behaupten, darin,
männliches Verhalten anzunehmen: Sie verhält sich im Alltag wie ein Mann, kleidet
sich wie ein Mann, geht wie Mann, lacht wie Mann, umgibt sich nur mit Männern,
besucht Männer-Kneipen, trinkt Bier und Schnaps und erzählt Männer-Witze. Einzig
ihr „Beruf“ und nicht zuletzt die Beziehung zu einer anderen Frau, von der sie zum
ersten Mal in ihrem Leben Liebe erfährt, bringen sie immer wieder mit ihrer eigenen
Weiblichkeit und ihrer emotionalen Seite in Konflikt.
Wie bereits in der Einleitung dieses Kapitels dargestellt, wurde die
Verweigerung einer Ausstrahlung von „What It Feels Like A Girl“ von den
Musiksendern mit dem Argument der darin zur Schau gestellten Gewalt begründet.
Tatsächlich werden, wie die Clipbeschreibung darstellt, die entscheidenden Szenen
jedoch gar nicht gezeigt. Doch gerade darin, dass die Auswirkungen der Gewalt für
den Betrachter nicht sichtbar sind, sehen Medienwissenschaftler die eigentliche
Gefahr, da auf diese Weise das Ausmaß und die Tragweite der Handlungen
verharmlost
bzw.
heruntergespielt
werde.
Betroffen
seien
vor
allem
junge
Rezipienten, deren soziale Kompetenz und ethisches Verantwortungsbewusstsein
noch
nicht
voll
ausgereift
und
bei
denen
das
Gesehene
daher
zu
Handlungsmodifikationen führen könnte. Im Bezug auf den oben besprochenen Clip
könnte das zum Beispiel bedeuten, dass sich jugendliche Zuschauer, die sehen, wie
eine Tankstelle „in die Luft“ geht und sich von der Darstellung ästhetisch
angesprochen fühlen, dadurch zur Nachahmung animiert werden könnten.
Es stellt sich allerdings die Frage, zu welchen Konsequenzen es in der
Gesellschaft
führen
würde,
wenn
die
Masse
der
täglich
in
Filmen
und
Fernsehsendungen konsumierten Gewaltdarstellungen in Taten umgesetzt würde.
So scheint es eher plausibel hinsichtlich der Wirkungen von Videoclips von dem
Verständnis eines eindimensionalen Ursache-Wirkung-Modells abzurücken. Darüber
hinaus kann es nicht ausreichen, einzelne Bildelemente ― ähnlich wie Freud ― aus
dem Gesamtzusammenhang zu isolieren und auf ihre einseitige Funktion als
Symbole für gefährliche Triebwünsche zu reduzieren, etwa ein zertrümmertes Auto
als Propagierung von Gewalt, oder hautenge Kleidung, rote Lippen und nackte Haut
als Aufforderung zu Promiskuität.
So scheint letztlich die Tatsache, dass eine Frau, die einen Rachfeldzug
gegen die Männerwelt führt, die Musiksender dazu bewegt zu haben, den Clip nicht
auszustrahlen. Obgleich Madonna einer von MTVs „Darlings“ ist, verbietet es ihr
95
allein die simple Tatsache, dass sie eine Frau ist, ihre Meinung zu äußern ― ganz
im Gegensatz zu den zahlreichen rappenden Männern, die den Betrachter nicht
selten selbstverliebt an ihren intimsten Phantasien teilhaben lassen und dafür
anerkennenden Beifall ernten. Auch das zeigt auf augenfällige Weise, „what it feels
like for a girl“!
