WIRTSCHAFTSPOLITIK
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WIRTSCHAFTSPOLITIK
WIRTSCHAFTSPOLITIK Skriptum von Prof. Dr. Roland Eisen I. Grundlagen § 1 Was ist Wirtschaftspolitik § 2 Die Rolle von Werturteilen und das Zweck-Mittel-Denken II. Ordnungspolitik in der Wettbewerbswirtschaft § 3 Ordnungsprobleme und Kriterien der Ordnungsbestimmung § 4 Transformationsprobleme von Wirtschaftsordnungen § 5 Der Beitrag der Wohlfahrtsökonomie § 6 Die Notwendigkeit von Ordnungspolitik: Probleme der marktmäßigen Koordination Seite 3 3 5 6 6 11 28 33 III. Institutionelle Grundlagen: Ziele, Mittel und Träger der Wirtschaftspolitik 39 § 7 Zielsysteme: Empirische Zielkataloge 39 § 8 Zielbeziehungen und Zielkonflikte § 9 Die Analyse der wirtschaftspolitischen Instrumente § 10 Träger und Inspiratoren der Wirtschaftspolitik § 11 Der wirtschaftspolitische Entscheidungs- und Abstimmungsprozess und seine Grenzen 41 46 48 IV. Spezielle Wirtschaftspolitik § 12 Wettbewerbspolitik: Leitbilder, praktische Umsetzung und Probleme § 13 Strukturpolitik - Auf dem Wege zur Dienstleistungsgesellschaft? § 14 Agrarpolitik - Weinseen und Butterberge? § 15 Umweltpolitik - Umwelt ein freies Gut? § 16 Wohnungspolitik - Wohnungsnot und kein Ende? 50 55 55 64 68 75 80 Hinweise zur Literatur Im wesentlichen folgt die Gliederung der traditionellen Einteilung der Wirtschaftspolitik. Als wichtigstes Buch wird Streit genannt. Einen guten Überblick geben auch Berg/Cassel/Hartwig. Über die Wirtschaftsordnung informiert recht umfassend Lampert. Eine Reihe wichtiger, aber kurzer Stichwörter zur Wirtschaftspolitik sind enthalten im Lexikon der Volkswirtschaft, hrsg. von Friedrich Geigant u.a., Landesberg a. L. (Verlag moderne Industrie 1983, 6. Aufl. 1994). In Kapitel IV wird aus der Vielzahl möglicher Spezieller Wirtschaftspolitiken nur eine subjektive Auswahl geboten, so wären etwa auch Verkehrs- und Energiepolitik oder auch Bildungspolitik interessante Anwendungen. Für einen Überblick empfiehlt sich Seidenfuss. Lesenswert sind aber auch die Beiträge in Vahlens Kompendium, Bd. 2. Kleinere, ergänzende Literaturangaben werden bei den jeweiligen Paragraphen angegeben. Berg, Hartmut, Dieter Cassel und Karl-Hans Hartwig: Theorie der Wirtschaftspolitik, in: Vahlens Kompendium, 7. Aufl. 1999, Bd. 2, S. 171-298. Lampert, H.: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, München, 13. Aufl. 1997. Seidenfuss, Helmuth St.: Sektorale Wirtschaftspolitik, in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, hrsg. von Werner Ehrlicher u.a., Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht Verlag), 1968, Bd., S. 287-352. Streit, Manfred E.: Theorie der Wirtschaftspolitik, Düsseldorf (Werner Verlag) 1979, 5. Aufl. 2000. Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hrsg. von Dieter Bender u.a., München (Verlag Franz Vahlen), 1983, 7. Aufl. 1999, Bd. 2. (Stand: 11. September 2001) 2 I. Grundlagen § 1 Was ist Wirtschaftspolitik? Wirtschaftspolitik ist die Gesamtheit aller Maßnahmen, Handlungen und Bestrebungen, die darauf abzielen, die wirtschaftlichen Aktivitäten der inländischen Wirtschaftssubjekte durch die Träger der Wirtschaftspolitik zu beeinflussen, zu gestalten, zu steuern und zu ordnen (nach Herbert Giersch). Wirtschaftspolitik wird als entscheidungstheoretischer Ansatz verstanden, wobei zwischen positiver Ökonomik (Erklärung der ökonomischen Zusammenhänge), normativer Ökonomik und Kunstlehre (im Sinne von praktischer Wirtschaftspolitik) unterschieden wird (J.N. Keynes). Dabei greift die Wirtschaftspolitik an vielen Stellen auf die Wirtschaftstheorie zurück. Ergänzung aber durch polit-ökonomische Fragestellungen und Ansätze ("Neue Politische Ökonomie") (vgl. Abb. 1). Drei Fragen sind dabei zu beantworten: Wer entscheidet? Wie wird entschieden? Was wird entschieden? Die erste Frage weist auf die Träger und Inspiratoren der Wirtschaftspolitik hin und darauf, wie die Träger bei Zielfindung, Willensbildung und Durchführung der Wirtschaftspolitik zusammen oder gegeneinander arbeiten. Die zweite Frage läßt sich mit Hilfe der Begriffe "Rationalität der Wirtschaftspolitik" und "Optimierung des Ziel-Mittel-Verhältnisses" umschreiben: Zentrale Probleme sind die Ableitung einer Zielfunktion für die und das Risikoverhalten der Träger der Wirtschaftspolitik. Die dritte Frage steht im Mittelpunkt: Kenntnis der Lage und der Ziele, deren Auseinanderklaffen Spannungen hervorruft, die zu wirtschaftspolitischen Aktivitäten führen (Diagnose, Prognose). Wichtig hier auch die Analyse der Instrumente. Wirtschaftspolitik wird aufgespalten in Ordnung-, Struktur- und Prozesspolitik bzw. in Quantitative Wirtschaftspolitik, Qualitative Wirtschaftspolitik und Reformpolitik (J. Tinbergen). Es stehen sich das "synoptische Ideal" (Quantitative Wirtschaftspolitik) und das "pragmatische Ideal" (Methode des Inkrementalismus, Popper, Dahl/Lindblom) gegenüber. 3 Abb. 1: Wirtschaftspolitik, Wirtschaftstheorie und Wertfreiheit Quelle: Streit: S. 229. § 2 Die Rolle von Werturteilen und das Zweck-Mittel-Denken Werturteile sind normative Aussagen, deren Überprüfung nach herrschender Meinung nicht möglich ist. Es werden unterschieden ethische, ideologische, teleologische und ontologische Urteile. Über Grundauffassungen zu den Werturteilen vgl. Abb. 2. Probleme sind der "naturalistische Trugschluß" (aus dem Sein wird auf ein Sollen geschlossen) und der "instrumentalistische Trugschluß" (G. Myrdal). Abb 2: Grundauffassungen zur Werturteilsfrage Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (1995): Theorie der Wirtschaftspolitik, in: Vahlens Kompedium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftpolitik, Bd. 2; 6. Aufl., München: Vahlen, S. 180. 5 II. Ordnungspolitik in der Wettbewerbswirtschaft § 3 Ordnungsprobleme (Kompetenz/Koordination) und Kriterien der Ordnungsbestimmung Vorklärung der Begriffe Wirtschaftsverfassung, Wirtschaftssystem und Wirtschaftsordnung, wobei unter Wirtschaftsordnung die konkrete Ausgestaltung der Wirtschaft zu verstehen ist (vgl. Abb. 4). Kriterien sind die Verteilung der Planungsbefugnisse (Koordination via Zentralplan oder Wettbewerb), die Ordnung der Eigentumsverhältnisse und die Ordnung der Kompetenzen. Hieraus ergeben sich verschiedene Extremtypen und Mischformen von Wirtschaftsordnungen (u.a. planification, Soziale Marktwirtschaft) (vgl. Abb. 3). Zur sozialen Marktwirtschaft siehe auch Seite 8/9/10. Grundlage des Koordinationsproblems (=Allokationsproblems) ist die Knappheit (mengenmäßige Differenz zwischen Bedarf und Aufkommen); Knappheitsgradanzeiger sind Marktpreise oder Salden güterwirtschaftlicher Planbilanzen (Dualität). Abbildung 3: Extremtypen und Mischformen von Wirtschaftsordnungen Koordinationsverfahren Eigentumsordnung Privateigentum Marktmäßige Koordination Vereinbarungen (Verbände) Extremtyp: Total dezentral geplante Marktwirtschaft Zentralverwaltungswirtschaftliche Anweisungen Staatskapitalismus Reine Marktwirtschaft Gelenkte Marktwirtschaft Gesellschaftliches Eigentum Zentralverwaltungswirtschaft Staatseigentum Konkurrenzsozialismus Extremtyp: Total zentralverwaltete Wirtschaft Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Streit, S. 55. 6 Abbildung 4: Ordnungspolitik in der gelenkten Marktwirtschaft Ordnungspolitik Politische Verfassung Institutionelle Infrastruktur Wirtschaftsverfassung Privateigentum Privatautonomie ◦ Vertragsfreiheit ◦ Schuldenhaftung ◦ Freizügigkeit ◦ Niederlassungsfreiheit ◦ Gewerbe- und ◦ Berufsfreiheit ◦Koalitionsfreiheit Kontrollorgane ◦ Parlamente ◦ Rechnungshöfe Autoritäts- u. Zwangsrechte Abwehrrechte Privater ◦ Willkürverbot ◦ Übermaßverbot Lenkungsbefugnisse politische Entscheidung Quelle: Streit, 2. Aufl., 1982, S. 44. Vgl. auch Streit, 2000, S. 58. Lenkung ◦ Allokation ◦ Stabilisierung ◦ Distribution Kontrolle wirtschaftsrechtliche Grenzen z. B. Wettbewerbsrecht Leistungswettbewerb marktmäßige Koordination Konkrete Ausgestaltung des Ordnungstyps gelenkte Marktwirtschaft 7 Textauszüge: Neoliberalismus, freiheitlicher Sozialismus und soziale Marktwirtschaft 1. Kernstück der neoliberalen Konzeption ist die Verwirklichung einer Wettbewerbsordnung auf der Grundlage des Privateigentums. Oberstes Ziel des Ordoliberalismus ist die individuelle Freiheit in einer Marktwirtschaft mit "vollständiger Konkurrenz" auf allen Märkten. Von dieser Ordnung wird angenommen, daß sie auch eine leistungsgerechte Einkommensverteilung ermöglicht und - bei entsprechender Geldordnung - einen hohen Beschäftigungsgrad sichert... Vom Konkurrenzsozialismus unterscheidet sich die ordoliberale Konzeption durch die Bejahung (1) des Privateigentums an den Produktionsmitteln und (2) der freien Marktpreisbildung, vom alten Liberalismus durch eine stärkere Betonung der Erkenntnis, daß die Wettbewerbsordnung nicht naturgegeben ist und daher als "staatliche Veranstaltung" organisiert und durch die Rechtsordnung gesichert werden muß. W. Eucken formuliert sieben "konstituierende" und vier "regulierende" Prinzipien der liberalen Wirtschaftsordnung: (W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Tübingen 1975): Die konstituierenden Prinzipien umfassen (1) das Preissystem der "vollständigen Konkurrenz", (2) die Stabilität der Währung, (3) Gewerbefreiheit, (4) das Privateigentum an den Produktionsmitteln, (5) die Vertragsfreiheit, ... (6) die volle Haftung, damit der Weg zur Rentabilität nur über Leistung führt, und (7) die Konstanz der Wirtschaftspolitik, durch die das einzelwirtschaftliche Risiko gemindert werden soll. Die vier regulierenden Prinzipien umreißen die Aufgaben der staatlichen Wirtschaftspolitik im Rahmen dieser Wirtschaftsverfassung. (1) Die staatliche Monopolkontrolle soll die Entstehung von Monopolen und Kartellen verhindern... (2) Die staatliche Finanzpolitik soll - vor allem mit Hilfe der progressiven Einkommenssteuer - die Einkommensverteilung korrigieren. (3) Durch Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit, den Umfang der Frauen - und Kinderarbeit ist die menschliche Arbeitskraft zu schützen... (4) Schließlich hält Eucken bei "antikonjunkturellem" Verhalten des Arbeitsangebots die Festsetzung von Mindestlöhnen für gerechtfertigt. 2. Die wirtschaftspolitische Konzeption des freiheitlichen Sozialismus ist ein Versuch, marktwirtschaftliche und planwirtschaftliche Prinzipien in einer Synthese miteinander zu verbinden, die die Mängel des Preismechanismus und eines Systems direkter staatlicher Kontrollen vermeidet und sozialpolitischen Zielen betont Rechnung trägt. "Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig", heißt das von Karl Schiller geprägte wirtschaftspolitische Motto der deutschen Sozialdemokratie. Darin kommt zum Ausdruck, daß sich der freiheitliche Sozialismus deutscher Prägung ebenso wie der Neoliberalismus prinzipiell für eine Marktwirtschaft und gegen eine Zentralverwaltungswirtschaft entscheidet... Während Euckens ordoliberale Konzeption auf der fragwürdigen Annahme beruht, daß unter der Herrschaft des konstituierenden Prinzips der Währungsstabilität normalerweise auch ein hoher Beschäftigungsgrad gegeben sein werde, und andere Neoliberale nur eine Konjunkturpolitik mit den klassischen geld- und kreditpolitischen Mitteln befürworten, fordern die Neosozialisten betont eine Politik der Vollbeschäftigung (auf der Grundlage einer stabilen Währung) und auch den Einsatz der Steuer- und Haushaltspolitik für den Ausgleich der konjunkturellen Schwankungen... Die Ziele der sozialen Sicherheit und einer gerechten Einkommensverteilung werden von den freiheitlichen Sozialisten stärker betont als von den Neoliberalen. Eine Änderung der Eigentumsverteilung wird nach wie vor energisch gefordert... 3. Die "soziale Marktwirtschaft" ist das vom Neoliberalismus inspirierte Leitbild der westdeutschen Wirtschaftspolitik nach 1948. Es unterscheidet sich vom Ordoliberalismus durch größere Wirklichkeitsnähe und stärkere Betonung sozialpolitischer Ziele und verlangt von den Trägern ökonomischer Macht soziales Verantwortungsbewußtsein. 8 ... Die Idee der sozialen Marktwirtschaft (ist) in vieler Hinsicht vage. Das Leitbild deckt sich auch vielfach nicht mit der tatsächlichen Regierungspraxis... So ist es Erhard als Bundeswirtschaftsmininister gerade in so wesentlichen Fragen seines eigentlichen Aufgabengebiets wie denen der Wettbewerbsgesetzgebung nicht gelungen, sich gegen widerstrebende Stimmen, die vornehmlich aus den Reihen seiner eigenen Partei kamen, voll durchzusetzen. "Eine Politik der sozialen Marktwirtschaft verlangt eine bewußte Politik des wirtschaftlichen Wachstums" und "eine Konjunkturpolitik.... die im Rahmen der marktwirtschaftlichen Bewegungsmöglichkeiten den Beschäftigungsgrad sichert". Als Rahmenbedingungen werden die "Stabilität des Haushalts" und eine gesicherte Geldordnung - d.h. wohl Preisstabilität und Gleichgewicht der Zahlungsbilanz bei Konvertibilität - genannt. Von einer antizyklischen Finanzpolitik ist nicht die Rede, und der "volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" will man sich nicht bedienen. Es scheint zu den Merkmalen der sozialen Marktwirtschaft zu gehören, daß immer wieder der Versuch unternommen wird, die Unternehmer durch Appelle an das soziale Verantwortungsbewußtsein oder die ökonomische Vernunft zu Preissenkungen oder zur Vermeidung von Preissteigerungen zu bewegen... Um so wichtiger ist dann natürlich zur Verstärkung des sozialen Gehalts der sozialen Marktwirtschaft die staatliche Verteilungspolitik "die in Form von Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Wohnungsbauzuschüssen, Subventionen usw. die Einkommensverteilung korrigiert"... Erhard hat die Erfahrung machen müssen, daß außer ihm auch noch andere Kreise, nämlich die Interessengruppen, Wirtschaftspolitik zu treiben versuchen. Er sieht darin "einen Krisenherd unserer Zeit und bedauert, "wie wenig uns bisher die Einordnung der Gruppeninteressen in den Staat gelungen ist... Gekürzte Textauszüge aus: Herbert Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Grundlagen, Wiesbaden 1961, S. 181 ff. Quelle: Czada, P. u. a. (1988): Wirtschaftspolitik, Opladen, S. 15-16. 9 Die Wirtschaftsordnung, die nach dem Grundgesetz möglich ist. 1. Aus: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Investitionshilfegesetz vom 20.7.1954, Bd. 4, S. 18. Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde "soziale Marktwirtschaft". Die "wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes besteht lediglich darin, daß sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet. Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann. Daher ist es verfassungsrechtlich ohne Bedeutung, ob das Investitionshilfegesetz im Einklang mit der bisherigen Wirtschafts- und Sozialordnung steht und ob das zur Wirtschaftslenkung verwandte Mittel "marktkonform" ist. 2. Aus: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mitbestimmungsgesetz vom 1.3.1979, Bd. 50, S. 338. Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen hat, daß das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei; der Gesetzgeber darf jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet (BVerfGE 4,7 [17 f.] - Investitionshilfegesetz). Ihm kommt also eine weitgehende Gestaltungsfreiheit zu (vgl. etwa BVerfGE 7, 377 [4001 -- Apotheken; 25,1 [19 f.] -- Mühlengesetz; 30, 292 [317, 319] - Erdölbevorratung). Das darin zutage tretende Element relativer Offenheit der Verfassungsordnung ist notwendig, um einerseits dem geschichtlichen Wandel Rechnung zu tragen, der im besonderen Maße das wirtschaftliche Leben kennzeichnet, andererseits die normierende Kraft der Verfassung nicht aufs Spiel zu setzen. Allerdings darf die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht zu einer Verkürzung dessen führen, was die Verfassung in allem Wandel unverändert gewährleisten will, namentlich nicht zu einer Verkürzung der in den Einzelgrundrechten garantierten individuellen Freiheiten, ohne die nach der Konzeption des Grundgesetzes ein Leben in menschlicher Würde nicht möglich ist. Die Aufgabe besteht infolgedessen darin, die grundsätzliche Freiheit wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung, die dem Gesetzgeber gewahrt bleiben muß, mit dem Freiheitsschutz zu vereinen, auf den der einzelne Bürger gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat (BVerfGE 7, 377 (4001)). Quelle: Czada (1988): S. 20. 10 § 4 Probleme der Transformation von Wirtschaftsordnungen I. Aufgrund der einmaligen historischen Situation beschränkt sich die Analyse auf die Vielzahl der Probleme des Übergangs einer sozialistischen Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft. Es handelt sich um ein "Real-Experiment", das historisch − zumindest in dieser Dimension − einmalig ist. Im Prinzip fehlt eine Theorie des Überganges, die Diskussion (vgl. § 3) bezog sich auf die Klassifikation und den Vergleich der Systeme, auch wenn es immer eine Literatur zur "Reform sozialistischer Systeme" gab. Die Ursache für die Umwälzungen in Osteuropa liegt in den sich verstärkenden Funktionsschwächen der Zentralverwaltungswirtschaft (ZVW). Als Mängel sind hier vor allem die unzureichende Genauigkeit bei der naturalen Planung und/oder das Fehlen eines funktionsfähigen Anreizsystems zur Leistungsmotivation zu nennen. Diesen Zusammenhang betont etwa auch Leipold (1991a), der mit Hilfe der Institutionenökonomik die Ursachen des Wandels analysiert: Der institutionelle Rahmen von Staatseigentum und Zentralisation führt zu Anreiz- und Kontrolldefiziten und zu einem fehlenden Interesse an rentabilitäts- und kostenbewusstem Wirtschaften. An den hieraus resultierenden ökonomischen Schwierigkeiten scheitern letztlich die sozialistischen Systeme. Drei Aufgabenfelder sind zu beachten: - Veränderung der Eigentumsordnung, - Makroökonomische Stabilisierung und - Fragen der Popularität des Reformprozesses bzw. der sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Reformpolitik. Wichtig ist die Herausbildung eines Privatsektors (mit Innovation und innovativen Unternehmern) und einer neuen Mittelklasse (Klasse von Klein- und Mittelunternehmern, SMB-small and medium business). Die Entwicklung eines Finanzsystems ist dann wichtig für eine erfolgreiche Privatisierung. Nach der Beseitigung der ZVW entsteht ein "institutionelles Vakuum", der Aufbau neuer Institutionen braucht aber Zeit. Hieraus lässt sich die Wirtschaftskrise teilweise erklären. Makroökonomische Stabilisierung heißt vor allem Bekämpfung der Inflation durch stabilisierende Geldpolitik und Budgetausgleich. Institutionen lassen sich importieren, weil sie schon in anderen Gesellschaften Vertrauen und Stabilität hatten. Deutlich veranschaulicht Abb. 5 die Interdependenzen im Transformationsprozeß. 11 Begriff der Transformation: Nach Kloten ist die Transformation von Anreizsystemen "jener durch politischen Gestaltungswillen und politisches Handeln ausgelöste Prozess ..., der durch eine Substitution gegebener ordnungskonstituierender Merkmale durch andere einen 'qualitativen' Sprung derart bewirkt, dass es zu einer Ablösung des alten Systems durch ein Neues kommt" (N. Kloten 1991 a, S. 8/9). D.h. Systemtransformation bedingt dann, dass das Gesamt von Handlungs-, Verfügungs- oder Planungsrechten ebenso wie die Wirtschaftsrechnung durch ein anderes Prinzip ersetzt wird. Dieser Begriff ist zu streng; deshalb wird teilweise eine allgemeinere Definition vorgeschlagen derart, dass "jede Substitution von – auch einzelnen – ordnungskonstituierenden Merkmalen durch andere, durch die die alte (Teil-) Ordnung durch eine neue abgelöst wird" hierunter fällt. "Dabei sollte das Ziel einer vollständigen Transformation hin zur Marktwirtschaft zumindest erkennbar sein" (Bohnet/Ohly; 1992, S. 28/9). II. Notwendige Maßnahmen folgen im Prinzip aus den eine marktwirtschaftliche Ordnung konstituierenden und regulierenden Prinzipien von Walter Eucken. So nennt Kloten (1991a, S. 26) die folgenden Schritte: "(1) Die Gewährung individueller Handlungs- und Verfügungsrechte als Kern einer Privatrechtsordnung; (2) Dezentralisation und Entflechtung von Staatsbetrieben; (3) Formen einer Überführung von Eigentum aus Staatshand in private Hände; (4) eine Neuordnung des Bankwesens mit strikter Trennung zwischen Notenbank und – untereinander konkurrienden – Geschäftsbanken; (5) umfassende Restrukturierung der staatlichen Haushaltsführung und des Systems der Abgaben; (6) der Verzicht auf die bislang, übliche systematische Abführung monetärer Mittel an staatliche Fonds zugunsten eigenverantwortlicher finanzieller Dispositionen der Unternehmen bei gleichzeitiger regulärer Erhebung von Steuern; (7) eine – adäquate – Öffnung der Märkte nach außen auf der Basis konformer Wechselkurse". Zur Interdependenz der Transformationsprobleme vgl. Abbildung 5. III. Umstritten sind die Wege zur Marktwirtschaft oder auch zu welchem Modell der Marktwirtschaft (Soziale MW?) wie sich anschaulich an der Diskussion um "erst Sanierung und dann Privatisierung" oder "sofortige Privatisierung" ablesen lässt. Lässt man die Geschwindigkeit und die Reihenfolge vorerst außer Betracht, kann die Privatisierung in folgenden Grundtypen erfolgen: 1) Verschenken des "Volkseigentums" an Bürger und/oder Belegschaften oder 2) Verkaufen, wobei prinzipiell a) die informelle Vergabe an einzelne Käufer, b) die Vergabe durch Auktion und c) die Umwandlung der zu privatisierenden Betriebe in Aktiengesellschaften und Verkauf der Anteile am Aktienmarkt mögliche Wege darstellen. 12 Einen guten Überblick bietet auch der Weltbankbericht (1996), S. 50-56 an: "Die Privatisierung mittelgrosser oder grosser Unternehmen (Firmen) hat sich als schwieriger herausgestellt als ursprünglich wohl gedacht. Die Politiker haben komplexe und manchmal konfligierende Ziele abzuwägen, eine Fülle von antagonistischen Interessen zu befriedigen, und mit den verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten der Privatisierung von tausenden von Firmen in einer relativ kurzen Frist und ohne reife, funktionierende Kapitalmärkte fertigzuwerden" (S. 50). Üblicherweise werden die (Groß-) Unternehmen durch eine (staatliche) Holding übernommen, die eine Umstrukturierung durchführt. Verschiedentlich wird betont, dass Restrukturierung vor Privatisierung kommen muß. Nun erhalten die Bürger Anteilsscheine dieser Holding entweder geschenkt oder sie werden verkauft, um einen bestehenden Geldüberhang abzuschöpfen. Die Teilunternehmen sind dann anschließend zu verkaufen. Die Anteilsscheine (Zertifikate) können in einem zweiten Schritt in Aktien dieser neuen Unternehmen getauscht werden ("Aktienmarkt"). Verschiedene Privatisierungsansätze erzeugen verschiedene trade-offs zwischen verschiedenen Zielen! Privatisierende Länder wollen typischerweise viele Dinge: Erhöhung der Effizienz der Verwendung der Vermögensgüter; Depolitisierung der Firmen, schnelle "Erzeugung" von Eigentümern, die die weiteren Reformen stützen; Verbesserung des Zugangs der Firmen zu Kapital und Erfahrung; Aufpolsterung der staatlichen Einnahmen; Ermöglichung einer fairen Verteilung der Gewinne aus der Privatisierung! Abbildung 6a zeigt einen "partiellen" Blick auf die möglichen trade-offs. (Zu Vor- und Nachteilen vgl. auch Schönfelder 1991.) 13 Abb. 5: Interdependenz der Transformationsprobleme (Darstellung in Anlehnung an: E. Svindland, Das Sequenzing-Problem..., in: Kredit und Kapital 25 (Heft 1, 1992), S. 84). Interdependenz der Transformationsprobleme Zentralbank, Bankenaufsicht Steursätze, Sozialabgaben Behördenreform Geldangebot Staatsausgaben Staatsschulden Verkauf von Staatsbestitz Staatseinnahmen Investitionen Einkommen, Beschäftigung Preise, Löhne, Zinsen Rationalisierung Soziale Dienste Gesetze Organisation der Betriebe Gesetze Kreditwesen Gesetze 14 Offener Verkauf [Verkauf an "outsiders"] Diese Privatisierungsmethode war sozusagen die Hoffnung aller, weil man dieses Modell vom Westen [UK, aber auch Chile] her kannte. Diese Methode hat auch die Erwartungen erfüllt, was die Verbesserung der Performance (Leistung) betrifft; sie ist aber sehr kostspielig und langsam und sehr schwierig zu realisieren. Einer der Gründe dafür ist die begrenzte Menge inländischen Kapitals! Verbunden damit sind häufig politische Spannungen, die mit einer starken Abhängigkeit von ausländischem Kapital einhergehen. Aber auch dort, wo genügend heimisches Kapital vorhanden ist, blockieren gewisse Insider (Manager oder andere Beschäftigte) den Verkauf. Allgemein formuliert: Der Prozess wird durch die bloße Größe der Bewertungsarbeit und der Verhandlungsprozesse verzögert – und durch den anschließenden Kontrollprozess. Besonders schwierig ist es, einen Wert für die angebotenen Firmen festzusetzen. Das hängt mit dem ungenügenden Rechnungswesen zusammen, aber auch mit ökonomischen und politischen Turbulenzen, die es unmöglich machen, einen Wert anzugeben. Auch die Verantwortlichkeit für vergangene Umweltschäden ist ein dorniges Problem. Ein letztes Problem des Verkaufsansatzes ist seine augenscheinliche Ungerechtigkeit, weil viele gewöhnliche Bürger nicht partizipieren können und den Prozess als undurchsichtig und interessengesteuert, wenn nicht gar als korrupt betrachten. So war es z.B. der Treuhandanstalt möglich, ihre 8.500 staatlichen Firmen relativ schnell zu privatisieren (oder zu liquidieren), aber mit enormen Kosten hinsichtlich sowohl der ausgebildeten Arbeitskräfte als auch expliziter oder impliziter Subventionen an die Käufer. Eine zweite Form des offenen Verkaufs bezieht sich auf die Ausgabe von Anteilen (Aktien) auf dem öffentlichen Aktien- und Anteilsmarkt. Nicht ausgereifte Kapitalmärkte ziehen diesem Ansatz Grenzen. Darüber hinaus funktioniert diese Methode nur für Firmen mit guten finanziellen Zukunftsaussichten und guter Reputation. Das Verkaufen kann auch dazu dienen, einen bestehenden Geldüberhang abzuschöpfen. Management-Employee Buyouts Diese Methode wurde sehr breit als Alternative zu Verkäufen genutzt, vor allem in Kroatien, Polen, Rumänien und Slowenien. Viele der Firmen, die durch Litauen und das mongolische "voucher program" privatisiert wurden, waren M-E buyouts, da Arbeitnehmer und deren Familien diese vouchers (Anteilsscheine, Berechtigungsscheine) und Bargeld benutzten, um grosse Teile ihrer eigenen Firmen zu kaufen. Zusätzlich gaben viele "voucher-basierte" Programme, wie das von Georgien oder Russland, starke Präferenzen an Insider, so dass die meisten privatisierten Firmen anfänglich im wesentlichen den Managern und Beschäftigten gehörten. Die Ukraine stellt einen anderen Fall der Insider-Verwicklung dar. Obwohl die ukrainische Regierung nur langsam privatisiert, hat sie einige M-E-Buyouts durchgeführt. Auch sie führte ein voucher-Programm in 1994-95 ein, aber hat es bisher versäumt, es auch effektiv durchzuziehen. Ein neuerer Survey von privatisierten Gesellschaften in den beiden Ländern Russland und Ukraine zeigt, dass die russischen Insider-Eigentümer, die einer größeren finanziellen Disziplin ausgesetzt sind, mehr 15 Schritte hin zu einer Effizienzverbesserung gemacht haben und die Outsider weniger feindlich betrachten als ihre ukrainischen Gegenspieler. Buyouts sind relativ schnell und leicht zu bewerkstelligen, sowohl politisch wie auch technisch. Auch von der Theorie her können sie besser für die Geschäftsführung sein, wenn Insider besseren Zugang als Outsider zu Informationen haben, die man braucht, um die Manager zu kontrollieren. Es gibt jedoch viele Risiken und Nachteile in großen Buyout-Programmen, die eben auch viele unprofitable Firmen enthalten. In Stichworten: – Die Vorteile sind ungleich verteilt, d.h. Beschäftigte in guten Betrieben sind besser dran, sie erhalten wertvolle Vermögensteile; – Typischerweise verlangen die Regierungen von den Insidern geringe Preise, so dass sie auch weniger Einnahmen haben. – M-E-buyouts können die Geschäftsführung schwächen, weil Kontrollen unterentwickelt sind und auf die Produkt- und Kapitalmärkte bei der Durchsetzung von Disziplin nicht gezählt werden kann. – Insider sind üblicherweise nicht in der Lage, neue Fähigkeiten oder neues Kapital einzubringen, und halten eventuell sogar Outsider von Investitionen ab, oder – die Outsider zögern, in Firmen zu investieren, die einen beträchtlichen Anteil von Insidern haben, wegen potentieller Interessen-Konflikte. Ein dritte Form der Privatisierung ist die Equal-Access voucher privatization wobei vouchers in der Bevölkerung verteilt werden und der Versuch unternommen wird, die Vermögensgegenstände gleichmäßig unter den voucher-Haltern zu verteilen. Solche Programme sind hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit und Gerechtigkeit hervorragend – aber sie ergeben keine Einnahmen für die Regierung und sie haben unklare Konsequenzen für die Geschäftsführung. Die Mongolei, Litauen und das frühere Tschechoslowakien waren die ersten, die diese Form der Privatisierung durchgesetzt haben. Albanien, Armenien, Kasachstan, Moldawien, Polen, Rumänien (in seinem 1995er Programm) und die Ukraine folgten, und Bulgarien bereitete 1996 ein solches Programm vor. Das Privatisierungs-Programm Tschechiens war bisher das erfolgreichste. In zwei aufeinanderfogenden Wellen wurden mehr als die Hälfte der Vermögenswerte der staatlichen Firmen in private Hände transferiert. Die Bürger waren frei, ihre vouchers direkt in die versteigerten Firmen zu investieren. Um einen etwas konzentrierten Besitz zu ermutigen und so Anreize für eine aktivere Geschäftsführung zu schaffen, hat das Programm den freien Zugang von Investmentfonds zugelassen, um so vouchers zu poolen und sie im Auftrag des ursprünglichen Eigners zu investieren. Mehr als zwei Drittel der voucher-Eigner wählten diesen Weg über miteinander konkurrierende Fonds. Die zehn größten Fonds erhielten mehr als 40% aller vouchers in beiden Wellen (rund 72% Prozent aller vouchers, die bei solchen Fonds gehalten werden). 