Der Madonna Clip spiegelt den Zorn der Künstlerin über das nicht
vorhandene Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern wieder. Andrew Morton
erkennt in ihr eine „zeitgemäße Popversion von Puccinis Opernheldin Turandot“ 207 ,
die sich an der Männerwelt rächt. Dabei stehen, so Morton, das Video „wie die
ganze Bilderwelt ihres Drowned World-Konzertes völlig im Kontext der Themen, mit
denen sie sich während der letzten vergangenen 20 Jahre beschäftigt hat.“ 208 Denn
auch
hier
verhandelt
geschlechtlichen
sie
Zwiespalt
die
und
Beziehung zwischen
den
ungelösten
den Geschlechtern, den
Konflikt
der
Frau
in
der
patriarchalen Gesellschaft, die durch und durch weiblich und sich ihrer Sexualität
bewusst sein, doch zugleich die Kontrolle über ihr Leben haben will. War sie in
ihrem „Drowned World / Substitute for Love“-Clip (1998, Clip 08) noch Opfer von
der von Männern dominierten Massenmedien, so sei sie in „What It Feels Like For A
Girl“ zur Rächerin geworden.
Rache ist ein Thema, was sie in ihrer „Drowned World“-Tour 2001 noch
weiter ausgebaut hat:
In einer Szene erschießt Madonna ihren männlichen Peiniger, in einer anderen erhebt
sie als rachsüchtige Geisha gekleidet das Schwert gegen ihren Angreifer. Bilder
geschlagener Frauen [drängen] von Videoschirmen auf die Zuschauer ein. 209
Die von Madonna kultivierte „Mrs. Ritchie“-Gestalt ist demnach genauso kalkuliert
wie alle anderen Madonna-Gestalten auch.
3.
MADONNAS MACHT ÜBER DIE BILDER
Diesmal fühlt es sich seltsam an, anders als sonst. Der Bedeutungs- und
Zeichenkomplex „Madonna“ ist dabei, aktualisiert zu werden, aber das Wichtigste
scheint irgendwie zu fehlen. Die Single „American Life“ steht in den Läden und läuft
im Radio, ab Dienstag wird auch das gleichnamige Album zu haben sein ― aber dort,
wo man das Zentrum vermutet, klafft eine riesige Lücke. [...] Madonna hat das
Video, das ihr Image auf den Stand der Gegenwart gebracht hätte, praktisch
207
208
209
Morton 2002, S. 410.
Ebd., S. 409.
Ebd., S. 410.
96
während der Veröffentlichung schon wieder zurückgezogen. [...] Ein Madonna-Album
ohne neue Madonna-Bilder hinterlässt eine frappierende Leere, die auch vom Rest
des Popbetriebs nicht gefüllt werden kann. Da, wo sie noch vor kurzem war, klafft
nun praktisch ein Krater, gefüllt mit nichts. 210
Obgleich
diese
Veröffentlichung
Zeilen,
von
mit
denen
Madonnas
Tobias
neuntem
Kniebe
Album
seinen
„American
Artikel
über
Life“ 211
in
die
der
Süddeutschen Zeitung vom 17. April 2003 einleitet, theatralisch anmuten, lassen
sie dennoch erkennen, wie sehr der Madonna-Diskurs vom Visuellen bestimmt wird.
„Hören statt sehen“, schreibt Der Spiegel, „das ist eine neue Dimension der
Madonna-Rezeption, so erscheint es beinahe logisch, dass ‚American Life’ in vielen
Kritiken schlechter abschneidet als die beiden vorherigen Alben ‚Ray Of Light’ und
‚Music’“. 212
Das Cover (Anhang I, Abb. 09) zeigt ein schwarz-weißes, im Siebdruck-Stil
gehaltenes Portrait der Künstlerin, das durch Kappe, Haltung und Mimik an das
berühmte Konterfei des kubanischen Guerillakämpfers und Revolutionärs Ernesto
„Che“ Guevara erinnert ― seit den 1960er Jahren, vor allem bei der politisch
Linken, ein Symbol für Widerstand ―, wodurch offensichtlich die Stoßrichtung
vorgegeben werden soll: Zwei blutrote Streifen ziehen sich auf Höhe des linken
Auges und der Stirn als einzige farbliche Elemente über das Portrait, während im
Hintergrund eine zerrissene, stilisierte amerikanische Flagge zu erkennen ist. Das
dazugehörige Video wurde allerdings nach nur einem Tag Ausstrahlung „[o]ut of
respect for armed forces“ von Madonna wieder zurückgezogen 213 , denn der Clip
zeigt die Künstlerin, wie sie als „paramilitärische Kämpferin über den Laufsteg
flaniert und mit drastischen Bildern die Kriegstreiberei George W. Bushs anprangert
[...]“ 214
― offensichtlich eine zu große Zumutung für den amerikanischen
Durchschnittskonsumenten.