16 Das Tschechische Beispiel zeigt, wie ein wohl-definiertes Voucher-Privatisierungs-Programm viele Probleme überwinden kann. Es kann die Restrukturierung depolitisieren, die Entwicklung von Kapitalmärkten stimulieren und schnell neue interessierte Gruppen mit großem Interesse an Reformen schaffen. Aber: Es liegen viel Hindernisse auf dem Weg von der Privatisierung zu einem effizienten Kapitalismus – die Regierungen müssen komplementäre Reformen durchführen, etwa bezüglich der Überwachung der Finanzintermediäre und der Regulierung natürlicher Monopole: Eine besonders irritierende Frage dabei ist, wer kontrolliert die Kontrolleure? Aber: Neben der Privatisierung von Staatsunternehmen steht – für die langfristige Entwicklung der Übergangsländer – ebenso wichtig die Förderung neuer Firmen. Obwohl heimische Firmen in allen Marktwirtschaften das Wachstum bringen, bringen auch ausländische Investitionen einen sehr hohen Beitrag: Ausländer bringen Kapital, Technik, Unternehmenserfahrung und Zugang zu Märkten – alles kritische Punkte bei der Umgestaltung des Unternehmenssektors in Transformationsökonomien (vgl. die Zahlen über Auslandsinvestitionen). Ebenso wie bei der Privatisierung existieren auch für den Abbau der monetären Ungleichgewichte (Stabilisierung) mehrere Strategien: Neben dem Währungsschnitt ("Währungsreform" wie in Deutschland) gelten eine streng restriktive Geldpolitik, Preisniveauerhöhungen, Nominallohnsenkungen, Steuererhöhungen oder der Verkauf staatlichen Eigentums als alternative Möglichkeiten. IV. Die Frage nach der geeigneten Geschwindigkeit und die nach der richtigen Reihenfolge der Transformationsschritte sind eng miteinander verknüpft. (a) Die eine Position geht dabei von einer "Schocktherapie" aus; einer ihrer bekanntesten Vertreter ist Jeffrey Sachs. "Seiner Ansicht nach können schrittweise Reformen aufgrund der Interdependenz zwischen den verschiedenen Teilbereichen nicht funktionieren" (Bohnet/Ohly, S. 35): Die finanzielle Kontrolle des öffentlichen Sektors setzt funktionierenden, aktiven Wettbewerb voraus, dieser aber wiederum hängt ab vom freien Handel und freien Zugang zu ausländischen Währungen; Währungskonvertibilität bei (relativ) stabilen Wechselkursen setzt eine wirksame Geld- und Fiskalpolitik voraus. Ein zweiter Grund, warum schrittweise Reformen in seinen Augen nichts taugen, liegt im Verhalten der Bürokratie, das von einer neuen Regierung schwerlich verändert, aber durch die Wirksamkeit der Marktkräfte umgangen werden kann. Einen dritten Grund für die Schocktherapie sieht Sachs in der Menge der erforderlichen Maßnahmen. Einer schrittweisen Reform stellen die (negativ berührten) Interessengruppen viele Hindernisse entgegen; dem kann am besten durch schnellstmöglichen Freihandel, Währungskonvertibilität usw. begegnet werden. 17 Abb. 6a: Tradeoffs among privatization routes for large firms Objective Method Better Speed and Better More corporate feasibility access to government governance capital and revenue skills Sale to outside owners + ? ? Managementemployee buyout Equal-access voucher privatization Spontaneous privatization + + ? + ? - + - Greater fairness + - Quelle: The World Bank: World Development Report 1996, S. 52, Table 3.1. (siehe dort hierzu auch den Abschnitt: Privatizing larger enterprises, S. 50-56) Abb 6b: % Privatization (Percent of GDP), Selected CEE Countries, 1992 and 1995 (rough EBRD estimates) 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1992 1995 P C H Ro R U B 18 Als vierter Grund nennt Sachs die zunächst auftretende Hyperinflation, die – wenn sie nicht schnell kontrolliert wird – zu verheerenden gesamtwirtschaftlicher Folgen führt! Folglich plädiert Sachs für ein vierteiliges Programm, das gleichzeitig zu realisieren ist: (1) Bildung markträumender (Markt-) Preise; (2) Befreiung des Marktsektors von allen bürokratischen Hemmnissen; (3) Kontrolle oder "strengere Marktdisziplin" für die noch bestehenden Staatsbetriebe (die nur langsam privatisiert werden könnten); und (4) Sicherung der makroökonomischen Stabilität durch restriktive Geldpolitik und ausgeglichenes Budget. Auch andere vertreten die Auffassung, dass eine schrittweise Liberalisierung im Chaos und nicht in einer liberalen Wirtschaftsordnung ende. So plädiert auch Milton Friedman (1989) für eine schnelle und vor allem vollständige Transformation; "Argumente für ein schrittweises Vorgehen sind seiner Ansicht nach eher politischer als technischer Natur" (S. 36). (b) Die andere Position vertritt die schrittweise Transformation. Ein gradueller Übergang könnte die "extremen Einbrüche von Produktion und Beschäftigung" (S. 34) vermeiden (vgl. Abb. 7 a-f). Verschiedene Ökonomen meinten gar, dass "ohne ein einigermaßen funktionsfähiges Management und ohne eine einigermaßen funktionsfähige Staatsbürokratie ... Reformen schnell zu Misserfolgen verurteilt (sind)" (S. 34). Auch Norbert Kloten plädiert für einen langsamen Übergang: "Die institutionellen, gesellschaftlichen und verhaltenssteuernden Voraussetzungen für eine funktionsfähige Marktwirtschaft können nur langsam geschaffen werden" (S. 34/5). Als spezifische Probleme sind ja vorhanden: Die Bewertung der zu privatisierende Betriebe, die Konzentration der Unternehmen und die Bildung einer "optimalen" Betriebsgrößenstruktur! Typischerweise vergeht eine lange Zeit zwischen dem Entwerfen einer ökonomischen Reformpolitik und ihrer tatsächlichen Realisierung. Während der Vor-Reform-Periode werden verschiedene Wege und Strategien ausgehandelt, umformuliert und die zentralen Elemente einer institutionellen Infrastruktur entwickelt. Das führt zu unterschiedlichen Phasen des Transformationsprozesses: Antizipationsphase (von der Bekanntgabe von Plänen bis zur Durchführung von ersten grundlegenden Maßnahmen zur Schaffung einer neuen Wirtschafts-Ordnung), Kernphase (Konstruktion und Implementierung neuer Regeln und Institutionen) und Lernphase (Anpassung des Verhaltens an die neuen Rahmenbedingungen). 19 Abb 7 a-c: C z e c h R e p u b lic 1 0 6 0 5 0 5 4 0 0 3 0 -5 2 0 -1 0 1 0 -1 5 0 1 9 9 0 1 9 9 1 1 9 9 2 1 9 9 3 1 9 9 4 R ealG D P 1 9 9 5 1 9 9 6 In fla tio n R a te s H u n g a r y 3 5 5 3 0 0 2 5 2 0 -5 1 5 1 0 -1 0 5 -1 5 1 9 9 0 1 9 9 1 1 9 9 2 1 9 9 3 1 9 9 4 R ealG D P 1 9 9 5 0 1 9 9 6 In f la tio n R a te s P o la n d 1 0 7 0 0 6 0 0 5 5 0 0 0 4 0 0 3 0 0 -5 2 0 0 -1 0 1 0 0 -1 5 0 1 9 9 0 1 9 9 1 1 9 9 2 R ealG D P 1 9 9 3 1 9 9 4 1 9 9 5 1 9 9 6 In fla tio n R a te s 20 Abb. 7 d-f: R o m a n ia 1 0 3 5 0 3 0 0 5 2 0 0 1 5 0 -5 Inflation Rates GDP %-Change 2 5 0 0 1 0 0 -1 0 5 0 -1 5 0 1 9 9 0 1 9 9 1 1 9 9 2 1 9 9 3 1 9 9 4 R e a l G D P 1 9 9 5 In f la t io n 1 9 9 6 R a te s R u s s ia 2 5 0 0 0 2 0 0 0 -5 1 5 0 0 1 0 0 0 -1 0 5 0 0 -1 5 0 1 9 9 0 1 9 9 1 1 9 9 2 1 9 9 3 1 9 9 4 R e a l G D P 1 9 9 5 1 9 9 6 In f la t io n R a t e s U k r a in e 0 1 2 0 0 0 1 0 0 0 0 -5 8 0 0 0 -1 0 6 0 0 0 -1 5 4 0 0 0 -2 0 2 0 0 0 -2 5 0 1 9 9 0 1 9 9 1 1 9 9 2 R ealG D P 1 9 9 3 1 9 9 4 1 9 9 5 1 9 9 6 In f la t io n R a t e s 21 Ein weiteres Problem liegt dann aber in der richtigen Sequenz der Schritte: (1) Geht die Sanierung der Privatisierung voraus? (2) Muss zuerst die Marktstruktur verbessert werden bevor man die Preise freigibt? Soll die Dezentralisierung vor oder nach der Realisierung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen (Schaffung eines Finanzsektors oder Verbesserung der Infrastruktur) erfolgen? (Vgl. Clapham/Grote 1991, S. 16). Nach Apolte/Cassel (1991) sollte der Privatisierung die Marktliberalisierung und die Freigabe der Preise vorangehen, um so einen ökonomischen Anpassungsdruck zu erzeugen. Erfahrungen aus China machen aber deutlich, dass die Reform des Preissystems eine gewisse Verbesserung des Angebots bewirkt, aber ohne Reformen etwa der Eigentumsordnung oder der Unternehmensformen, führen die monopolistischen Marktpositionen zu Preiserhöhungen und kaum zu Angebotsverbesserungen. Andere Wissenschaftler verweisen auf Erfahrungen mit Entwicklungsländern und schlagen folglich eine genau ausgearbeitete Reihenfolge der Schritte vor: (1) Reduktion der Staatsausgaben und breite Basis für Steuereinnahmen (zur Reduktion oder Vorbeuge einer zunehmenden Staatsverschuldung); (2) Privatisierung und Liberalisierung der Finanzmärkte; Begrenzung des Kreditwachstums zur Inflationsvorbeuge; (3) Freigabe der inländischen Preise und Liberalisierung des Außenhandels. An aller letzter Stelle steht dann (4) die Währungskonvertibilität und die Aufhebung der internationalen Kapitalverkehrsbeschränkungen (McKinnon 1991). Zusammenfassend kann man allerdings fragen, ob es die prinzipielle Möglichkeit zwischen dem "big bang" oder einem "langsamen Übergang" zu wählen überhaupt gab. Die Weltbank und der IWF sind der Auffassung, das es nur den "big bang" gibt und gab – alle osteuropäischen Länder nahmen den Big-Bang-Ansatz mit einem tiefen Fall des outputs (bzw. BSP) – im Prinzip hatten sie gar keine andere Wahl, als schnell zu freien Preisen und konvertiblen Währungen überzugehen. Diese Strategie sei durch die politischen Umstände und die Wirtschaftsstruktur diktiert! [China und Vietnam, die Länder, die die Kritiker als Gegenbeispiele hervorheben, begannen ihre Reformen nicht im "Morgengrauen" großer revolutionärer politischer Veränderungen!] VI. Als letztes Problem sei die Reihenfolge von ökonomischen Reformen und politischer Demokratisierung angesprochen: Hier liegt ein "Reformdilemma" vor! Gruppen, die durch die Transformation Verluste erleiden, sprechen sich gegen die Umgestaltung aus bzw. einer anfänglichen "Euphorie" weicht ein Rückschlag, wenn die "Transformationskosten" spürbar werden. Der Transformationsprozess verändert die Privilegien von Personen und Gruppen, deshalb sind hier divergierende Interessen und die Frage der Popularität des Reformprogrammes zu berücksichtigen, d.h. es müssen politische Beschränkungen beim Übergang beachtet werden. Fehler in der "Abfolgeentscheidung" können durch ihre negativen Wohlfahrts- und Verteilungseffekte den Übergang verzögern. Eine "optimale" Reihenfolge kann nicht die unvermeidbaren Kosten der Transformation beseitigen, aber sie kann die vorhandenen politischen Beschränkungen nach und nach 22 aufheben. Die Abfolge sollte folglich nach der sinkenden Popularität und steigenden politischen Schwierigkeiten erfolgen. Dazu bedarf es eines Kompensationsmechanismus derart, dass die potentiellen Verlierer aus den Effizienzgewinnen hin zu besseren Institutionen kompensiert werden. Ein solcher Übergang wäre dann "pareto-verbessernd" (vgl. § 5). Allerdings besteht eine Austauschbeziehung zwischen allokativer Effizienz und den finanziellen Reformkosten. Betrachtet man die Entscheidung für den "big bang" oder für den "langsamen (gradualistischen) Übergang" als ein Problem der politischen Ökonomie (vgl. dazu unter "Grenzen der Wirtschaftspolitik"), dann betont der "big-bang"-Ansatz die große Bedeutung der "windows of opportunity", wenn die ex ante politischen Restriktionen weniger bedeutend sind, während das "gradualistische Programm" mit dem Hinweis verteidigt wird, dass seine ex ante politische Machbarkeit größer sei. Beide Ansätze zielen auf Irreversibilität, aber auf unterschiedlichen Wegen: Der "big bang"Ansatz betont die Geschwindigkeit der Reformen, um damit Nachfolgeregierungen zu beschränken; der gradualistische Ansatz" versucht die Abfolgeschritte der Reform so festzulegen, um eine Mehrheit für jeden Reformschritt zu sichern (vgl. hierzu Gerard Roland, The role of political constraints in transition strategies", in: Economics of Transition 2 (1994), 27-41). Wie ein solcher Prozess aussehen könnte, analysieren M. Dewatripont und G. Roland (in dem Aufsatz "The virtues of gradualism and legitimacy in the transition to a market economy", in: Economic Journal 102 (March 1992), S. 291-300): Ein gradualistisches Programm ist von Vorteil, wenn die politische Akzeptanz einer ganzen und schnellen Reform mit sehr hohen Kompensationszahlungen an die Verlierer der Reform verbunden ist, während der graduelle Ansatz die allokative Effizienz nur schrittweise erreicht aber zu finanziellen Kosten, die insgesamt niedriger sind. VII. Transformation in den Neuen Bundesländern Drei Ereignisse prägten die deutsche Situation: Der Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989, die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik am 1. Juli 1990, und der Beitritt der DDR mit fünf neuen Bundesländern zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990. Allgemein herrschte die Ansicht vor, dass sich – parallel zur politischen Einheit – auch rasch die wirtschaftliche Einheit herstellen ließe. (Allerdings haben schon damals verschiedene Kritiker auf die hohen Kosten einer raschen Umstrukturierung hingewiesen. Vgl. Dewaritpont/Roland, EJ 102 (1992), S. 299, die hier Herrn André Leysen von der Treuhandanstalt zitieren mit einem Betrag von "1.000 billion DM at least"!) So wurde geschätzt, dass durch den Verkauf der "volkseigenen Betriebe" Milliardenbeträge erzielt werden könnten, die außer für die "Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts" auch für die Sparer verwendet werden sollten, um ihnen "ein ver23 brieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen" einzuräumen (Staatsvertrag über die Schaffung einer WWSU zwischen ... vom 18.5.1990, BGBl II, S. 357, Art. 10 Abs. 6). Die Treuhandanstalt (Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums, DDR Gbl. I, Nr. 14, S. 107), im März 1990 von der Modrow-Regierung gegründet, übernahm alle Firmen und wies per Ende 1989 ein Bruttovermögen von 1.420 Mrd. M auf; ihm standen Rückstellungen und andere Verbindlichkeiten von 496 Mrd. M gegenüber. Von dem Nettovermögen von 924 Mrd. M entfielen 145 Mrd. M auf Unternehmen, die den Kommunen zugeordnet werden sollten. Im Werte rund 106 Mrd. M sollten Unternehmen in Staatsbesitz erhalten werden. Ein weiterer Betrag in Höhe von 52 Mrd. M sollte anderen Gebietskörperschaften zugerechnet