Durch das Zurückziehen des Videos verzichtete sie auf einen wesentlichen
Teil ihrer Performance, der dazu hätte beitragen können, die „neue“ Madonna zu
verorten ― eine Tatsache, die bei Kniebe zu einer „irrationalen Sehnsucht nach
Madonna-Bildern“ führt. Seiner Meinung nach hätte ein Videoclip „vielleicht alles
210
Kniebe, Tobias: „Madonnas Neue“, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.04.2003.
Produziert von Madonna und Mirwais Ahmadzai, mit dem sie schon bei ihrem letzten Album „Music“
zusammengearbeitet hat.
212
Borcholte, Andreas: „Madonnas ‚American Life’. Adieu Jugendwahn“, in: Spiegel online vom
23.04.2003, http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,245642,00.html, Zugang: 29.06.2005.
213
Vgl. Mertin, Andreas: „Abgesang einer Madonna“, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 23/2003,
http://theomag.de/23/am92.htm; Zugang: 14.06.2005.
214
Borcholte 2003.
211
97
geklärt [was durch Musik und Text des neuen Albums allein eben unklar geblieben
ist; Anmerkung d.V.], genial auf den Punkt gebracht und eine gültige Madonna für
die nächsten Monate geschaffen“ 215 ; denn dass die Bilder dem jeweiligen Song
oftmals erst die eigentliche Bedeutung verleihen, konnte an allen im Zentrum
dieser Arbeit stehenden Videoclips aufgezeigt werden.
Die Madonna-Rezeption ist ― wie in den obigen Zitaten stellvertretend für
den Madonna-Diskurs zum Ausdruck gebracht wurde ― in erster Linie eine visuelle,
wobei die materiale Beschaffenheit ihrer Musik und ihre Qualitäten als Sängerin von
nur sekundärem Interesse waren und sind. So vertritt Laurenz Volkmann auch die
Meinung, dass
Madonna [...] wohl mit ihrer dünnen Trällerstimme und den zweideutigen Texten
eines der damaligen One-Hit-Wonders geblieben [wäre], eine Pop-Saisongröße wie
die Go-Go’s, Bananarama, die Bangles, Cyndi Lauper [...], hätte sie nicht passend
zum neuen Medium MTV ein visuelles Image kreiert, das von Pop-Journalisten als
Auftritt eines grellen Nightlife-Girls beschrieben wurde, wie bei „dem Mädchen von
der Straße, mit dem freien Bauchnabel und den ausgefallenen Oberteilen, mit den
Netzröcken, den dicken Socken, den Kruzifix-Ohrringen und den unzähligen GummiArmreifen.“ 216
Das Medium Videoclip wurde von Anfang an von Madonna genutzt, um ihre
Popularität aufzubauen, ihr jeweiliges Image zu kreieren und umzuwandeln. Die
Wandelbarkeit
der
Kunstfigur
Madonna
ist
ihre
zentrale
Eigenschaft
und
wahrscheinlich auch der wichtigste kommerzielle Aspekt des bis heute fast
lückenlos
erfolgreichen
wesentlichstes,
Stars.
So
verkaufsförderndes
Wandlungsfähigkeit“ hervor
217
hebt
Claudia
Merkmal
ihre
Bullerjahn
als
Madonnas
„chamäleonartige
visuelle
, während Boris Penth und Natalia Wörner in ihr „die
wandelbarste Projektionsfläche in Form eines menschlichen Stars“ 218 erkennen, die
dieses Jahrhundert geschaffen hat.