werden. Damit verblieben rund 620 Mrd. M für die Treuhandanstalt. Nach der Währungsunion und erst richtig nach der Wiedervereinigung offenbarte sich aber der marode Zustand der Wirtschaft der DDR. "Verantwortlich" waren sicherlich stark steigende Konsumausgaben, insbesondere für Subventionen "lebenswichtiger" Güter und Dienstleistungen (Lebensmittel, Fahrgeld, Mieten) und das Militär, und damit vernachlässigte und gar rückläufige Investitionen und Ersatzinvestitionen. Die DM-Eröffnungsbilanz der Treuhandanstalt (vgl. Treuhandanstalt, DM-Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990, Berlin, Oktober 1992) weist ein Bruttovermögen von nur 311 Mrd. DM auf. Ihm standen Rückstellungen und andere Verbindlichkeiten von 520 Mrd. DM gegenüber. Damit ergaben sich Schulden von 209 Mrd. DM. Mit dem 31.12.1994 endete die Tätigkeit der Treuhandanstalt, allerdings gibt es Nachfolgeinstitutionen, deren Kern die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS) darstellt. Insgesamt schließt die Treuhandanstalt voraussichtlich mit einem Ausgabenüberschuss (Defizit) von 220-230 Mrd. DM, von denen über 200 Mrd. DM durch Verschuldung am Geldund Kapitalmarkt finanziert wurden (vgl. FAZ v. 21.7.00, S. 13). Die positive Seite der Bilanz der Treuhandanstalt besteht im wesentlichen in der zügigen Privatisierung der rund 8000 Kombinate, die in mehr als 13.800 Aktiengesellschaften und GmbH's umgewandelt wurden. Zwei Drittel des Bruttobestandes wurden in viereinhalb Jahren privatisiert und über 3.700 Betriebe stillgelegt. (Vgl. auch Claus Köhler, Der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland, Viereinhalb Jahre Treuhandanstalt, Arbeitspapiere des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Heft 11, Berlin (Duncker & Humblot Verlag) 1995.) Auch in den Neuen Bundesländern (NBL) wurde eine Reihe von Reformen durchgeführt (vgl. oben unter II. Notwendige Maßnahmen). Hervorgehoben werden soll die Lohnreform und die Sozialreform. Dabei ging es erstens darum, die Arbeitslosen in den NBL in die AL-Versicherung (mit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe) zu integrieren. Zweitens wurden die Rentner in die bestehenden Rentensysteme eingegliedert. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ("Sozialpartner") wurden in den NBL tätig und handelten Tarifverträge aus. Vergleicht man verschiedene frühere ZVW, dann zeigt sich ein wesentlicher Unterschied – nicht im Verhalten des Output als vielmehr im Verhalten der Löhne und der Beschäftigung! In 24 US-$ gemessen sind die Löhne in den NBL entschieden höher, gemessen an Ungarn und Tschechien etwa 7 mal, gemessen an Russland etwa 3 mal so hoch! Interessant ist auch die Differenz zwischen Konsumenten- und Produzentenpreisen: Während die Produzentenpreise um 1/3 fielen, stiegen die Konsumentenpreise um mehr als 1/4. Folglich war (1992 bezogen auf 1990 als Ausgangspunkt) der Anstieg des "realen Produktlohnes" rund doppelt so hoch wie der Anstieg des "realen Konsumlohnes". Parallel dazu stieg die Arbeitslosigkeit dramatisch an. Im Hintergrund stand das sowohl von der Regierung wie von den Gewerkschaften ausgesprochene Ziel der "Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West" (und im Hintergrund stand sicherlich auch die Furcht vor einer massiven Wanderungsbewegung von Ost und West!). In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Lohnsubventionen wichtig: Bei starken Migrationseffekten können Lohnsubventionen durchaus begründet werden, es gibt aber Fälle, bei denen staatliche Investitionsanreize und Infrastrukturinvestitionen besser sind. Interessant der Vorschlag von G. und H.-W. Sinn eines "Sozialpaktes": Verzicht auf die schon ausgehandelten Lohnerhöhungen und Verknüpfung mit der Privatisierungsstrategie (Investivlohn mit Beteiligungsrechten). Ohne Zweifel hatten aber die westlichen Gewerkschaften wie die Ostarbeitnehmer auch ein Eigeninteresse [hohe AL-Unterstützung bei hohem Lohn ⇔ selbst wenn dies zu höherer AL führt] ⇒ Hoch-Lohn-Strategie. Hinter dieser Hochlohn-Strategie verbergen sich verschiedene Argumente, die auch mit der Frage im Zusammenhang stehen, ob die Subventionierung der Investitionen oder nicht doch eher ein Transfers an die Lohnbezieher die bessere Lösung darstellt. 1) Erhöhung des Lebensstandards: besser durch Konsum-Transfers (als durch hohe Löhne)! 2) Migration: Es wäre effizienter, die Kosten der M. zu erhöhen als die Löhne! 3) Interessen der Ostarbeitnehmer: Durch die Lösung der Budgetbeschränkung der Ostfirmen (aufgrund der "tiefen Taschen" des Westens) kaum Widerstand gegen Lohnerhöhungen (vgl. Treuhandanstalt). Insofern spricht einiges für die Trennung zwischen Konsumniveau und Arbeitskosten! Als Lösung also eine einfache, uniforme und allgemeine Lohnsubvention, die entsprechend einem vorgefertigten Schema reduziert wird: im ersten Jahr 75% der Lohnsumme, im zweiten Jahr 50%, im dritten Jahr 25% und dann verschwindet sie! Einen etwas anderen Vorschlag haben Akerlof et al. (1991) gemacht. Dort wird die Lohnsubventionierung entsprechend einer Formel gesetzt, die die jeweiligen Divergenzen der Produktivität zwischen Ost- und Westdeutschland berücksichtigt! [Einwendungen gegen derartige Subventionsprogramme: 1) Mögliche budgetäre Kosten; 2) Veränderung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften; 3) Einfrieren der vorhandenen Industriestruktur; 25 Jedoch war bzw. ist die Verfolgung der Politik der Industrie-Subventionierung, so ineffizient sie auch sei, politisch notwendig!] Zur Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland vgl. folgende Tabelle. Tabelle 1: Ostdeutschland: Der Aufholprozess (Westdeutschland = 100) Bruttoinlandsprodukt je Einwohner Netto-Einkommen je Arbeitnehmer Arbeitskosten Produktivität Lohnstückkosten Exportquote Industrieanteil Kapitalstock der Unternehmen Investitionen je Einwohner Arbeitslosenquote Arbeitsplatzdichte Sozialleistungsquote Steuerkraft je Einwohner Länderausgaben je Einwohner Schulden je Einwohner 1991 31 55 49 33 151 52 54 25 63 207 105 210 15 120 5 1995 55 82 67 53 125 40 55 45 148 198 99 178 25 145 37 1999 56 86 69 56 123 53 59 75 135 225 99 174 32 141 100 Werte für 1999 teilweise geschätzt; Investitionen je Einwohner, Sozialleistungsquote = 1998; Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt, BMWi, BMF, Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, IAB, DIW) Zusätzliche Literatur: Akerlof, G. A. et al. (1991), "East Germany In From the Cold: The Economic Aftermath of Currency Union", in: Brookings Papers for Economic Activity, Band I, S. 1 ff. Apolte, Th. und D. Cassel (1991), "Osteuropa: Probleme und Perspektiven der Transformation sozialistischer Wirtschaftssysteme", in: LIST-Forum, Bd. 17 (1991), H. 1, S. 22-55. Bohnet, A., und C. Ohly (1992), "Zum gegenwärtigen Stand der Transformationstheorie – Eine Literaturstudie", in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 41, S. 27-50. Clapham, R. und B. Grote (1991), "Zu den Anforderungen an eine Theorie der Transformation von Wirtschaftssystemen", Schriften zur Wirtschaftsforschung der Universität/ Gesamthochschule Siegen, Siegen 1991. 26 Friedman, M. (1989), "Using the Market for Social Development", in: Cato Journal, Bd. 8 (1989), H., S. 567-579. Kloten, N. (1991a), "Die Transformation von Wirtschaftsordnungen: theoretische, phänotypische und politische Aspekte", Tübingen 1991. Kloten, N. (1991b), "Die Transformation ein Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft – Die Probleme osteuropäischer Länder", in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung, 30. Jg. (1991), Nr.7. Leipold, H. (1991), "Institutioneller Wandel und Systemtransformation: Ökonomische Erklärungsansätze und ordnungspolitische Folgerungen", in: H.-J. Wagener (Hrsg.), Anpassung durch Wandel: Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, Berlin u. a. 1991, S. 17-38. McKinnon, R. I. (1991), "The Order of Economic Liberalization: Financial Control in the Transition to a Market Economy", Baltimore u. London 1991. Peters, H.-R. (1990), "Transformationstheorie und Ordnungspolitik", in: WiSt, H.8, August 1990, S. 384-389. Schönfelder, B. (1991), "Die Verwandlung einer sozialistischen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft: Triebkräfte und Hemmnisse", in: H.-J. Wagener (Hrsg.), Anpassung durch Wandel: Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, Berlin u.a. 1991, S. 257-282. Starbatty, J. (1991), "Der Weg zur Marktwirtschaft", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.9.1991, S. 15. 27 § 5 Der Beitrag der Wohlfahrtsökonomie Es geht um die Bedingungen, unter denen ein Maximum an gesellschaftlicher Wohlfahrt ("Wohlstand") erreicht werden kann. I. Ältere "welfare economics" (Arthur Cecil Pigou, 1877-1959) Steigerung der ökonomischen Wohlfahrt durch Zunahme des "Volkseinkommens" (national dividend) und/oder durch Umverteilung von den Reichen zu den Armen. Unterstellt man abnehmenden Grenznutzen (des Geldes) und interpersonelle Nutzenvergleiche, dann impliziert das Wohlfahrtsmaximum somit im wesentlichen die Maximierung des Sozialprodukts bei egalitärer Einkommensverteilung. Im Wandel von der utilitaristischen (geht auf Jeremy Bentham, 1748-1832, zurück) zur behaviouristischen Nutzentheorie und wegen heftiger Attacken auf interpersonelle Nutzenvergleiche entstehen neue Ansätze. II. Neuere "welfare economics" Hier wird auf interpersonelle Nutzenvergleiche verzichtet und auf der Grundlage der ordinalen Nutzentheorie aufgebaut. II.1 Paretianische Wohlfahrtsökonomik (Vilfredo Pareto, 1848-1923) Ein Pareto-Optimum ist ein Zustand, bei dem kein Mitglied einer Gruppe oder Gesellschaft besser gestellt werden kann, ohne daß zumindest ein anderes schlechter gestellt werden müßte. Ein Pareto-Optimum impliziert dann − im wesentlichen − ein Handelsoptimum, ein Produktionsoptimum und eine optimale Produktionsstruktur (statistische Effizienz). Das Handels- oder Tauschoptimum ist dadurch gekennzeichnet, daß die Grenzrate der Substitution (GdS) zwischen je zwei Gütern für alle Wirtschaftssubjekte gleich ist und gleich ist dem negativen (reziproken) Preisverhältnis. 28 Abb. 8a: Das Tauschoptimum x2A x1B 0B T α tgα = − dx2 p1 = dx1 p2 x1A 0A x2B Formal folgt aus der Nutzenfunktion U = U ( x1 , x 2 ) für die beiden Güter 1 und 2 die Indiffe∂U ∂x1 dx ∂U ∂U = − 2 , als renzkurve eines Individuums mit dU = dx1 + dx 2 = 0 und hieraus ∂U dx1 ∂x1 ∂x 2 ∂x 2 Grenzrate der Substitution (GdS). In den Tangentialpunkten haben also die beiden Indifferenzkurven dieselbe Steigung, d. h. die Grenzrate der Substitution (der beiden Güter) ist für jedes Wirtschaftssubjekt gleich. Unter Berücksichtigung der Budgetgeraden E = p1 x1 + p 2 x 2 , die die Verwendung des Einkommens (E) für die beiden Güter bei den beiden Preisen p1 und p2 angibt, folgt im individudx p p ellen Optimum: 2 = − 1 (d. h. GdS A = GdS B = − 1 ). dx1 p2 p2 Das Produktionsoptimum ist dadurch charakterisiert, daß jeder Produktionsfaktor bei der Produktion für ein Gut in allen Produktionsstätten gleich produktiv ist und die Grenzrate der technischen Substitution zwischen zwei Faktoren in der Produktion aller Güter gleich ist dem negativen reziproken Verhältnis der Grenzproduktivitäten und das ist gleich dem Faktorpreisverhältnis. 29 y2 x2 Abb. 8b: Das Produktionsoptimum P α x1 tgπ = − dy2 dy1 π y1 Der Bestand an Produktionsfaktoren sei gegeben, A steht für Arbeit, K für Investitionsmittel. Durch eine Umverteilung von Arbeit (∆A) von der Produktion des Gutes 2 zur Produktion des Gutes 1 kann dann ein zusätzlicher Ertrag in Höhe von ∆E = ∂E ∂E ∆A + (−∆A) (wobei ∂A1 ∂A2 Ai den Einsatz von Arbeit bei der Produktion von Gut i bezeichnet) produziert werden. Eine ∂E ∂E Umschichtung der Arbeit lohnt dann nicht mehr, wenn ∆E = 0; dies impliziert = : ∂A1 ∂A2 Die Arbeit ist in allen Produktionen gleich produktiv. Berücksichtigt man auch die ∂E ∂E Investitionsmittel, dann gilt für das Gut 1: dy1 = dA + dK . Gilt wiederum dy1 = 0 , ∂A1 ∂K 1 ∂E ∂K 1 dA folgt daraus: =− : Die Grenzrate der technischen Substitution ist gleich dem ∂E dK ∂A1 negativen reziproken Verhältnis der Grenzproduktivitäten. Für 2 Güter mit den ∂E dy 2 ∂y Produktionsmengen y1 und y2 gilt dann: = − 1 usw. ∂E dy1 ∂y 2 30 Die Lösung für die optimale Produktionsstruktur ergibt sich dann, wenn die Wertgrenzproduktivitäten (das ist die Grenzproduktivität bei Berücksichtigung der Güterpreise) in allen Verwendungen der Faktoren gleich sind. Dann lohnt sich auch eine Umverteilung der Produktion nicht mehr. y2 Abb 8c: Die optimale Produktionsstruktur (Simultanes Tausch- und Produktionsoptimum) P* α=π T* π α y1 dy 2 , dann stimmen die dy1 dx 2 p = − 1 ) (siehe Graphik 9a). (vgl. GdS: dx1 p2 Sei die Grenzrate der technischen Substitution gegeben mit π = − Konsumenten dieser Lösung zu, falls π < p1 p2 dy 2 dx p = π < − 2 = 1 und damit − p 2 dy 2 < p1 dy1 . Durch Umlenkung von dy1 dx1 p 2 Arbeit aus der Produktion von Gut 2 zur Produktion von Gut 1 ergibt sich dA1 = − dA2 und ∂E ∂E ∂E ∂E mithin dy1 = dA1 und dy 2 = dA2 und hieraus folgt − p2 dA2 < p1 dA1 und ∂A1 ∂A2 ∂A2 ∂A1 ∂E ∂E p2 < p1 . An der Grenze werden die Konsumenten zustimmen, wenn ∂A2 ∂A1 ∂E ∂E p2 = p1 , also das Wertgrenzprodukt der Arbeit in allen Verwendungsarten gleich ist ∂A2 ∂A1 usw. Daraus folgt − Im sozialen Optimum liegt also eine effiziente Produktion und eine effiziente Produktionsstruktur vor und die Grenzraten der Substitution aller Haushalte sind gleich (vgl. Abb. 8 a-c). 