Mit ihrer unerschöpflichen Verwandlungsfähigkeit fordert sie den Betrachter
jedes Mal wieder heraus, sie als Künstlerin neu zu begreifen. 219 Bullerjahn erkennt
in diesen fortwährenden Imagewechseln eine Möglichkeit, das „Produkt Madonna“
215
Kniebe 2003.
Voller, Debbi: Madonna. Eine illustrierte Biographie von Debbi Voller, Rastatt: Moewig 1990 [engl.
Original 1988], S. 48; zit.n. Volkmann.
217
Bullerjahn 2001, S. 217.
218
Penth, Boris/Wörner, Natalia: „Das elfte Gebot: Madonna Ciccone“, in: Diederichsen,
Diedrich/Dormagen, Christel/Penth, Boris/Wörner, Natalia: Das Madonna Phänomen, Hamburg 1993, S.
28.
219
Vgl. Bronfen, Elisabeth: „Von der Diva zum Megastar ― Cindy Sherman und Madonna“, in: Bronfen,
Elisabeth/Strautmann, Barbara: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München: Schirmer/Mosel
2002, S. 204. – Wie der Titel dieses Aufsatzes schon andeutet, wird Madonnas Aneignung von Images
populärer Stars (Monroe, Dietrich, Minelli, Hayworth, ...), die die Einzigartigkeit eines Stars damit als
eine Täuschung enttarnt, oftmals mit den Fotoaufnahmen Cindy Shermans verglichen, in denen sie
verkleidet Posen verschiedener Hollywoodstars der fünfziger Jahre einnimmt.
216
98
immer wieder neu beim Konsumenten anpreisen zu können, und mit jeder neuen
Single, jedem dazugehörigen Clip und jedem Album die Erwartungshaltung bei Fans
und Kritikern zu erhöhen. Sie vergleicht dieses Marketing-Konzept mit der
Vermarktung von Alltagsgegenständen, bei denen ebenfalls von Zeit zu Zeit das
Design verändert werden müsste, um es für den Verbraucher erneut interessant
wirken zu lassen und ihn zum kaufen zu bewegen. 220
Durch ihre Musikvideos hat Madonna von Anfang an „Einblick in die
Herstellung ihres Starkörpers geboten.“ 221 Das Musikvideo versteht sie, wie sie
selbst erklärt, „als filmischen Ausdruck ihrer Songs, als lyrische Kurzform des
Spielfilms, die das visuell umsetzt, wovon der Song erzählt.“ 222 Das Musikvideo ist
das Medium, in dem sie
unter eigener Regie das Spiel zwischen Macht und Lust für die Definition weiblicher
Subjektivität erproben, weibliche Stereotypen auf die Spitze treiben und fröhlich
demontieren, und die Blickverhältnisse kritisch beleuchten, die in konventionellen
Darstellungen weiblicher Stars wirksam sind. 223
In den Clips ist es ihr möglich, die geschlechtlichen Identitäten als Maskeraden
durchzuspielen und die fließenden Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit
(„Express Yourself“ und „What It Feels Like For A Girl“) aufzuzeigen. Madonnas
Maskerade der exzessiven Weiblichkeit, wie sie sie z.B. in den frivolen Dessous
eines
Jean-Paul
Gautier
inszeniert,
bewirkt
eine
Kritik
der
„natürlichen“
Geschlechtsunterschiede; denn eine solche Darstellung verweist auf die soziale
Konstruktion
der
Geschlechtsunterschiede,
im
Gegensatz
zur
natürlichen
Determination. Sie trägt nicht nur „Weiblichkeit als Maskerade“ („Open Your
Heart“), sondern auch „Männlichkeit als Maskerade“ („Justify My Love“), wie
Corinna Herr in ihrem Aufsatz darstellt. 224 Dieser Austausch von Masken erfolgt
entweder
zwischen
ihren
Auftritten,
oder
aber
innerhalb
einer
einzelnen
Performance, wie etwa in „Express Yourself“.