31 Ergänzt werden muß dieses "statische Optimum" durch Optimalbedingungen, die die Güterversorgung über die Zeit ("dynamische Effizienz") beschreiben, also: Konsum versus Investition (als Konsum in späteren Perioden). Es läßt sich zeigen (vgl. Kenneth J. Arrow oder Gérard Debreu), daß das Pareto-Optimum mit den Eigenschaften eines vollkommenen Konkurrenzgleichgewichts identisch ist. D.h. es gelten: (1) Jedes Konkurrenzgleichgewicht ist ein Paretooptimum und (2) Jedes Paretooptimum läßt sich durch ein Konkurrenzgleichgewicht und eine Ressourcenumverteilung erreichen! Offen bleibt allerdings, wie aus den unendlich vielen theoretisch möglichen Optima ausgewählt werden kann, die sich durch unterschiedliche Güter- und Einkommensverteilungen unterscheiden. Die Prämissen erlauben keine Rangordnung über die denkbaren Optima. Man braucht stets zusätzliche Wertprämissen. Auch Vergleiche zwischen suboptimalen Zuständen sind generell nicht ohne Verteilungsmaximen möglich. II.2 Soziale Wohlfahrtsfunktionen (SWF) Die SWF macht deutlich, an welcher Stelle ethische Urteile für eine vollständige Rangordnung von gesellschaftlichen Zuständen erforderlich sind. Aus W=W(u1, u2, ..., un) lassen sich je eine Schar von "sozialen individuellen Indifferenzkurven" ableiten, wobei sich verschiedene Verknüpfungen der individuellen Nutzenniveaus darstellen lassen, bis hin zum Maximim-Kriterium von John Rawls (vgl. Otfried Höffe, Ethik und Politik, Frankfurt a. M. (Suhrkamp TB Verlag) 1979, insbes. S. 160-194). III. Kritik Aus dem Katalog der Optimalbedingungen ("Wettbewerbsgleichgewicht") wird einsichtig, daß sie nicht sämtliche erfüllbar sind, dies schränkt den Anwendungsbereich ein (vgl. unter § 6). Dies gilt auch, wenn man auf die Theorie des Zweitbesten zurückgreift, es sei denn man begnügt sich mit einer "partiellen" (piece-meal) Version. Gesellschaftliche Indifferenzkurven (SWF) lassen sich nur durch die Fiktion gewinnen, daß alle Haushalte identische Nutzenfunktionen besitzen. Ist dies nicht gegeben, müssen die unter32 schiedlichen individuellen Präferenzen aggregiert werden. Das Arrow-Paradoxon besagt nun, daß unter Umständen eine SWF nicht zustande kommt. Im Ergebnis gilt dann, daß gesamtwirtschaftliche Ziele nicht ohne Werturteile (Verteilungsurteile) zu formulieren sind. § 6 Die Notwendigkeit von Ordnungspolitik: Probleme der marktmäßigen Koordination Wirtschaftspolitischer Lenkungsbedarf läßt sich aus Ordnungsproblemen (Schutz des Wettbewerbs, vgl. § 12) und Funktionsschwierigkeiten einer marktmäßigen Koordination ableiten. I. Solche Funktionsschwierigkeiten ergeben sich aus folgenden Gründen: a) Substitutionsprobleme durch Re-Allokation von Ressourcen, Substituierbarkeit, Informationserfordernisse und Immobilitäten ergeben Substitutionskosten (Umwidmung, Raumüberwindung, Nutzeneinbußen). b) Mangelnde Marktfähigkeit bei öffentlichen bzw. politischen Gütern (im Gegensatz zu privaten Gütern). Sie sind durch zwei Eigenschaften charakterisiert: - Nicht-Rivalität in Ge- bzw. Verbrauch; dh. die Inanspruchnahme eines zusätzlichen Nutzers schränkt die Nutzungsmöglichkeiten aller übrigen nicht ein (Problem: Kapazitätsgrenze, Überfüllung). - Nicht-Ausschließbarkeit, d.h. die gleichzeitige Inanspruchnahme ist möglich (oder umgekehrt: ein Ausschluß ist technisch oder organisatorisch schwer bzw. teuer). Das bedeutet (nach Musgrave), daß solche Güter prinzipiell durch alle in gleichem Umfang genutzt werden (können). Konsequenz: Tausch wird durch Rivalität nötig und durch Ausschließbarkeit möglich! Also benötigt man alternative Allokationsmechanismen (Zuteilung u.a.). Externe Effekte liegen vor, wenn durch Produktion oder Verbrauch bei anderen Wirtschaftseinheiten (spürbare) Kosten oder Nutzen entstehen, für die über den Preis keine Entschädigung vom Verursacher bzw. kein Entgelt vom Nutzer erzielbar ist. Dies führt zu Abweichun33 gen zwischen privaten und volkswirtschaftlichen (= sozialen) Kosten mit der Folge verzerrter Preise und nicht-optimaler Allokation. c) Substitutionshemmnisse und die Bewegung von Materie zeigen die Allokation als Prozess mit Zeitbedarf und Erwartungsbildung. Dadurch können sich kleine Störungen fortpflanzen und zu Stabilitätsproblemen aufschaukeln. (Für eine Übersicht vgl. Tabelle 2) II. Diese Ursachen führen einzeln oder verknüpft Interventionsbedarf nahelegen. Zusammenfassend gilt: zu Problemen, die einen a) Wettbewerbshemmnisse (Anpassungs- und Entwicklungswettbewerb) für preisgesteuerte Wettbewerbsprozesse mit der Folge von Monopolen (aufgrund der Unteilbarkeit: "Natürliches Monopol"), Konzentrationsprozessen und Kartellen. Anpassungsprobleme führen zu (friktioneller) Arbeitslosigkeit. b) Unterversorgung oder Übernutzung von politischen Gütern sowie Verzerrungen der Produktions- und Konsumstruktur als Folge von externen Effekten (vgl. § 15 das Umweltproblem). c) Instabilitäten im Koordinationsprozeß auf einzelnen Märkten (Agrarmarkt: Schweinezyklus; Wohnungsmarkt; vgl. §§ 14 u. 16) oder gleichgerichtet auf vielen Märkten (Konjunkturzyklus) bis hin zu Wachstums- und Entwicklungsproblemen als Folge etwa der Ungewißheit bei Investitionsentscheidungen ("Zukunftstechnologien"). III. Der wirtschaftspolitische Lenkungsbedarf bezieht sich dann auf folgende Gebiete (vgl. Tabelle 2): - Wettbewerbssicherung und Kontrolle von Monopolen, Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung, Fusionskontrolle (vgl. § 12); - Versorgung mit Infrastruktur (vgl. § 13) und Regulierung der Umweltnutzung (vgl. § 15); - mikro- und makroökonomische Stabilisierung des Wirtschaftsablaufs (vgl. § 14 und Stabilisierungspolitik); - Anpassungs- und Starthilfen bei Wachstum und Strukturwandel (Forschungspolitik und hier § 13). 34 Tabelle 2: Allokations- und Stabilisierungsprobleme Ursachen A. Substitutionsprobleme Substitutionshemmnisse Substitutionskosten Informationskosten Unvollkommene Information Immobilitäten Kosten der Umwidmung - Sachlich (Komplementaritäten, Unteilbarkeiten) Wartezeiten - Zeitlich (Dauerhaftigkeit) - räumlich (Standort- Transportkosten gebundenheit) Kosten in Form von - persönlich Nutzeneinbußen (Eigenwertigkeit) B. Mangelnde Marktfähigkeit Öffentliche Güter (gekennzeichnet durch Nicht-Rivalität im Konsum und Nicht-Ausschießbarkeit von der Nutzung): – Folgen Handlungsmöglichkeiten Behinderung des Anpassungs- und Entwicklungswettbewerbs Wettbewerbssicherung und Kontrolle von Monopolpositionen Hemmnisse für den interregionalen und internationalen Handel Informations- und Anpassungshilfen Friktionelle Arbeitslosigkeit Öffentliche Güter: - Unterversorgung - Übernutzung Versorgung mit Infrastruktur Infrastruktur (institutionell und materiell) Regulierung der Umweltnutzung Externe Effekte: Verzerrung der Produk– als Übertragungsmedien externer Effekte tions- und Konsum- Begrenzung externer Effekte (Beeinflussung anderer Wirtschaftssubjekte, struktur privater Güter ohne dass eine marktliche (oder preisliche) Kompensation erfolgt; in der Produktion und Konsumption) C. Zeitbedarf und Zukunftsorientierung Mikro- und makroInstabilität auf EinzelZeitbedarf für Reaktionen: ökonomische märkten Anpassungsverzögerungen Stabilisierung des KonjunkturschwanWirtschaftsablaufs kungen Zukunftsorientierung, Ungewissheit, Entwicklungsstörungen Probleme der Erwartungsbildung Hilfen bei Wachstum– sektoral und Strukturwandel – räumlich Arbeitslosigkeit – konjunkturell – strukturell – Umwelt Quelle: In Anlehnung an Streit, M.E.: Theorie der Wirtschaftspolitik, Düsseldorf (Werner Verlag), 2. Aufl. 1982, S. 48. 35 IV. Nur hingewiesen sei auf einen verteilungspolitischen Handlungsbedarf, der sich erstens aus der Verteilung der Marktchancen ergibt und zweitens auf die Verteilung der Marktergebnisse bezieht. Das Marktsystem enthält eine Tendenz zur "Verteilungsungleichheit"! Probleme sind die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, aber auch das Konfliktpotential in einer Gesellschaft. Verstärkt wird der Handlungsbedarf dadurch, daß Absicherung vieler Risiken nicht über Märkte möglich ist, deren Absicherung aber sozial erwünscht ist. Hieraus folgt dann auch die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs (Soziale Sicherung und Sozialpolitik und weiter als Korrektur der Verteilungsergebnisse). Vgl. zusammenfassend Abb 9. 36 Abbildung 9: Dimension des Verteilungsproblems und verteilungspolitische Lenkungsmöglichkeiten Teil 1 naturbedingte Zufälligkeiten Verteilung der Marktchancen Arbeitsvermögen Personen Produktivvermögen Lebensphasen Dimensionen des Verteilungsproblems Verteilung zwischen Generationen Regionen Einkommen Verteilung der Marktergebnisse Nationen Vermögensänderung 37 Abb. 9, Teil 2 Subventionierung der Vermögensbildung Erbschaft Besteuerung ChancenKorrekturen Schenkung Vermögensbestand Beeinflussung der Humankapitalbildung Korrekturen der Vertragsfreiheit Verteilungspoltische Lenkungsmöglichkeiten Einkommen ErgebnisKorrekturen Besteuerung Transfers Vermögensänderung monetär natural Quelle: Streit, S. 95. 38 III. Institutionelle Grundlagen: Ziele, Mittel und Träger der Wirtschaftspolitik § 7 Zielsysteme: Empirische Zielkataloge Die Ableitung wirtschaftspolitisch relevanter Ziele aus nicht begründeten letzten Zielen (Freiheit, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, Wohlstand) offenbart bei jedem Schritt hin zur Konkretisierung Interessenkonflikte (vgl. Abb. 10). Die Pluralität der Ziele und ihr Verhältnis zueinander müssen als empirisches Faktum hingenommen werden: Effizienz- oder Produktionsziele, Sicherungs- oder Stabilisierungsziele, Allokations- oder Verteilungsziele. Offen ist auch die Rangfolge zwischen den Zielen. Im Stabilitätsgesetz (1966) werden vier Ziele genannt, mit deren Hilfe ein "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" definiert wird: Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes wirtschaftliches Wachstum (§ 1 StabG). Funktion der Wissenschaft: Möglichst exakte Definitionen und Interpretationen und die Ableitung operationaler Kriterien, Überprüfung der Zielsysteme hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit, Konsistenz und Kompatibilität. 39 Abb. 10: Gesellschaftliche Grundwerte und wirtschaftspolitische Ziele Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (1999). 40 § 8 Zielbeziehungen und Zielkonflikte Im Zielsystem bestehen auf logischer, rangmäßiger, kausaler und zeitlicher Hinsicht Abhängigkeiten (vgl. Abb. 11). Ein erstes Problem besteht hier auf der Wertebene, sog. Interessenkonflikte. In der Aushandlungstheorie werden hierfür Lösungen diskutiert. Auf der individuellen Ebene kann man auch über verschiedene Verfahren zu Lösungen gelangen: Neben dem Ignorieren des Konfliktes gibt es Zieldominanz (lexikographische Ordnung), das Zielschisma und den Kompromiß (durch Expertenurteil oder die Bildung einer Nutzenfunktion). Abb. 11: Zielbeziehungen Quelle: Streit, S. 283. 41 Zur Darstellung von Interessen- oder Zielkonflikten unterstellen wir das Vorhandensein von zwei Zielen. Je nach Art der Ziele (positive oder negative Ziele) und je nach Gewichtung der Ziele ergibt sich ein unterschiedlicher Verlauf der "Indifferenzkurven", entweder als "Wohlfahrtskurven" (wie in Abb. 12a) oder als "Kurven gleichen Übels" (wie in Abb. 12b). Ein zweites Problem sind die Zielkonflikte auf der empirischen Ebene, daß nämlich negative Nebeneffekte mit zunehmender Verwirklichung eines "Hauptzieles" zunehmen. Dies ergibt eine "Transformationskurve" als "Kurve der unvermeidlichen Zielkonflikte". Bei "positiven" Zielen verläuft sie wie in Abb. 13a, bei "negativen" Zielen wie in Abb. 13b. Die "optimale" Lösung des Zielkonfliktes ergibt sich dann, (bei "positiven" Zielen) durch die höchstmögliche Indifferenzkurve bzw. (bei "negativen" Zielen) durch die niedrigste Kurve gleichen Übels. Interpretiert man Z3 als Inflationsrate (π) und Z4 als Arbeitslosenquote (u), dann kann unter Verwendung einer (kurzfristigen) Phillips-Kurve der optimale Kompromiß in Abhängigkeit vom Gewicht der einzelnen Ziele aufgezeigt werden (vgl. Abb. .14a und 14b). 42 Abb. 12a: „Wohlfahrtskurven“ Z1 Z1 hat Vorrang Z2 hat Vorrang Z2 Abb. 12b: „Kurven gleichen Übels“ Z3 Z4 hat Vorrang Z3 hat Vorrang Z4 43 Abb. 13a: Möglichkeitsbereich bei positiven Zielen Z1 Transformationskurve Z2 Abb. 13b: Möglichkeitsbereich bei negativen Zielen Z3 Transformationskurve Z4 44 Abb. 14a: Optimaler Kompromiss (π: Inflationsrate in %, U: Arbeitslosenquote in %) π Abb. 14b: Optimaler Kompromiss π (π: Inflationsrate in %, U: Arbeitslosenquote in %) 2 1 20 1 2 U 1 0 1 2 U 45 § 9 Die Analyse der wirtschaftspolitischen Instrumente Drei Fragen sind hier zu unterscheiden: 1) In welchen Kategorien sind die Instrumente zu erfassen? 2) Nach welchen Kriterien ist der Mitteleinsatz zu beurteilen? 3) Wie wirken die Instrumente? I. Zur ersten Frage gibt Streit eine gute Antwort: Instrumente sollten nach der Art und Weise, wie das Wirtschaftsgeschehen lenkend beeinflußt wird, kategorisiert werden. Die Einteilung wird deshalb primär verhaltensorientiert vorgenommen (Reaktionen der Wirtschaftssubjekte, vgl. Abb. 15). Abb. 15: Wirtschaftspolitische Instrumentkategorien Instrumente 2. zur Verhaltensbeeinflussung (moral suasion) 1. mit direkter Zielwirkung 2.1 Informationspolitik Lageinformation Zukunftsinformation 2.2 Korrekturversuche von Zielvorstellungen Programminformation Projektionen 2.3 Veränderung einzelwirtschaftlicher Plandaten 2.4 freiwillige Übereinkunft Marktpreise 2.5 Zwang institutionelle Marktbedingungen 46 Fortsetzung zu Abb 15: Beispiele aus der Zu Konjunkturpolitik Verteilungspolitik Regionalpolitik 1 Öffentliche Investitions- progressive Begünstigung zurückge- mehrausgaben zur Einkommensbesteuerung bliebener Regionen bei Konjunkturbelebung der Vergabe öffentlicher Aufträge 2.1 Jahreswirtschaftsbericht Subventionsbericht Raumordnungsbericht 2.2 Maßhalteappelle an die unverbindliche Landesentwicklungs- Tarifvertragsparteien Lohnleitlinien pläne Diskontsatzänderung Sparprämien bis zu einer regionale 2.3 2.4 Konzertierte Aktion Einkommensobergrenze Beschäftigungsprämien konzertierte Aktion regionale Investitionsabstimmung 2.5 Preis- und Lohnstopp Enteignung Einwanderungsstopp für Gastarbeiter Quelle: Streit, S. 289. II. Auf die zweite Frage wird mit der Zweckmäßigkeit (= Zielkonformität) und der Zulässigkeit (= Systemkonformität) geantwortet. Allerdings sind auf die erste Frage nur teleologische Urteile (vgl. aber "teleologischer Trugschluß", § 2) und auf die zweite Frage nur vorläufige Urteile möglich, deshalb muß zur Beantwortung der dritten Frage auf eine wirtschaftspolitische Kosten-NutzenAnalyse abgestellt werden (vgl. Abb. 16). Die schwierigsten Probleme stellen sich hier dann bei der Mitteldosierung, die abhängig ist von der Wirkungsweise, und den zeitlichen Verzögerungen (vgl. § 11). 47 Abb. 16: Kriterien für den Mitteleinsatz (Interventionsregeln) Quelle: Streit, S. 312 und Streit (vgl. Abb. 7), S. 187. § 10 Träger und Inspiratoren der Wirtschaftspolitik Träger der Wirtschaftspolitik sind Inhaber formeller oder materieller Entscheidungsgewalt; sie bedürfen der Legitimation, die sich aus der Rechts- und Kompetenzordnung (Wirtschaftsordnung) ergibt. Besonders bedeutend bei einer Mehrzahl von Trägern der Wirtschaftspolitik; geht es dabei doch um deren Koordination (Kooperation). Dieses Problem wird bei dezentraler WP noch verschärft. Eine Möglichkeit der Abstimmung bietet die "Konzertierte Aktion" (vgl. § 3 StabG). Zu unterscheiden sind von den Trägern die Instanzen, die Ausführungsorgane sind (etwa Bundeskartellamt). Tinbergen unterscheidet in Beratungs-, Planungs-, Entscheidungs-, Durchführungs- und Kontrollinstanzen. 