Madonna sucht in ihren Videobildern nach einer erotischen Sprache, die die
Frau nicht zwangsläufig zum Sexualobjekt degradiert. Indem sie Körpergrenzen
überreitet und durch immer wieder neue Inszenierungen die unerschöpfliche Vielfalt
an Möglichkeiten der Imagekonstruktionen darstellt, zeigt sie auf, dass es keine
essentiellen Kategorien von Geschlechtlichkeit gibt. So ist es kein Widerspruch,
220
221
222
223
224
Vgl. Bullerjahn 2001, S. 217.
Bronfen 2002, S. 208.
Ebd.
Ebd.
Vgl. Herr 2003, S. 343 ff.
99
wenn sich das „Girlie“ zur Domina, danach zur Mystikerin und zur Auftragskillerin
entwickelt. Madonna hat viele Gesichter. 225 Sie erscheint in immer wieder neuen,
dem Zeitgeist entsprechenden Erscheinungen, womit sie sich als Künstlerin nicht
nur ― wie oben ausgeführt ― immer wieder neu „erfindet“, sondern auch auf die
Schnelllebigkeit
Veränderung,
der
der
Medienkultur
Madonna
reagiert.
ihre
Die
wechselnden
Popbranche
lebt
von
der
Weiblichkeitsinszenierungen
entgegensetzt. Denn durch die stete Wiederholung in Radio, Fernsehen und
Internet, in der sie „on heavy rotation“ zu hören und sehen ist, nutzen sich die
Bilder schnell ab und nicht nur ihre Attraktivität, sondern vor allem ihre Wirkkraft.
Durch
ihre
permanenten
kreativen
Imagewechsel
entgeht
Madonna
der
nivellierenden Wirkung durch die postmodernen Medien.
Heinz Geuen und Michael Rappe sprechen von einer „chromatischen
Identität der Pop-Künstlerin Madonna.“ 226 Damit bezeichnen sie
die Facetten einer permanenten musikalischen und visuellen Neu-Konstruktion, die
soziokulturell geprägte Stile und Habitualisierungen ebenso umfasst wie
Versatzstücke von Kunst und Mode und sich dabei genauso eindeutig wie in den
Mainstream-Traditionen des Pop bewegt wie in deren Randbereichen. 227
Dabei
spiele
die
ausschließliche.
Visualisierung
eine
zentrale
Rolle,
wenn
auch
nicht
die
228
Der Videoclip ist allerdings das ideale Medium für eine Künstlerin, die auf simultanen
Ebenen musikalische, narrative und symbolische Strukturen aufspaltet und so eine
permanente polysemantische Multidiskursivität erreicht, mit der sie ihr Thema ―
Macht, Kontrolle und Unterwerfung ― stets aufs Neue inszeniert. 229
So konnte aufgezeigt werden, dass es in all ihren unterschiedlichen Visualisierungen
dennoch immer um die Themen um Macht und Kontrolle geht, das dem jeweiligen
Image entsprechend in einer anderen Variation erscheint. So ist es in „Burning Up“
die Kontrolle über den Look, in „Express Yourself“ die sexuelle Selbstbestimmtheit
und
Unabhängigkeit,
die
ihr
die
Macht
verschafft.
In
„Frozen“
sind
es
Lebensweisheit und Naturverbundenheit, und in „What It Feels Like For A Girl“ die
Dekonstruktion des männlichen Geschlechts durch einen ― wenn auch zynisch
konnotierten ― Rollentausch.
225
„Alle Charaktere, die ich mir ausdenke, sind Teile von mir. Selbst wenn ich lüge ― die Lüge, die man
sich aussucht, erzählt viel über einen selbst.“ Madonna in einem Interview mit Detlef Diederichsen, in:
Diederichsen, Detlef: „Es gibt keine Grenzen“, in: Die Woche vom 21.10.1994.
226
Geuen/Rappe 2003, S. 51.
227
Ebd.
228
So zeige das Album „Music“ „einen Grad musikalischer Autonomie Madonnas, der in früheren
Veröffentlichungen kaum je erreicht worden war.“ Ebd.
229
Ebd.
100
Den Widerspruch zwischen dargestellter Person und Darstellerin setzt sie
dabei selbstbewusst ein, indem sie ihren Inszenierungen immer die Person der
disziplinierten Künstlerin gegenüberstellt. Dabei streicht sie deutlich heraus, dass
sie alle Entscheidungen ― vom Entwurf über die Produktion bis zur Vermarktung
ihres Starkimages ― selbst trifft. Sie hat die Kontrolle über alles, was sie tut.230 Im
Hinblick auf diese höchst perfektionierte Form der Selbstbestimmung spricht
Claudia Bullerjahn deshalb auch von der „Macht der Selbsterfindung“ 231 , der sich
die Künstlerin bediene, um die Kontrolle über ihr Image zu wahren; und nach John
Fiske beruht Madonnas Attraktivität für ihre Fans „weitgehend auf ihrer Kontrolle
über ihr eigenes Image und ihrer Bekräftigung ihres Rechtes auf eine unabhängige
feminine Sexualität.“ 232
Die Bilder des „Produktes Madonna“, die zwischen Macht und Unterwerfung,
Sexualsubjekt und –objekt hin und herpendeln, entziehen sich einer eindeutigen
Lesart. Die Entschlüsselung hängt von verschiedensten Faktoren wie der sozialen
Herkunft, dem Bildungsniveau und persönlichen Erfahrungen des Rezipienten ab.
Dies
bedeutet,
dass
Madonna-Bilder
aus
unterschiedlichen
Blickwinkeln
wahrgenommen werden können.
Ein Beispiel für eine absolut konträre Wahrnehmung von Madonna-Bildern
bietet die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin Bell Hooks, die in einem
Artikel mit der Überschrift „Sklavenhalterin oder Soul Sister?“ 233 „Madonnas
vermeintlich
feministisches Programm der sexuellen Befreiung als Adaption
männlicher Sexualität [beschreibt], die diese für ihre mittelschichtorientierte
Aufstiegsideologie
funktionalisiere.“ 234
So
ist
nach
Hooks
„die
künstlerische
Adaption von Ausdrucksformen der schwulen Subkultur [...] von männlicher
Sexualität
dominiert“,
so
dass
sie
zu
dem
Schluss
kommt,
„dass
von
emanzipatorischem Denken bei Madonna nicht im Entferntesten die Rede sein
könne.“ 235
230
Auf diese Weise unterlaufe sie den „Mythos des spontanen, authentischen Rock-’n’-Roll-Musikers.“
Bronfen 2002, S. 206. - Nach Lisa A. Lewis verkörpert sie deshalb das kulturelle Phänomen des „Pop“,
denn die Popkultur erhebt nicht, im Gegensatz zum „Rock“, den Anspruch auf Authentizität des
Rockmusikers, die Übereinstimmung von öffentlichem Image und persönlicher Subjektivität. Vgl. Lewis,
Lisa A.: „Gender Politics And MTV: Voicing The Difference” (1990), in: Benson, Carol/Metz, Allan (Hrsg.):
The Madonna Companion. Two Decades Of Commentary, New York 1999, S. 229.
231
Bullerjahn 2001, S. 223.
232
Fiske 2003, S. 133.
233
Vgl. Hooks, Bell: „Madonna. Sklavenhalterin oder Soul Sister?“, in: Dies. (Hrsg.): Black Looks.
Popkultur ― Medien ― Rassismus, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1994, S. 194-203.