48 Neben den formellen Trägern besteht eine informelle Entscheidungsstruktur über Interessengruppen und Verbände, die man als Inspiratoren bezeichnet. Sie provozieren oder beeinflussen (positiv wie negativ) die Träger, wobei ihnen ein weiter Bereich, von der bloßen Deklamation oder Empfehlung bis hin zu massivem Druck über Massenmedien offensteht. Unterscheidung hier auch nach öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlich organisierten Verbänden und deren Funktionen nach innen und außen. Abb 17: Träger der Wirtschaftspolitik und Institutionen mit wirtschaftspolitischem Einfluss Parlament Regierung Staatliche Verwaltung Träger der Wirtschaftspolitik (Bund, Länder, Gemeinden) Inspiratoren mit wirtschaftspolitischem Einfluss Deutsche Bundesbank Europäische Gemeinschaften Arbeitsmarktparteien Dezentralisierte Wirtschaftspolitik Sonstige internat. Organisationen Träger öffentl. Selbstverwaltung der Wirtschaft Sonstige Verbände und Interessengruppen Quelle: Darstellung in Anlehnung an Streit, S. 336 49 § 11 Der wirtschaftspolitische Entscheidungs- und Abstimmungsprozeß und seine Grenzen I. Eine Zusammenfassung des Bisherigen gibt Abb. 18. Nur auf zwei Probleme sei hingewiesen: Abb. 18: Wirtschaftspolitische Problemstruktur und wissenschaftliche Lösungshilfen Quelle: Streit, S. 223 50 a) Diagnose/Prognose stehen in unterschiedlicher Relation zueinander: Diagnose bedeutet Feststellung und Erklärung der herrschenden wirtschaftlichen Lage, umfasst also auch einen Erklärungsversuch. Die Prognose ist eine "Erklärung" des Zukünftigen auf der Basis der gegebenen Lage. Vom logischen Aufbau her sind Erklärung und Prognose äquivalent (Symmetriethese): Wie die Erklärung besteht die Prognose in der Ableitung (Deduktion) einer Aussage aus Hypothesen und Anwendungsbedingungen. Unterschiede ergeben sich erstens daraus, dass verschiedene Arten von Aussagen vorgegeben sind. Bei der Erklärung ist das Ereignis schon gegeben. Bei der Informationsprognose wird das zu prognostizierende Ereignis gesucht; bei der Entscheidungsprognose werden die Anwendungsbedingungen gesucht, aus denen sich (zusammen mit den Hypothesen) das gewünschte Ereignis ableiten lässt. Ein zweiter Unterschied ergibt sich – als Kritik an den Symmetriethese – daraus, dass Prognosen immer nur wahrscheinlich sind ("Paradox der Realisierung des Unwahrscheinlichen"). b) Entscheidungsmodelle gehen üblicherweise von einem Entscheidungssubjekt aus ("synoptisches Ideal"); es existiert aber eine Mehrzahl von Trägern (vgl.§ 10) und alle Entscheidungen benötigen Zeit. Bei den zeitlichen Verzögerungen ("time lags") unterscheidet man in Handlungs- und Wirkungsverzögerungen (vgl. Abb. 19). Hinsichtlich der Probleme der Diagnose, der Entscheidungsfindung und -realisierung, geht es um die externen Anpassungen der Wirtschaftspläne; diese wird um so eher unterlassen werden, je geringer der Wettbewerbsdruck ist. 51 Abb. 19: Time lags in der Wirtschaftspolitik Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (1999), S. 262. 52 II. Einordnung der Träger in einen politischen Zusammenhang: Die Neue Politische Ökonomie. Regierungen und andere Träger der Wirtschaftspolitik, Verwaltungen (Instanzen) und Interessengruppen maximieren nicht die "soziale Wohlfahrt", sondern ihren eigenen Nutzen. Damit kann das Verhalten dieser öffentlichen Entscheidungsträger wie das anderer Wirtschaftssubjekte erklärt werden (Rationalität, Nutzenmaximierung). In einem Zwei-Parteien-Konkurrenz-Modell (Anthony Downs) werden die "stimmenmaximierenden", an der Wiederwahl interessierten Parteien durch den Konkurrenzdruck zu einer Politik gezwungen, die sich an den Präferenzen des Medienwählers ausrichtet. In einem politisch-ökonomischen Gesamtmodell (vgl. Abbildung 20) spielen zusammen: Die Bürger als Wähler (und Nachfrager nach politischen Gütern und Leistungen, die Regierung (oder die Parteien) als Anbieter politischer Güter, die Bürokraten als Produzenten politischer Güter, und die Interessengruppen (als Informaten und Lobbyisten). Im politisch-ökonomischen Modell liegt es nahe zu unterstellen, dass die Bürger/Wähler sich an wenigen, augenfälligen Indikatoren orientieren, wenn sie sich für oder gegen die Regierung entscheiden (bei Wahlen oder bei Umfragen): Arbeitslosigkeit, Inflation, Wirtschaftswachstum oder Umweltqualität. Mit dem Einsatz des wirtschaftspolitischen Instrumentariums (das über die Bürokratie eingesetzt wird) versucht die Regierung, (kurzfristig) Einfluss auf das Wirtschaftssystem zu nehmen. Hat sie dabei Erfolg, beeinflusst dies ihre Wiederwahlchancen bzw. ihre Popularität. Resultat kann ein "Politischer Konjunkturzyklus" (W. Nordhaus) sein in dem Sinne, daß die Regierung als Stimmenmaximiererin versucht, zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit "strategisch" zu wählen. Legt man hier eine um die kurzfristigen Erwartungen ergänzte Phillipskurve zugrunde, ergibt sich, dass die Regierung vor der Wahl eine Hochkonjunktur (niedrige Arbeitslosigkeit) ansteuert, nach der Wahl aber eine restriktive Politik einschlägt um die Inflationsrate zu senken. Dies erhöht die Arbeitslosigkeit. Allerdings haben die (kurzsichtigen) Wähler bis zur nächsten Wahl die negativen Spätfolgen der Hochkonjunktur vergessen, so dass das Spiel von vorne beginnen kann. Interessanterweise ist dieses sehr einfache Modell recht gut empirisch bestätigt. 53 Abb. 20: Ein politisch-ökonomisches Gesamtmodell Wähler Wahlen Parlament Wahlen Interessenverbände Regierung Bürokratie Wirtschaft Mengen, Preise Qualitäten Inflation, Arbeitslosigkeit, Wachstum 54 IV. Spezielle Wirtschaftspolitik § 12 Wettbewerbspolitik: Leitbilder, praktische Umsetzung und Probleme I. Walter EUCKEN (1891-1950) erkennt in den Marktwirtschaften der Industriegesellschaften zwei Tendenzen: Einerseits besteht ein Wettbewerb um Leistung, andererseits gibt es Wettbewerbsbeschränkungen. Die "Freiheit des Marktes" kann zur Abschaffung der Marktfreiheit verwendet werden. Als "Grundprinzip" gilt die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz. Aus seinen "konstituierenden Prinzipien" leitet er dann radikale Forderungen für eine Ordnungspolitik ab. Konstituierende Prinzipien sind: Primat der Währungspolitik; Offenheit der Märkte; Privateigentum; Vertragsfreiheit; Haftung; Konstanz der Wirtschaftspolitik. Daneben unterscheidet er "regulierende Prinzipien", weil Probleme auftreten können (vgl. § 6): Monopole, Stabilisierung von Märkten, Verteilung, Umwelt und Gesundheitsgefährdungen (von Frauen und Kindern). II. Wettbewerb spielt in der Marktwirtschaft eine zentrale Rolle, deshalb muß geklärt werden, was unter Wettbewerb zu verstehen ist, welche Funktionen er zu erfüllen hat und unter welchen Voraussetzungen er sich entwickelt (vgl. die Tabelle von Bartling auf den folgenden Seiten). 55 Abb. 21: (Teil 1: linke Hälfte): 56 Abb. 21: Grundbeziehungen von Wettbewerbstheorie und -politik (Teil 2: rechte Hälfte): Quelle: WiSu Studienblatt Dez. 86 v. H. Bartling, als Beilage zu WiSu: Heft 12/86. 57 Dem Preis als sichtbarstem und am leichtesten vergleichbaren Wettbewerbsparameter kommen wesentliche Funktionen zu: Knappheitsindikator-Funktion; Selektionsfunktion; Koordinationsfunktion; Allokationsfunktion (unmittelbarer Marktausgleich, mittelbare Lenkungsfunktion); Distributionsfunktion. Genauere Erfassung der Bedingungen, unter denen Wettbewerb zu bestmöglichen (optimalen) Ergebnissen führt (vgl. § 5: Pareto-Optimum): Wettbewerbstheorie wird Preistheorie (Chamberlin, Robinson, v. Stackelberg, Eucken, Schneider) und das Leitbild ist die vollkommene Konkurrenz. Abkehr schon 1939/40 durch John M. Clarks "workable competition". Der wesentliche Einwand bezieht sich auf die Vernachlässigung der wettbewerblichen Dynamik: Wettbewerb ist ein dynamischer Prozeß, der durch eine Folge von Vorstoß- und Verfolgungsphasen gekennzeichnet ist, wobei Marktunvollkommenheiten Ergebnis initiativer und gleichzeitig Voraussetzung imitatorischer Wettbewerbshandlungen sind. Wichtig werden neben den statischen Wettbewerbsfunktionen (optimale Allokation) die dynamischen (wie Anpassungsflexibilität und technischer Fortschritt). Problematisch aber bleibt, wie man den wirksamen Wettbewerb halbwegs eindeutig fassen soll. Zwei Entwicklungen lassen sich ausmachen. Einerseits kann man fragen (vgl. etwa E. Kantzenbach), wie groß die Zahl der Anbieter ist, um einen dynamisch effizienten Markt zu erhalten. Die Grundvorstellung dabei ist, daß die Marktstruktur das Marktverhalten (und damit auch das Marktergebnis) bestimmt. Andererseits kann die Frage nach den notwendigen Bedingungen gestellt werden, um unabhängig von der Marktform ein effizientes Verhalten zu erzwingen (dies ist W.J. Baumols Theorie der "anfechtbaren" Märkte). Im wesentlichen liegt "Anfechtbarkeit" vor, wenn freier Markteintritt möglich und der Marktaustritt kostenlos ist. Angesichts des Dilemmas, ob Effizienzerfordernisse und die Erfordernisse eines freien Wettbewerbs miteinander verträglich sind, kann man unterscheiden zwischen einem "performance"-Konzept, bei dem die Effizienz im Vordergrund steht, und einem "neoklassischen Konzept des freien Wettbewerbs" (Hoppmann). III. Aufgabe der (praktischen) Wettbewerbspolitik ist die Durchsetzung eines "wirksamen" Wettbewerbs. Diesem Ziel dienen in erster Linie die Bestimmungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957, dem "Kartellgesetz" (Existenzschutz). Daneben 58 dient das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) von 1909 dem "Qualitätsschutz" des Wettbewerb. Ausgangspunkt ist das prinzipielle Kartellverbot (§1 GWB) mit einer Reihe von Ausnahmen. Aus den mehrfachen Novellierungen ergibt sich das Hauptproblem bei der Konzentration beziehungsweise bei den marktbeherrschenden Unternehmen. Maßnahmen sind hier die Fusionskontrolle (§§ 23 ff.) und die Mißbrauchsaufsicht (§ 22 GWB in Verbindung mit § 26 (Behinderungsverbot) und § 37a). Problematisch ist auch die (empirische) Abgrenzung des relevanten Marktes. Strittig insbesondere auch die Begründung von Ausnahmebereichen (§§ 99 ff.). Hier sei nur auf die De-Regulierungsdebatte hingewiesen. Wesentliche Schritte zur De-Regulierung sind getan durch die Neuordnung der Versicherungsaufsicht, der (Teil)Privatisierungen von Post und Telefon sowie bei der Bundesbahn. Zusätzliche Literatur: Hartmut Berg: Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium, Bd. 2, S. 299-362. 59 Abb 22: Missbrauchsaufsicht nach § 19 GWB Quelle: Berg, H.(1999): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 7. Aufl., München, S. 341. 60 Abb. 23: Vermutungs- und Ausnahmekriterien der Zusammenschlusskontrolle Quelle: Berg, H.(1999): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 7. Aufl., München, S. 343. 61 Abb 24: Funktionsfähiger Wettbewerb: Determinanten und Bewertungsmaßstäbe Quelle: Berg, H.(1988): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 3. Aufl., München, S. 241. 62 Abb 25: Neuklassisches Konzept der Wettbewerbsfreiheit Quelle: Berg, H.(1988): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 3. Aufl., München, S. 251. 63 § 13 Strukturpolitik - Auf dem Wege zur Dienstleistungsgesellschaft? Wachstum ist in erster Linie die Konsequenz eines noch immer anhaltenden langfristigen Strukturwandels, wobei Innovationen (Joseph Schumpeter, 1883-1950) im Zentrum stehen. Anstöße gehen sowohl von der Angebotsseite als auch von der Nachfrageseite (Bevölkerungsund Einkommensentwicklung, neue Bedürfnisse, Sättigungsgrenzen) aus. Damit verbunden ist eine Strukturverschiebung zwischen den einzelnen Wirtschaftsbereichen. Dieser Wandel entspricht dem von Colin Clark (1905- ) und Jean Fourastié (1907- ) entwic??kelten Drei-Sektoren-Modell, das den Weg von der Industrialisierung hin zur "reifen" Volkswirtschaft ("Postindustrielle Gesellschaft") aufzeigt (vgl. folgende Übersichten). Tabelle 3: Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen in Deutschland in %. (nach dem DreiSektoren-Modell) Wirtschaftsbereich 1882 1907 1939 1950 1960 1970 1980 19891) 19981) Land-Forstwirt50,9 36,5 25,8 23,6 13,7 8,5 5,5 3,7 2,9 schaft u. Fischerei Sekundärer Sektor: 28,4 39,9 41,8 43,3 47,9 48,9 44,1 40,9 33,8 Warenproduzierendes Gewerbe u. Energie Tertiärer Sektor 20,7 23,6 32,4 33,1 38,3 42,6 50,4 55,4 63,3 - Handel2) 6,0 10,0 15,8 15,7 18,3 17,9 18,9 17,9 19,1 - Versicherung3) 9,7 9,6 7,6 6,9 9,1 11,0 13,6 15,4 16,7 4) Gebietskörp. 5,0 6,0 9,1 10,4 11,0 13,6 17,9 12,1 10,2 1) Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 4.1.2 "Beruf und Ausbildung", 1990. 2) und Verkehr und Nachrichtenübermittlung. 3) Kreditinstitute; Versicherungen, Wohnungsvermietung, sonstige Dienstleistungsunternehmen. 4) Gebietskörperschaften, private Organisationen ohne Erwerbszweck u. häusliche Dienste. Quelle: W. Kleber und R. Stockmann, Wachstum und Strukturwandel des Beschäftigungssystems ..., in: Soziale Welt (1986), S. 58, und StBA; Anteile errechnet. 64 Abb 26. Veränderung der Erwerbstätigkeit nach dem Drei-Sektoren-Modell 100% 90% T e r tiä re r S e k to r 80% S e k u n d ä re r S e k to r P rim ä re r S e k to r 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1882 1907 1939 1950 1960 1970 1980 1989 1998 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der Tabelle 3. Ordnet man nach Tätigkeiten oder Berufsbereichen ergibt sich ein anderes Bild (vgl. folgende Abbildung). Abb. 27: Erwerbstätige nach Art der überwiegenden Tätigkeit P la ne n ; Forsch en 6% S iche rn 5% B üroa rb e ite n 2 2% L eiten 7% R ep a rie re n 8% A usb ild en , In form ie re n 1 5% Ma schine n einste lle n, W a rten 1 1% H an d el treib e n 1 3% son stig e Dien stle istun g en 1 3% Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des StBA, Fachserie 1, 1990. 65 Der glatte Kurvenverlauf in der Abbildung zum Drei-Sektoren-Modell "verdeckt" die dramatischen Probleme, die mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft einhergingen. Er verdeckt auch die sozialen Probleme, die heute anstehen und mit dem Begriff "Globalisierung" verbunden sind. Offen bleibt auch, ob die "Dienstleistungsgesellschaft" allen Menschen Arbeitsmöglichkeiten bei steigendem Einkommen bieten kann, oder nicht immer mehr Arbeitslosigkeit (oder ein Rückgang der Einkommen) entsteht. Als treibende Kraft vermuten Clark und Fourastié neben der Einkommensentwicklung den technischen Fortschritt, der vor allem in der Industrie (sekundärer Sektor) wirksam wird. Dieser "nachfrageinduzierten" Tertiarisierung steht die Auslagesynthese gegenüber: Es findet eine Auslagerung bisher selbsterstellter (Dienst-) Leistungen auf kostengünstigere Anbieter statt. Der Zwang hierzu geht vom internationalen Wettbewerb aus. Eine dritte These basiert auf der Neuen Institutionenökonomik und kann als Theorie der Leistungstiefenoptimierung bezeichnet werden. Eine Auslagerung von (Dienst-) Leistungen setzt voraus, dass diese standardisierbar sind, so dass letztlich die Eigenschaften der Leistungen relevant sind ("Teilung der Wertschöpfungskette"). Insofern kann man hier von einer Informations- und Kommunikations-Technik-induzierten Verschiebung ausgehen. Problem: Kann eine weitere Expansion des Dienstleistungsbereiches für den kollektiven Bedarf (Staat) und/oder den privaten Bedarf erwartet werden - wie dies Prognos (vgl. folgende Abb.) voraussagt? Dafür sprechen die hohe Bedürfnisintensität (Freizeitaktivitäten, Betreuung) und die hohe Einkommenselastizität. Dagegen sprechen, daß die meisten Dienstleistungen sehr arbeitsintensiv und wenig rationalisierbar sind, so dass sie viel kosten, wenn die im Dienstleistungssektor Tätigen ein den Industriebeschäftigten vergleichbares Einkommen verdienen wollen. Expansionschancen der DL dort, wo sie (1) preisgünstig (Fernlehrgänge, Fernsehen, Fußball), (2) exklusiv (Nobel-Restaurants, Kunst), (3) unverzichtbar sind (Ärzte, Notare) oder (4) wo sie zu niedrigem Lohn (karitativer Dienst, Schwarzarbeit) bzw. im öffentlichen Dienst auf Kosten der Steuerzahler erbracht werden. 66 Abb. 28: Auf dem Weg zur Dienstliestungsgesellschaft Auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft: Veränderungsraten in der Beschäftigtenzahl ausgewählter Branchen und Sektoren von 1986 bis 2010 (in %) Eisen- und Stahlindustrie -41 -32 Automobilindustrie -30 Baugewerbe -25 Bergbau -24 Land- und Forstwirtschaft -21 Verbrauchsgüterindustrie Nahrungs- und Genussmittelindustrie -16 Elektroindustrie -16 -13 Chemie -11 Einzelhandel -7 Maschinenbau -3 EDV/Büromaschinenindustrie 0 Luft- und Raumfahrtindustrie 12 Nachrichtenübermittlung 15 Hotels und Gaststätten 16 Kreditinstitute 20 Versicherungen 28 Bildung/Wissenschaft/Kultur 42 Öffentliche Hand 63 Private Haushalte/Organisationen ohne Erwerbscharakter -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 40 50 60 70 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der Prognos AG. Gerade im 4. Argument scheint die Zukunft zu liegen, so dass sich entweder der "amerikanische Weg" oder der "schwedische Weg" abzeichnen. Beide Wege bergen aber erkennbare Risiken, einerseits Dienstleistungsproletariat ("working poor“) oder Grenzen der Staatsausgaben. An den Staat werden nun unterschiedliche Forderungen ("Strukturpolitik") gestellt: Die schrumpfenden Branchen verlangen und erhalten Subventionen ("Übergangshilfen"); diese Mittel fehlen dann bei den "zukunftsträchtigen" Wirtschaftsbereichen, die "Starthilfen" benötigen oder bei regionaler Strukturpolitik (Standortbedingungen). Schließlich sollte der Staat im Bildungsbereich durch veränderte Aus- und Fortbildungsangebote dem Strukturwandel Rechnung tragen. 67 Hinzu kommen die strukturellen Probleme in den neuen Bundesländern. Ein weiteres interessantes Problem ist hier auch, inwiefern alternative Handlungsfelder sich eröffnen: alternative Betriebe (Parallelen zur genossenschaftlichen Selbsthilfe) und alternative Gruppierungen etwa im sozialen Bereich. Anknüpfung hier am "Marktversagen" oder "Staatsversagen". Zusätzliche Literatur: H. Albach, Dienstleistungsunternehmen in Deutschland, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 59. Jg. (Heft 4, 1989), S. 397 - 420. J. Gershuny, Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft - Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen, Frankfurt a.M./New York (Campus) 1981. F.W. Scharpf, Strukturen der post-industriellen Gesellschaft, in: Soziale Welt 37 (1986), S. 3 24. § 14 Agrarpolitik: Weinseen und Butterberge? I. Die Probleme der EG-Agrarpolitik sind in den letzten Jahren in steigendem Maße gewachsen: Steigende Überschüsse und wachsende Belastungen der Steuerzahler. Auf welche Ursachen ist diese Entwicklung zurückzuführen: falsche agrarpolitische Konzeption, ökonomische Sachzwänge, Interessengegensätze der Mitgliedsländer? Ausgangspunkt der Analyse sind die Besonderheiten der Agrarmärkte, die Anlass geben, sie aus dem Wettbewerbsprozess herauszuhalten oder Wettbewerb nur eingeschränkt wirken zu lassen. Die Nachfrage nach Nahrungsmittel nimmt nur geringfügig zu. So wächst einerseits die Bevölkerung nur mäßig, andererseits steigt die Nachfrage wegen der sehr niedrigen Einkommenselastizität (sie ist definiert als relativer Zuwachs der Nachfrage, wenn sich das Einkommen verändert) nur geringfügig. Auch Preissenkungen führen wegen der preisunelastischen Nachfrage (d.h. die Preiselastizität der Nachfrage ist niedrig, dabei ist die Preiselastizität definiert als relativer Zuwachs der Nachfrage, wenn sich der Preis verändert) kaum zu Änderungen der Gesamtnachfrage. Insgesamt führt dies zu einer starren Nachfrage. Folglich hängen die Wirkungen der im Agrarbereich zu beobachtenden Produktivitätsfortschritte von der Anpassungsfähigkeit des Angebots ab (vgl. Tabelle 5). 68 Auf Seiten des Angebots muss ein Unterschied zwischen tierischen und pflanzlichbodengebundenen Erzeugnissen gemacht werden. Bei den zuerst genannten Produkten zeigt sich eine preiselastische Reaktion; der Wettbewerb würde hier zu Marktaustritten in der üblichen Art führen. Anders bei den an zweiter Stelle genannten Produkten. Hier liegt sehr wahrscheinlich eine geringe Preiselastizität des Angebots vor: Obwohl durch Generationenwechsel und Abwanderung im Laufe der Zeit viele bäuerliche Betriebe aufgegeben werden, gehen die landwirtschaftlich genutzten Flächen kaum zurück. Hieraus ergibt sich ein preisunelastisches Angebot. Verbindet man starre Nachfrage und preisunelastisches Angebot, dann führen Produktionsfortschritte (steigende Produktivität) zu einem anhaltenden Preisverfall von Agrarprodukten. Volkswirtschaftlich ergibt sich folglich bei sich selbst überlassenen Wettbewerbsprozessen und wegen der unterbleibenden Marktaustritte die Gefahr übersteigerter Mengen- und Preisreaktionen. Verbunden wären diese Prozesse mit sozialpolitisch untragbaren Folgen für die landwirtschaftlichen Familien. II. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zielt nun genau auf diese Folgen. Den Rahmen gibt der EG-Vertrag ("Römische Verträge" von 1957). Die mit der Bildung des Gemeinsamen Agrarmarktes verfolgten Ziele entsprechen weitgehend den generellen Zielen der (ehemaligen) EWG: Abbau von Handelsschranken, um durch Realisierung von Produktivitätsfortschritten zugleich zu einer preisgünstigen Versorgung der Verbraucher, und zu einer Steigerung des landwirtschaftlichen Einkommens beizutragen. Daneben nennt Artikel 39 EWG-Vertrag als Ziel die Stabilisierung der Agrarmärkte und die Sicherstellung der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Während bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die GAP keine großen Probleme bereitete, weil auf den meisten Märkten ein Einfuhrbedarf bestand, nahmen die Probleme mit wachsendem Selbstversorgungsgrad zu (vgl. folgende Tabelle). 69 Tabelle 4: Entwicklung des Selbstversorgungsgrades bei ausgewählten Agrarerzeugnissen Getreide Weizen Gemüse Butter Käse Rindfleisch Schaf- und Ziegenfleisch Geflügel EUR 6 1968/69 1973/74 94 97 112 114 100 97 113 116 102 106 89 96 56 74 98 EUR 9 1973/74 91 103 93 93 107 100 67 EUR 10 1985/86 121 132 101 133 107 108 76 103 107 101 EUR 12 1985/86 1989/90 114 120 126 127 107 106 105 106 107 101 80 82 104 104 Quelle: EG-Kommission, Die Zukunft unserer Landwirtschaft, 1993, S. 13. Aus folgender Tabelle ist der Produktivitätsfortschritt in den verschiedenen Bereichen der Landwirtschaft zu entnehmen. Tabelle 5: Ertragsentwicklung zwischen 1970 und 1990 (EUR 6) Land Jahre Getreide (100 kg/ha) Zucker (100 kg/ha) Raps (100kg/ha) Deutschland Frankreich Italien Niederland Belgien Luxemburg 1970 1990 1970 1990 1970 1990 1970 1990 1970 1990 1970 1990 33,4 57,9 33,8 60,7 26,9 38,4 37,6 69,3 33,6 59,7 24,0 38,2 Milch (kg/Kuh) 3.779 4.803 3.116 4.559 2.659 3.557 4.170 5.784 3.640 4.168 (1) Jahre Kartoffeln (t/ha) 1960 1985 1960 1985 1960 1985 1960 1985 1960 1985 1960 1985 22 29 14 29 9 17 26 37 22 34 19 29 60,2 69,3 67,4 95,1 38,0 55,7 63,2 98,6 61,2 91,2 21,8 30,2 17,5 27,8 18,3 24,3 29,1 30,0 24,8 30,0 1) 1) - 30,0 4.838 1) Belgien und Luxemburg Quelle EG-Kommission, Die Zukunft unserer Landwirtschaft, 1993, S. 7. 70 Steigende Überschüsse auf verschiedenen Agrarmärkten (unter den Schlagworten "Weinseen" und "Butterberge" berüchtigt) und damit verbunden die steigende Belastung der EG-Haushalte und folglich der Steuerzahler zeigen die grundsätzlich falsche Konzeption der GAP. Als wichtigstes Instrument ist die Errichtung einer gemeinsamen Marktordnung entsprechend weitgehend den generellen Zielen der (ehemaligen) EWG mit einheitlichem Preis innerhalb der EG bei gleichzeitigem Außenhandel anzusehen. Erreicht werden soll dies durch variable Zölle und Binnenmarktinterventionen. D.h. entsprechend dem Prinzip der Gemeinschaftspräferenz mussten die EG-Erzeugnisse kostengünstiger sein als ausländische Produkte. Einfuhren wurden folglich mit Zöllen und Abgaben belegt, Ausfuhren durch Ausfuhrsubventionen auf das Weltmarktpreisniveau herunter geschleust. III. Beispiel: Getreidemarktordnung Ausgangspunkt ist der Richtpreis, i.d.R. kein Gleichgewichtspreis, also erfolgen Interventionen, um einen Marktpreis durchzusetzen. Aus dem Richtpreis wird ein Mindestpreis, der sog. Interventionspreis abgeleitet. Die außenwirtschaftliche Absicherung erfolgt durch Exporterstattungen und Importabschöpfungen. Für die Berechnung wird ein Schwellenpreis festgelegt, der aus dem Richtpreis und bestimmten Transportkosten abgeleitet wird. Die folgenden Abbildungen 29 und 30 zeigen Auswirkungen von Importabschöpfungen und Interventionen durch den teilweisen Aufkauf der inländischen Produktion. Abb. 29: N p A Abschöpfungen bei Einfuhrbedarf und unendlich elastischem Weltmarktangebot. ps pw a c b x1 x2 d x3 x4 x 71 Im Vergleich zur Freihandelssituation (Menge x4 zum Preis pw) ergeben sich beim (politisch festgesetzten) Schwellenpreis ps eine Abschöpfung (Zolleinnahmen) im Umfang von c, eine heimische Produktionsausweitung im Umfang von (x2-x1) mit einem Anstieg der Produzentenrente entsprechend Fläche a, ein Rückgang des heimischen Konsums um (x4-x3) und ein Rückgang der Konsumentenrente um a+b+c+d. Im betrachteten Partialmodell bewirkt die Abschöpfung einen Wohlfahrtsverlust im Vergleich zum Freihandel von b+d. Eine Ausweitung des heimischen Angebots (Verschiebung der Angebotskurve nach rechts) und/oder ein Rückgang der heimischen Nachfrage (Verschiebung der Nachfragekurve nach links), können dazu führen, dass der Marktpreis unter den Schwellenpreis sinkt. Um ein weiteres Sinken zu verhindern, kann ein (ebenfalls politisch gewählter) Interventionspreis (pi) festgesetzt werden, zu dem Überschüsse am Markt aufgekauft werden. Im in Abbildung 30 dargestellten Fall wird die Menge (x3-x2) aufgekauft (und eingelagert oder am Weltmarkt zum Preis pw abgesetzt). Der heimische Konsum beträgt x2 zum Preis pi. Trotz des niedrigeren Weltmarktpreises wird nichts importiert, da aufgrund der Abschöpfung der Inlandspreis des Weltmarktangebots über dem inländischen Marktpreis läge. Abb. 30: Aufkauf bei Produktionsüberschüssen N A ps pi pw x1 x2 x3 x4 72 IV. Alternativen, weil (wie gesehen) die Einkommenstransfers und die Erhöhung des Selbstversorgungsgrades mit Allokationsverlusten verbunden sind. Zwar versuchten die Politiker durch moderate Preissenkungen eine restriktive Agrarpolitik zu verwirklichen, doch sanken dadurch die Preise in der EG nur langsamer als am Weltmarkt. Folglich nahmen die Ausgaben für Agrarschutz trotz der Überschüsse noch zu (vgl. folgende Abbildung). Abb 31: EU-Agrarausgaben 45 100 40 90 80 35 70 30 50 in % Mrd. Euro 60 25 20 40 15 30 10 5 Ausgaben für die gem. Agrarpolitik (Mrd. Euro) (linke Skala) 20 in % der EU-Gesamtausgaben (rechte Skala) 10 0 0 1973 1983 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des IW und der EU-Kommission. Weder die "Mitverantwortungsabgabe", noch die "Nichtvermarktungsprämien" oder die "Quotierung der Milchproduktion" konnten in den 80er Jahren das Ausgabenwachstum bremsen. In Folge der "Uruguay-Runde" (1992) sah sich die EG gezwungen, ihre GAP grundlegend zu reformieren: Die Reform enthielt eine 30prozentige Preissenkung für Getreide und 73 Rindfleisch. Jedoch wird die Einkommenswirkung dieser Preissenkungen im Durchschnitt der Landwirtschaft durch sog. Preisausgleichszahlungen ausgeglichen. Zur Reduktion der Produktion wurde außerdem eine quasi-obligatorische Flächenstillegung eingeführt: Die Preisausgleichszahlung wird nur gewährt, wenn Landwirte einen bestimmten Prozentsatz (im ersten Jahr der Reform 15%, im zweiten Jahr 12%) ihrer Fläche effektiv stilllegen. Die Notwendigkeit weiterer Reformen fand ihren Niederschlag in der Agenda 2000. Allerdings wurde schon von vielen gesehen, dass die Reformansätze zu zaghaft waren. Neue Reformen sind dringlich bevor die geplante Ost-Erweiterung der EU stattfinden kann, weil kaum vorstellbar ist, dass das System der GAP in den mittel- und osteuropäischen Ländern eingeführt werden kann. V. Ökonomisches Räsonnement gegen politische Zwänge? Die Diskrepanz zwischen Zielen und Erreichtem gibt Anlass zu Überlegungen, worauf diese Fehlentwicklungen zurückzuführen sind. Ein wesentliches Argument dabei ist, dass die institutionellen Rahmenbedingungen auf der EU-Ebene den Einfluss der Bauernlobby fördern. So können auch z.B. nationale Budget-Lasten wegen des Prinzips der finanziellen Solidarität zwischen den Mitgliedsländern auf das europäische Niveau externalisiert werden. Eine der Überlegungen zielt in Richtung Neue Politische Ökonomie: Wer würde bei einer Veränderung des gegenwärtigen Systems verlieren, wer gewinnen? Welche Gründe könnten den Deutschen Bauernverband veranlassen, dem Vorschlag von direkten Transfers reserviert bis ablehnend gegenüber zu stehen? Welches ist die spezifische Interessenlage eines amtierenden Agrarministers (wenn er darüber eigens meist auch noch Landwirt ist)? Weshalb haben (oder nehmen) andere Interessengruppen (wie etwa Verbraucherverbände) relativ wenig Einfluss auf agrarpolitische Entscheidungen? Zusätzliche Literatur: W. Henrichsmeyer: Alternativen der EG-Agrarpolitik, in: H. Hesse (Hrsg.), Arbeitsbuch Angewandte Mikroökonomik, Tübingen (Uni-TB 1041) 1980, S. 67-80. W. Henrichsmeyer und O.Gans: Das System der EG-Agrarpolitik: Zielvorstellungen, Probleme, Reformvorschläge, in: WISU 8/1979, S. 383-389. U. Koester: Die europäische Agrarpolitik. Eine Reform ohne Ende?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33-34/95, S. 25-33. 