234
Geuen/Rappe 2003, S. 50.
235
Ebd., S. 50 f.
101
Somit ist es gerade und vor allem die in Madonnas Songs und Musikvideos
angelegte Mehrdeutigkeit, die ihr zum Erfolg verholfen hat, denn Ambivalenz
eröffnet den größten Zuschauerkreis. So ist es möglich, dass sowohl Teenager, als
auch junge Frauen, Männer, Feministinnen und Wissenschaftler Anknüpfungspunkte
finden. So bezeichnet Claudia Bullerjahn die Videobilder Madonnas auch als
„Vexierbilder“,
die je nach Standpunkt des Betrachters in ihrer Bedeutung „umkippen“. Sie sind im
Sinne Umberto Ecos (1977) „offene Kunstwerke“. Es macht die Popularität von
Madonnas Videos aus, dass sie auch aus patriarchalem Blickwinkel rezipiert werden
können. 236
Somit verfehlen ihre Videoclips jede klare Aussage und erlauben eine mehrdeutige
Auslegung. Dabei ist die Mehrdeutigkeit postmoderner Texte nicht als ein Makel zu
betrachten. Die Bedeutungen eines Clips liegen nicht im Clip selbst, sondern in der
Praxis, d.h. in dessen Rezeption, denn die Wirkungen eines Clips werden im Diskurs
um den jeweiligen Star festgelegt. Clips, die von MTV mit der Zensur belegt
werden, sind besonders wirkungsvoll, weil sie dadurch zum Gegenstand lebhafter
Diskussionen werden. Am Beispiel von „Justify My Love“ konnte darüber hinaus
dargestellt
werden,
wie
die
Künstlerin
jeden
Skandal
geschickt
zu
Selbstvermarktungszwecken nutzt; denn ihre umstrittensten Clips ― neben dem
oben genannten außerdem die zu den Songs „Erotica” (1992) 237 und „What It Feels
Like For A Girl“ ― verkauften sich aufgrund des Verbots noch besser, als sie es
vermutlich ohne einen handfesten Skandal im Hintergrund getan hätten.
Nach fast einem Vierteljahrhundert steht die Künstlerin Madonna noch
immer an der Spitze des Musikgeschäfts, hat alle Medienskandale erfolgreich
überlebt und es gleichzeitig geschafft, mit ihrer Musik aktuell zu bleiben. Auch für
das Ende diesen Jahres hat sich wieder eine „neue“ Madonna angekündigt. So
schrieb schon 1994 Thomas Groß in seiner Rezension in der taz zu Madonnas Album
„Bedtime Stories“, dass es fast so scheine, als sei nicht Madonnas „offensives SexPosing ihr größter Tabubruch, sondern die pure Weigerung, von der Bildfläche zu
verschwinden.“ 238
236
237
238
Bullerjahn 2001, S. 257 f.
Regie: Fabien Baron, 1992, aus: „Erotica“.
Groß, Thomas: „Kein böser Blick“, in: taz Nr. 4454 vom 28.10.1994.
102
4.
AUSBLICK UND SCHLUSSWORT
Seit einiger Zeit überschlagen sich die Nachrichten bezüglich des Mitte
November diesen Jahres erwarteten neuen Album von Madonna. Ihre Homepage
kündigt an, dass sie mit diesem Album mit dem sprechenden Titel „Confessions On
A Dancefloor“ zu ihren musikalischen Wurzeln zurückkehre, wobei die Songs eine
Giorgio-Moroder- 239 und Abba-Nostalgie mit „future-music“ verbänden. Das Cover
zum Album, 240 das dort ebenfalls bereits abgebildet ist, 241 zeigt die Künstlerin mit
orange-rot gelocktem, wallendem Haar, gekleidet in eine pinkfarbene Chiffonbluse
mit Puffärmeln, ein pinkfarbenes Höschen und pinkfarbene Glitzerpumps und ―
„very british“ ― sehr viel weiße Haut zeigend. Mit dem Rücken zur Kamera eine
artistische Pose einnehmend ― das linke Bein und der linke Arm sind nach hinten
geschwungen ―, scheint sie gleichsam durch den Diskohimmel zu schweben, den
Kopf in einer exstatischen Geste in den Nacken geworfen, so dass ihr Gesicht nur
andeutungsweise zu erkennen ist. Darunter steht in großen Lettern, die an die
Schriftzüge ihrer Discojahre erinnern, der Name der Künstlerin, wobei der
Buchstabe „O“ zu einer Diskokugel stilisiert ist.