74 § 15 Umweltpolitik - Umwelt ein freies Gut? I. Ausgangspunkte sind hier vorallem die in §5 genannten Probleme marktmäßiger Koordination: externe Effekte und öffentliche bzw. politische Güter. An "Umweltgütern" gibt es üblicherweise kein (privates) Eigentum, folglich erscheinen die negativen externen Effekte (Schadstoffbelastung, Raubbau) in keiner privaten Wirtschaftsrechnung. Darüber hinaus besteht ein "Freifahrer-Problem". Das Auseinanderklaffen von sozialen und privaten Kosten bzw. Erträgen führt zu unrichtigen Preisrelationen mit der Folge der nicht-optimalen Allokation. Dies betrifft auch Standortentscheidungen von Unternehmen. Neben der Externalitäten- bzw. Allokationsdimension hat das Umweltproblem auch eine Wachstumsdimension. Üblicherweise wird sie unter der Rubrik "Wachstumsgrenzen" diskutiert: Umwelt ist zum einen ein Konsumgut, das der Erholung, der Ästhetik dient (Naturschutz, Landschaftspflege); zum anderen ist Umwelt ein Ressourcenträger bzw. eine Rohstoffquelle (zu unterscheiden sind hier dann die erneuerbaren und die nicht-erneuerbaren Rohstoffe) und ein Standortfaktor. Daneben ist eine zeitliche Dimension bzw. Generationendimension zu berücksichtigen: Jede Generation gibt an die nachfolgenden unerwünschte Güter (Schadstoffe), die heutigen Emissions- und Entsorgungstechnologien sowie Industriestrukturen weiter. II. Ziele und Maßnahmen der Umweltpolitik lassen sich aus dem Obigen begründen. Ziel der Umweltpolitik ist allgemein, durch eine Begrenzung der Umweltbelastung auf ein verträgliches Maß die gesellschaftliche Wohlfahrt insgesamt zu steigern. Dabei soll durch geeignete Maßnahmen auch sichergestellt werden, daß irreversible Prozesse das ökologische Gleichgewicht nicht bedrohen (Nachhaltigkeit bzw. "sustainability" als neue Ziele berücksichtigen auch die Zukunft). Ausgangspunkt ist folgendes Modell: externe Schäden (gemessen durch die Grenzschadenkurve S', die angibt wie die Schäden zunehmen, wenn eine Einheit zusätzlicher Emission auftritt) stehen den Vermeidungskosten (gemessen durch die Grenzkostenkurve K', die angibt wie die Kosten sinken, wenn man eine zusätzliche Einheit zusätzlicher Emission austreten läßt bzw. nicht zurückhält) gegenüber. Das gesamtwirtschaftliche Optimum (an Umweltverschmutzung) liegt bei der Emmissionsmenge E, weil hier das Minimum der gesamtwirtschaftlichen Kosten erreicht ist (vgl. Abb. 32): Die Summe aus Schadenkosten OBE plus Beseitigungs- oder Vermeidungskosten ECB ist hier am geringsten. 75 Abb. 32: „Optimale Umweltqualität“ Preis Grenzkosten Grenzschäden S‘ (Grenzschaden) B p* der K‘ (Grenzkosten Schadensvermeidung) 0 C E Emissionsmenge Reduzierte Schadstoffe Zur Erreichung einer (optimalen) Umweltqualität stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, wobei das Verursacherprinzip angewandt wird: • Mengenregulierung (Durchsetzung von Normen und Standards durch Ge- und Verbote), • Preisregulierung (über Steuern, Subventionen, Abgaben oder Gebühren), • Regulierung durch Verfügungsrechte (private Eigentumsrechte, Lizenzen oder Haftungsregeln). Mengenregulierungen reduzieren den Entscheidungsspielraum (Preis ist vorher Null und dann "Unendlich", wenn entsprechende Strafen verhängt werden). Denkbar sind hier "Kompensationslösungen" (neue Anlagen niedrigere bzw. alte Anlagen höhere Grenzwerte). Bei der Preisregulierung werden die falschen oder verzerrten Preise korrigiert über sog. Pigou-Steuern (Emissionssteuern, eventuell mit Verknüpfung der Verwendungsentscheidung), Problem ist die Überwälzung und die Reaktion der Nachfrager. Durch Verfügungsrechte werden zuvor "freie Güter" zu privaten Gütern. Geschieht dies auf dem Verhandlungswege findet das Coase-Theorem Anwendung: Unter bestimmten Voraussetzungen ist die effiziente Lösung unabhängig von der Zuordnung der Eigentumsrechte. Probleme hierbei führen zur Vergabe von "Umweltlizenzen"; sie stellen eine "Mengensteuerung auf Preisbasis" dar. Aber auch hier liegen Schwierigkeiten in den Verwaltungs- und Kontrollkosten (vgl. die Zusammenfassung in Abb. 33). 76 Abbildung 33: Bewertung alternativer Instrumente Quelle: Siebert, H (1976): Instrumente der Umweltpolitik, Göttingen, S. 114-115 Bei der Ausweitung des Haftungsrechtes werden "soziale Risiken" zu "privaten Risiken" gemacht. Herausbildung von Versicherungsmärkten, zum einen für die Schädiger, die von Schadenzahlungen entlastet werden, zum anderen für die Geschädigten, die im Schadensfall ohne Kompensation bleiben, weil der Schädiger ("Verursacher") nicht identifizierbar ist (oder sich auf seine angewandte Sorgfalt berufen kann). Umkehr der Beweispflicht und Gefährdungshaftung führen hier einen Schritt weiter! Probleme bereiten hier die "Altlasten" und die Summations- und Distanzschäden. Allerdings gibt es auch hierfür Lösungen, etwa auch in der Veränderung des Haftungsrechts (vgl. CERCLA in den USA) oder in neuen Versicherungsformen (vgl. Eisen, 2000). 77 Die diskutierten umweltpolitischen Instrumente und die verschiedenen Dimensionen des Umweltproblems sind in Tabelle 6 zusammengefasst. Tabelle 6: Das Umweltproblem: Dimensionen und Instrumente Instrumente Dimensionen Ge- und Verbote Steuern und Subventionen Lizenzen und Ausweitung des Haftungsrechts Allokation Konsumgut Wachstum Ressource Generationen 78 Abb 34: Umweltschutzinvestitionen im produzierenden Gewerbe 9 30 A lte B u nde sländ er (in M rd . D M ) N e ue B un desländ er (in M rd. D M ) 8 A nteil an G esa m tinv estition en, W est (in % ) A nteil an G esa m tinv estition en, O st (in % ) 25 7 20 5 15 in % in Mrd. DM 6 4 3 10 2 5 1 0 0 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des StBA. Zusätzliche Literatur: H. Bonus, Umwelt und Soziale Marktwirtschaft, Gesellschaftspolitische Bildungsmaterialien, Heft 7, Köln (DIV) 1980. H. Bonus, Börsen für den Schmutz, FAZ v. 30.9.1989 (Nr. 227), S. 13. R. Eisen, Das Beispiel der (gesetzlichen) Unfallversicherung für Umwelthaftpflichtversicherung, in: Sozialer Fortschritt, 2000) J. Halen, Umweltökonomische Gesamtrechnung 1998, Quelle: http://www.statistikbund.de/presse/deutsch/pm/u_state1.htm. V. Hartje, Umweltpolitik, in: Wirtschaftsstudium (WiSu), 18. Jg. (Heft 7, 1989), S. 418 - 422. V. Hartje, Umweltpolitik: Zielformulierung in der politischen Praxis, in: WiSu, 19. Jg. (Heft 2, 1990), S. 116 - 123. K. Zimmermann, Zur Anatomie des Vorsorgeprinzips, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. B 6/90 vom 2.2.1990, S. 3-14 (enthält noch weitere interessante Beiträge, wird hrsg. von Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn). H. Zillessen, Von der Umweltpolitik zur Politik der Nachhaltigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 50/98, S. 3-10. 79 § 16 Wohnungspolitik - Wohnungsnot und kein Ende? I. Nach weit verbreiteter Ansicht ist die Wohnung ein Gut besonderer Art – sie erfüllt ein wichtiges Grundbedürfnis und ist Mittelpunkt des Familienlebens. In den beiden Weltkriegen wurden jedoch auch große Bestände vernichtet. Trotz einer eventuellen Angleichung von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt, gibt es Regionen und Bereiche wo Mangel an Wohnungen oder an preiswertem Wohnraum herrscht. So errechnet das Ifo-Institut (München) einen jährlichen Bedarf von 400.000 Wohneinheiten. Die Nachfragesteigerung beruht auf der Erhöhung der Einkommen, der Veränderung der Alterssicherung, der Zuwanderung in Ballungsgebiete. Das Angebot dagegen stagniert: Die Versicherungswirtschaft hat sich fast völlig aus dem Mietwohnungsbau zurückgezogen, die Bauträger konzentrieren sich auf den Bau von Reihenhäusern zur Eigennutzung. Verfehlte Wohnungsbaupolitik? II. Wohnungspolitik ist Wohnungsbau- und Wohnungsbestandspolitik, also kann man auch hier auf das traditionelle Entscheidungsmodell zurückgreifen: Ziele, Daten, Instrumente und Wirkungsanalyse. Aber dies geht nur auf Grundlage einer "Wohnungsmarkttheorie". Wohnungen sind langlebige Gebrauchs- oder Nutzungsgüter. Neben ihrer relativ langen "Lebensdauer" (Nutzungsdauer) sind Wohnungen ortsgebunden und der Nutzer (Mieter) ist nicht notwendig auch der Eigentümer – im Gegensatz zu den meisten anderen dauerhaften Gebrauchsgütern. Das Angebot wird durch potentielle Investoren bereitgestellt, wenn der aus der (Fremd-) Nutzung der Wohnung zu erwartende Nutzungspreis (Miete) auf Dauer eine angemessene Verzinsung des (bei der Erstellung oder beim Kauf) eingesetzten Kapitals sicherstellt. Auch die Nachfrage nach Wohnungen hängt vom Preis (Mietzins) ab, von der Höhe des Einkommens und Vermögens und der Bedarfsstruktur des Hauhalts (Familiengröße, struktur). Diese Bestimmungsgrößen sind aber nicht unabhängig voneinander. Die Antwort auf die Frage, warum so stark regulierend eingegriffen wird – von den Mieterschutzgesetzen bis zur Wohnungszwangswirtschaft –, verweist auf die Besonderheiten der Wohnung. Wohnung erfüllt ein soziales Grundbedürfnis, das nicht 80 dem "sozial blinden" Markt überlassen werden kann. Aber der Wohnungsmarkt weist spezifische Besonderheiten auf. Der Wohnungsmarkt setzt sich aus zwei Teilmärkten zusammen: Nutzungsmarkt (Mietwohnungsmarkt) und Eigentumsmarkt und er ist ein Bestandsmarkt: großes Volumen und lange Lebensdauer. Bestandsveränderungen etwa durch Neubauten betragen gerade mal 1 Prozent des Bestandes. Bestandsveränderungen sind aber auch zeitbedingt (Alterungsprozesse von Wohnungen und der Bevölkerung) oder markt- bzw. verhaltensbedingt (Steuerpolitik, Sozial- und Wohnungspolitik). Das Abstimmen der Anpassungsprozesse unterschiedlichen Ausmaßes und unterschiedlicher Geschwindigkeiten ist die eigentliche Schwierigkeit der (ökonomischen) Wohnungsmarkttheorie. Zum anderen gibt es "Filtering-Prozesse"; hierunter versteht man Änderungen der Qualitätsstruktur des gegebenen Wohnungsbestands und seine Verteilung auf die Haushalte: Normalerweise sind "filtering-down"-Prozesse durch zeitund nutzungsbedingten Verschleiß zu beobachten. Durch Modernisierung finden "filtering up"-Prozesse statt. Auch der Haushalt möchte mit steigendem Einkommen eine größere und höherwertige Wohnung haben. Allerdings gibt es auch Haushalte, die ihren Wohnkonsum reduzieren. Der Kern der Filterprozesse ist der Verbund der Wohnungsteilmärkte auf der Angebots- wie Nachfrageseite. (Wichtig ist hier auch die Einbettung in ein System "wohnungswirtschaftlich relevanter Märkte", in dem die Beziehungen zwischen Baulandanbieter und Wohnungsinvestor, Wohnungsinvestor und Wohnungsnutzer untersucht werden.) Störungen der Anpassungsprozesse passieren durch Immobilität der Nachfrager, Nichtwahrnehmung von Preissignalen und den bloßen Zeitbedarf. Daneben gibt es auch externe Effekte, die zu kumulativen Prozessen führen können: Miete und Kaufpreis einer Wohneinheit richten sich auch nach der Qualität der Wohnungen und Häuser in der Nachbarschaft und der Art des Wohnumfeldes (Baudichte, Anlagen, Schulen, Kriminalität u.ä.). Dies kann einerseits zu beschleunigten Alterungsprozessen ("Verslumung") und/oder Behinderung von Modernisierungsprozessen führen; andererseits auch zu positiven "Ansteckungseffekten" oder zu einer Stabilisierung von Wohnanlagen. Nimmt man dieses komplizierte Geflecht von diversen dynamischen Prozessen, wird einsichtig, dass Vorhersagen sehr schwierig sind und sich unterschiedliche Schwankungen (Zyklen) ergeben können. 81 Typische Ziele der Wohnungspolitik sind Wohnungsversorgung allgemein, für Minderheiten, für Einkommensschwache, die Vermögensbildung und die Sicherung von Bestandsrenten der Vermieter u.a. Als typische Maßnahmen (Instrumente) gelten die Neubauförderung für Einkommensschwache, für Eigentümer (Wohnungseigentum), Modernisierungsförderung, Wohngeld, "Leased Housing" und die Besteuerung von Baugrundstücken. Die Wirkungen der Instrumente werden beispielhaft an Abb. 35 aufgezeigt. Abb. 35: Wirkungen der Instrumente der Wohnungspolitik N‘ N A A‘ p1 p0 x0 x1 xG 82 Erläuterung zu Abb 35: Ausgangspunkt: Anstieg der Nachfrage nach Wohnraum (Verschiebung von N nach N‘). Wird versucht, einen Preisanstieg für Wohnraum durch Einfrieren des vorherigen Marktpreises (p0) als Höchstpreis (Preisstopp) zu verhindern, besteht Wohnungsmangel im Umfang (xG-x0). Ohne Eingriffe würde ein Preisanstieg auf p1 zu einem höheren Angebot und zur Markträumung bei x1 führen. Soll jedoch zum Preis p0 die Nachfrage befriedigt werden, so sind angebotspolitische Maßnahmen notwendig. Eine Möglichkeit bestünde in öffentlichem Wohnungsbau im Umfang von (xG-x0). Alternativ könnten durch Förderung der Wohnungsanbieter die Grenzkosten des Wohnungsbaus gesenkt werden (um eine Verschiebung der Angebotskurve zu bewirken. Dies könnte mittels öffentlicher Subventionen (Sozialer Wohnungsbau), Steuernachlässen und/oder Baulanderschliessung geschehen. In der Diskussion und der Politik hat sich durchgesetzt, dass die Subjektförderung (über Wohngeld) der Objektförderung (über den sozialen Wohnungsbau) vorzuziehen ist. Dabei bestimmen vier Grössen das Wohngeld: Haushaltsgrösse und -einkommen, Mietniveau am Ort und Miethöhe. Leider hat auch dieses Instrument Nachteile: Wegen des Wohngeldes steigt die Kaufkraft der Mieter und das erhöht die Mieten. Ferner "versickert" ein großer Teil des Wohngeldes bei dem "Herunter-" und "Hinauffilterungs"-Prozessen. Hieraus allerdings die Konsequenz zu ziehen, das Mietrecht zu deregulieren oder den Wohnungsmarkt frei zu geben, ginge dann zu weit. 83 Abb 36: Wohngeldleistungen von Bund- und Ländern (ab 1991 Gesamtdeutschland) in Mio . DM . 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 95 93 91 89 87 85 83 81 79 77 75 73 71 69 67 97 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 65 0 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Wohngeld- und Mietberichts 1999 des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. 84 Abb 37: Soziale Stellung der Wohngeldempfänger im Jahr 1998 Sonstige Studenten Rentner Arbeitslose Selbständige Beamte Ost West Angestellte Arbeiter 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 in % Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Wohngeld- und Mietberichts 1999 des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zusätzliche Literatur: E. Forster, H. Steinmüller, Probleme einer ökonomischen Theorie des Wohnungsmarktes, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft, 24. Jg. (Heft 3, 1976), S. 118-122. J. Krumbacher, Ziele und Instrumente der Wohnungspolitik, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 19. Jg. (Heft 10, 1990), S. 517-520. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Wohnungspolitik im geeinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 38-9/93 vom 19.2.1993. 85