Somit scheint sich der Kreis zu schließen. Im 21. Jahrhundert, nach neun
Alben und unzähligen Images, kehrt die Künstlerin Madonna dorthin zurück, wo ihre
Karriere begann: In das New York der frühen 1980er Jahre, zurück zu den
Vorläufern von House-Music, in die damalige Club-Community, wo sie als junge,
toughe Frau mit großen Ambitionen und einfachen Pop-Tanzstücken entdeckt
wurde.
Neue Videobilder werden wieder eine neue Madonna hervorbringen, die
„Altes“ und „Neues“ kunstvoll zu verbinden weiß, und zumindest für die nächsten
Monate Gültigkeit hat; und es werden sich auch weiterhin Madonna-Biografien mit
der Frage beschäftigen, welches Image denn nun der „echten“ Madonna Louise
Veronica Ciccone entspricht, obgleich der Selbstentwurf der Künstlerin
die
Möglichkeit einer Biografie ausschließt. Denn die „echte“ Madonna hinter all ihren
Inszenierungen zu finden scheint aussichtslos. Wie soll man sich auch einem Star
nähern,
der
sich
seine
ganze
Karriere
lang
mit
der
Veränderung
seines
künstlerischen Images beschäftigt hat und dessen Wandlungsfähigkeit zu seinem
Markennamen wurde? Abgesehen davon scheinen all diese Biografen, die ―
239
Giorgio Moroder, Südtiroler Produzent, verschaffte der Disco Queen Donna Summer 1975 mit dem
von ihm produzierten Song „Love to Love You, Baby“ einen Hit.
240
Coverartwork gestaltet von Steven Klein und Giovannin Bianco.
241
http://home.madonna.com/MADONNA_COVER_NEW_g_flat.jpg
103
„desperately seeking...“ ― auf der Spur einer ominösen „Wahrheit“ bleiben, die
Tatsache zu übersehen, dass die unterschiedlichen Frauenfiguren, aus denen das
Produkt „Madonna“ sich zusammensetzt, nur die Erfindung einer durchaus
kreativen und kritischen Künstlerin, aber noch viel versierteren Geschäftsfrau und
Marketingexpertin sind, die mit der Privatperson Mrs. Ritchie, geborene Madonna
Louise Veronica Ciccone, nur den Namen teilt.
104
5.
QUELLENVERZEICHNIS
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Clip-Liste
01. Burning Up (1983, Regie: Steve Barron, aus: Madonna. The First Album)
02. Lucky Star (1984, Regie: Arthur Pierson, aus: Madonna. The First Album)
03. Like A Virgin (1984, Regie: Mary Lambert, aus: Like A Virgin)
04. Open Your Heart (1986, Regie: Jean-Baptiste Mondino, aus: True Blue)
05. Express Yourself (1989, Regie: David Fincher, aus: Like A Prayer)
06. Justify My Love (1990, Regie: Jean-Baptiste Mondino, aus: The Immaculate Collection)
07. Frozen (1998, Regie: Chris Cunningham, aus: Ray Of Light)
08. Drowned World/Substitute For Love (1998, Regie: Walter Stern, aus: Ray Of Light)
09. Music (2000, Regie: Jonas Akerlund, aus: Music)
10. What It Feels Like For A Girl (2001, Regie: Guy Ritchie, aus: Music)
108